Lise Gast

Josi und ihre Freunde


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an. Er erwiderte ihren Blick sekundenlang. Ihr schönes, schwermütiges Gesicht tat ihm weh, es riß etwas in ihm auf, was eigentlich tiefer lag, tief innen in ihm, selbst noch beinah fremd und neu. „Ja, mir auch“, sagte er und senkte die Augenlider, schlug die Stiefelspitzen zusammen, so daß es metallisch klirrte. „Es ist so – ich frage mich manchmal, was es eigentlich für einen Sinn hat, dies alles.“

      „Ich auch, oft“, sagte sie leise. „Aber ich dachte, als Junge weiß man, was man will.“

      „Natürlich weiß man das“, gab er heftig zurück. „Ich zum Beispiel will den Diplomlandwirt machen und Ulrich ein großer Schriftsteller werden. Aber das ist alles noch so – so weit entfernt.“

      „Ja, nicht wahr?“

      „Helga“, sagte er plötzlich, und es war ihm selbst nicht klar, woher er den Mut nahm, vor sich selbst und vor ihr – es war wohl ihr leidvolles Gesicht. „Helga, dabei hab’ ich doch ein Ziel. Ich weiß genau, was ich will. Nur, ob du willst, das weiß ich noch nicht.“

      „Leo...“

      „Aber wenn ich das wüßte, wenn du mir sagen würdest – Helga, sag mal, wäre es dann nicht viel leichter für uns beide? Wenn du – wenn wir beide wüßten...“

      Er hielt inne, vollkommen festgefahren. Er konnte doch, um alles in der Welt, Helga jetzt keinen Heiratsantrag machen, plötzlich aus heiterem Himmel. Was war er denn? Und was war sie? Nein, er mußte erst etwas werden, ach, die alte, die uralte Leier!

      „Helga, sag mir’s!“ bat er leise.

      „Was soll ich denn sagen?“ fragte sie hilflos und sah ihn einen Augenblick lang an. Auch sein Gesicht brannte, es war solch ein gesundes, breites, gutes Jungengesicht, der ganze Kerl war so, zuverlässig und gesund und gerade. Er würde einmal sehr männlich werden, wenn er älter war, sie fühlte es deutlich. Sie wurde immer verwirrter, während ihr dies alles durch den Sinn ging.

      „Sag mir wenigstens das: Ist es wegen Ulrich?“ fragte er nach einer Weile. „Magst du Ulrich lieber?“

      „Ich dachte übrigens in der letzten Zeit, ihr mögt mich beide nicht mehr“, sagte Helga nach einer Weile und strich das Haar aus der Stirn, richtete sich auf. Ihre Stimme klang wieder ruhiger, viel mehr so wie sonst. Er hatte sie überhaupt noch nie so hilflos und verstört gesehen, sie, die sichere, ruhige und vornehme Helga Martens. Jetzt war es, als habe sie sich gleichsam wiedergefunden. „Immer habt ihr es mit Josi. Ulrich hilft sie tippen, du unternimmst nichts ohne sie, ich dachte immer, Josi ist für euch zehnmal so wichtig wie ich. Etwa nicht?“

      „Aber Helga. Wir gehören doch zusammen!“

      „Ja, ihr und Josi!“

      „Und du etwa nicht? Gehörst du nicht zu uns?“

      „Ich weiß es nicht. Ich weiß es manchmal wirklich nicht“, wiederholte sie heftig. „Ihr habt mir so viel voraus. Schon, daß ihr Geschwister habt. Euch ist das so selbstverständlich, daß ihr bei allem ‚wir‘ sagt und nie ‚ich‘. Immer habt ihr das gekonnt, ihr wißt gar nicht, wie das ist, allein zu sein. Von klein auf wart ihr immer zu mehreren. Das ist wie eine Hülle, die einen schützt. Nur ich...“

      Leo schwieg erschrocken. Es war so: Ein einzelnes Kind steht nie so naturhaft fest im Leben wie eins, das unter einem „Wir“ aufwuchs. Aber daß sie es fühlte und aussprach...

      „Du kannst doch nichts dafür“, sagte er zaghaft.

      „In einer Art doch. Ich weiß auch, daß ich Mutter – daß ich meine Eltern enttäuschte. Sie hatten sich sicher einen Sohn gewünscht.“

      „Helga! Welch ein Unsinn! Als ob du etwas dafürkönntest!“

      „Nein, aber sie meinen es.“

      „Ein Sohn könnte doch auch – anders geworden sein, als sie dachten“, versuchte es Leo ungeschickt.

