Jack Vance

NOVA Science-Fiction 30


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haben einen Auftrag«, beharrte Kenshou. »Das Atomkraftwerk muss zerstört werden. Und wenn die Rakete umkippt, halten wir den Zeitplan nicht ein. Also verschwinde. Sofort.«

      »Ich mache das«, sagte Hong, bevor Maylin etwas sagen konnte. Beide Hände um die Pfefferspraydose gelegt, lief er auf den Felsvorsprung. Das Weibchen bemerkte ihn als Erste. Mit einem verdutzten Schnaufer richtete sie sich auf die Hinterbeine auf und bewegte die rechte Vordertatze auf und ab, als winke sie ihn zu sich heran. Der männliche Bär drehte sich um und ging, frustriert vom langwierigen Liebesvorspiel, sogleich in den Angriffsmodus über. Mit gebleckten Zähnen stieß er eine Art Bellen aus und stürmte Hong entgegen. Als er ihn beinahe erreicht hatte, knallte es. Maylin fauchte wie eine Raubkatze. Im letzten Moment hatte sie den Lauf der Waffe zur Seite gedrückt, sodass der Schuss danebengegangen war.

      »Warum tust du das?«, brüllte Kenshou.

      »Weil wir Tierschützer sind. Wir sind Planetenschützer!«

      »Du nicht. Du bist ein Dummkopf, weiter nichts.« Er zielte erneut, doch der Bär hatte Hong zu Boden geworfen, und es bestand die Gefahr, ihn zu verletzen. Fluchend lief er hinüber und zielte auf den Kopf des Pandas, der beide Vordertatzen auf Hongs Brust gesetzt hatte. Mit der Schnauze machte er sich an seinem Gesicht zu schaffen. Seine Schreie hatten nichts Menschliches mehr. Kenshou richtete den Gewehrlauf auf den Kopf des Pandas.

      »Neiiiin!«, kreischte Maylin und warf sich aus vollem Lauf gegen Kenshou. Sie prallten beide gegen den Bären, der von Hong abließ. Seine schwarz umrandeten Augen hatten nichts Niedliches mehr, seine Schnauze war blutig. Maylin und Kenshou rappelten sich hoch. Inzwischen war das Weibchen nähergekommen und blockierte den Weg zum Wald. Es winkte nicht mehr, sondern knurrte. Maylin und Kenshou wichen zum Rand der Klippe zurück. Das Gewehr hatte Khenshou fallen gelassen, die Spraydose lag neben dem gurgelnden, zuckenden Hong.

      »Was hast du getan?«, zischte Kenshou.

      »Panda darf nicht sterben«, murmelte sie mit piepsiger Kinderstimme. »Panda darf nicht sterben …«

      Der Bärenmann kam näher.

      5

      Die Anspannung im Kongresszentrum von Brasilia war körperlich spürbar wie ein Hochspannungsfeld, es fehlten nur die Funken. Während im Hintergrund die Verhandlungen über die dreiundzwanzig vorliegenden Entwürfe zum Abschlusskommuniqué in die entscheidende Phase gingen, warteten die Delegierten im angenehm kühlen Saal auf die Rede des Sprechers der chinesischen Delegation. Als er aufs Podium trat, ging ein erwartungsvolles Raunen durchs Publikum. Der Kongress war nicht gut verlaufen. Die Teilnehmer waren zerstritten. Weder wurde Einigkeit bei der Beurteilung der globalen Lage erzielt, noch hatte sich ein zustimmungsfähiger Maßnahmenkatalog herauskristallisiert. Zahllose Redebeiträge und endlose Diskussionen hatten die Delegierten zermürbt. Jetzt ruhten hohe – vielleicht allzu hohe – Erwartungen auf der Erklärung des Chinesen. Nicht wenige sahen in ihm den Welterlöser, der einen Ausweg aus der Klimakatastrophe weisen könnte. Hätte er den Bau eines Generationenraumschiffs zur Besiedlung fremder Planeten vorgeschlagen, hätten die meisten sich vermutlich freiwillig für den Flug gemeldet.

      Fangjie Li klopfte aufs Mikrofon und rückte den dicken schwarzen Rahmen seiner Brille zurecht. »Guten Abend!«, sagte er mit feierlicher Miene. »Heute ist ein historischer Tag, nicht mehr und nicht weniger als ein Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, all jenen zu danken, die am Gelingen beteiligt waren, insbesondere dem chinesischen Volk und dessen hervorragenden Wissenschaftlern und Technikern, aber auch der Europäischen Union, Neuseeland, Australien und Mexiko sowie zahlreichen Einzelpersonen und Stiftungen in aller Welt.« Er nahm die Brille ab und putzte umständlich die Gläser. Auf der riesigen Wandprojektion war zu erkennen, dass ihm ein Timer ins Sichtfeld eingeblendet wurde.

      »In wenigen Sekunden«, fuhr er fort, »wenn es hier siebzehn Uhr wird, ist es in China fünf Uhr morgens. Dann gehen in der Provinz Shaanxi zwei Sonnen auf: die große Sonne, die wir alle kennen, und eine kleine Sonne, die von Menschenhand gezündet wird. Dann nimmt das Fusionskraftwerk Goldener Drache seine Arbeit auf.«

      Hinter ihm wurde ein Livestream projiziert. Der Reaktorblock war quadratisch und sattgelb bemalt. Seine gewaltigen Dimensionen wurden sichtbar im Vergleich zu den winzigen Menschen, die sich davor versammelt hatten. Noch größer aber waren die sechzehn Trichter, die in einem halben Kilometer Abstand kreisförmig um den Reaktor angeordnet waren. Das waren keine Kühltürme, und das wurde auch den Delegierten im Saal rasch klar. Ihr Raunen schwoll zu einem lauten Summen an.

      »Was Sie da sehen, meine Damen und Herren, sind CO2-Kollektoren, die ersten ihrer Art. Die angesaugte Luft wird komprimiert, das CO2 abgetrennt. Fünfzig Prozent der vom Reaktor produzierten Energie wird für die Umwandlung des schädlichen Treibhausgases in eine Art Öl verwendet. Das Öl können wir deponieren, um den CO2-Gehalt der Luft zu mindern, oder es als regenerativen Rohstoff verwenden.«

      Der chinesische Ministerpräsident wurde gezeigt. Seine Hand schwebte über einem roten Knopf.

      »Es ist fünf Uhr nachmittags in Brasilien, oder five p.m., wie unsere amerikanischen Freunde sagen«, fuhr Fangjie Li fort. »Heute, in diesem Moment, beginnt eine neue Zeit. Die Temperaturen werden wieder sinken, und unsere Kinder werden leben.«

      Die Hand des Ministerpräsidenten wanderte zum roten Knopf. Die Delegierten schnellten von ihren Sitzen hoch und applaudierten. Sie trampelten auf den Boden, lachten und schrien. Nicht wenige weinten.

      6

      Maylin hob den Kopf. Sie lag da, wohin der Bärenmann sie geschleudert hatte. Ihr brummte der Schädel, doch sie konnte ihre Gliedmaßen bewegen. Anscheinend hatte sie keine schweren Verletzungen davongetragen.

      Hong lag ein paar Meter weiter. Sein Hemd war aufgerissen, seine Brust rot gefärbt. Er rührte sich nicht. Sie richtete sich in eine sitzende Haltung auf und schaute sich um. Die beiden Pandas waren verschwunden. Kenshou war nicht zu sehen. War er vom Felsen gestürzt? Sie musste nach ihm sehen und sich vergewissern, ob er noch lebte, doch sie schaffte es nicht, den Blick von den gewaltigen Trichtern abzuwenden, die den Goldenen Drachen umringten. Kenshou hatte ihr erklärt, was es damit auf sich hatte. Ein Schwirren ging von ihnen aus, das mit einem tiefen Summton unterlegt war. Der Sog war so stark, dass die tief hängenden Wolken Strudel bildeten und hineingezogen wurden. Es war ein großartiger Anblick, der bei ihr ein naives Staunen auslöste.

      Verwirrt von ihren Empfindungen, betrachtete sie den gelben Kubus in der Mitte der Anlage. Hubschrauber schwebten in der Luft, Drohnen kreisten. Aus der Entfernung sah das Reaktorgebäude klein und harmlos aus. Sie dachte an das Millionen Grad heiße Sonnenfeuer, das darin brannte. Vielleicht war es ja doch ein guter Tag. Die beiden Pandas lebten, und dort unten wurde die Atmosphäre vom CO2 gereinigt. Die Leistung der sechzehn Trichter war vermutlich nur ein Klacks im globalen Maßstab, doch es war immerhin ein Anfang.

      Auf einmal empfand sie Stolz auf die Leistung der Wissenschaftler und Ingenieure, die den Goldenen Drachen erdacht und erbaut hatte. Und ein klein wenig stolz war sie auch auf sich selbst.

      Sie nahm den Rucksack ab, holte die kleine Waffe heraus, die der Fremde ihr gegeben hatte, und schleuderte sie in den Abgrund. Sie war froh, dass sie sie nicht hatte einsetzen müssen. Und sie war glücklich, dass sie die Pandas in freier Wildbahn gesehen hatte und dass sie ihr Studium würde fortsetzen können.

      Als sie wieder zum Kraftwerk sah, lösten sich drei Hubschrauber aus dem Geschwader und flogen geradewegs in ihre Richtung. Sie wunderte sich, dass sie erst jetzt kamen, aber vielleicht war der GPS-Mikrochip, den der Fremde ihr unter die Haut injiziert hatte, ja defekt oder sendete so schwach, dass man Mühe gehabt hatte, das Signal auszuwerten. Sie winkte, um sich den Maschinen, die sie abholen kamen, bemerkbar zu machen. Dann waren sie da, der Windschwall ließ ihr Haar flattern. Das Stativ kippte um, der Marschflugkörper fiel zu Boden und rollte über den Rand der Klippe. Als er in die Tiefe stürzte, blitzte es an der Unterseite des mittleren Helikopters auf. Etwas raste ihr entgegen. Es war …

      Eine Sonne explodierte