      „Ja, aber das sagt sich Mutter nicht. Überhaupt...“

      „Quäl dich doch nicht damit!“ Er warf seinen Zigarettenrest in den Schnee. „Ich finde deine Mutter übrigens fabelhaft.“

      „Jaja. Daß sie reitet und Tennis spielt und all dies“, sagte Helga, plötzlich müde und unwillig. Das ist es ja, aber das versteht ihr alle nicht. Es hat keinen Zweck, dachte sie.

      Nein, es hatte keinen.

      „Sei nicht böse, daß ich dir den Tag verpatzt hab’“, sagte sie, stand auf und probierte ein Lächeln. Ihr Gesicht war nun wieder wie meist: schön, verschlossen und still. „Denk nicht mehr dran.“

      „Aber Helga!“

      „Bitte, vergiß es. Das sind so Stimmungen...“

      „Das sind doch nicht nur Stimmungen...“

      „Doch“, sagte sie bittend, „vergiß es. Bei dem herrlichen Wetter – es ist doch eine Schande. Wollen wir abfahren? Wo steckt übrigens Josi?“

      „Dort! Sie winkt uns gerade. Wollen wir?“

      Sie beugten sich über ihre Bindungen. Nein, er konnte ihr nicht helfen. Es blieb, wie es war. Sie war allein...

      „Renn doch nicht so, Ulrich, man kommt ja kaum mit!“

      Sie waren im Theater gewesen, alle vier, es hatte den Faust gegeben, mit einem sehr guten Gretchen. Josi war ganz hingerissen, auch die andern beeindruckt. Sie gingen zu Fuß heim, um noch darüber sprechen zu können. Ulrich strebte heim. Am nächsten Abend sollte es „Die Hebamme“ von Hochhuth geben. Die wollten sie auch sehen.

      „Seid nicht böse, aber ohne mich. Ich muß...“

      „Ach, Ulrich, wir hatten es doch verabredet!“

      „Ich muß mit meinem Roman weiterkommen!“ Das war sein A und O, heute wie immer. Josi sah ihn bittend an.

      „Und wenn wir heute abend noch was täten? Du diktierst mir? Wie wäre das?“ fragte sie vorsichtig.

      „Wenn du magst? Haben wir noch was zu heizen?“ Sie kauften die Kohlen selber, um ja recht sparsam zu wirtschaften.

      „Doch, Kohlen sind noch da. Ich mach’ Feuer, vielleicht mögt ihr einen Tee?“ fragte Leo.

      „Ach ja, herrlich. Wir fangen inzwischen an.“

      Das Zimmer der Jungen war relativ groß und wurde nur langsam warm, aber man konnte ja erst einmal die Mäntel anbehalten. Josi wuchtete die Schreibmaschine auf den Tisch, während Ulrich sich am Ofen abmühte, bis Leo ihn gähnend, aber gutmütig von dort vertrieb. „Nun hol schon dein Zauberzeug, ich werde anzünden. Damit ihr gleich loslegen könnt.“ Ulrich ließ sich das nicht zweimal sagen. „Warte, das letzte müssen wir ändern“, sagte er, Josi über die Schulter guckend, die den Bogen eingespannt hatte, „fang am besten hier noch mal an, bei diesem Abschnitt.“

      Er diktierte, sah dabei das Getippte an. Helga hatte sich auf das Ende der Liege gehockt, die das zweite Bett ersetzte und auf der die Jungen abwechselnd schliefen, und wartete. Aber Ulrich war völlig von seiner Arbeit in Anspruch genommen, und Leo knurrte und fluchte am Ofen. Ich hab’ recht, dachte sie, ich stehe außerhalb. Keinem von ihnen bin ich wichtig.

      Daß sie schließlich auch den Tee hätte aufbrühen und auch sonst mit Hand anlegen können, darauf kam sie gar nicht. Es war kein böser Wille, aber es lag ihr unendlich fern. In jeder Frau sieht man bis zu einem gewissen Grade die Mutter, und Helgas Mutter war zwar nach Leos Meinung ganz famos, aber am Herd stand sie nie.

      „Weißt du, wie ich mir die Frau Irmelin vorstelle?“ fragte Josi in diesem Augenblick, während sie einen falsch getippten Buchstaben ausradierte, sorgfältig ein Stück Pappe zwischen Blaupapier und Durchschlag klemmend. „Wie Helgas Mutter. Auch äußerlich. So schlank und groß und vornehm. Und daß sie auch reitet und das alles...“

      „Ja?“ fragte Ulrich und stand hinter ihrem Stuhl still. „Ja, Josi? Ist sie so geworden?“ Seine Stimme klang anders als sonst, gepreßt und so,