löste die Arme, und einen Augenblick lang dachte Kate, sie würde sie nach ihr ausstrecken. Stattdessen ließ sie sie einfach sinken. »Eines müssen Sie wissen, Kate. Sie genießen hohe Wertschätzung. Man vermisst Sie sehr. Sie gehören immer noch zur Polizeifamilie. Sie sind mir – uns – ebenso wichtig wie Joe Cameron. Viele von uns mögen Sie sehr. Und noch etwas …« Sie griff in ihre Jackentasche. »Kurz nach Ihnen hat uns noch jemand verlassen. Auch sie ist heute frei und niemandem mehr verpflichtet. Sie hat Ihnen schon einmal geholfen. Gut möglich, dass sie erneut dazu bereit ist.«
Walcott zog eine Visitenkarte aus der Tasche und legte sie auf den Couchtisch. »Danke für Ihre Gastfreundschaft. Ich finde allein hinaus.«
Als sich die Tür hinter Walcott schloss, war Kate schon auf dem Weg in die Küche. Sie schnappte sich die Flasche Cutty Sark aus dem Schrank, knallte ein Glas auf den Küchentresen, schenkte sich großzügig ein, nahm einen tiefen Schluck und dann noch einen.
Sie warf einen giftigen Blick auf die geschlossene Wohnungstür. Sie wissen einen Scheiß über mich und die Hölle, in der ich lebe.
Der Alkohol, der ihr in Mund und Kehle brannte, machte alles leichter und beruhigte sie. Sie nahm das Glas mit und betrat das Zimmer, das Aimees Büro gewesen war. Miss Marple protestierte laut miauend, stolzierte hinaus und verschwand über den Flur in Richtung Wohnzimmer. Kate folgte ihr. Sie nahm die Visitenkarte vom Couchtisch, stellte ihren Drink auf den Beistelltisch neben dem Ruhesessel und legte die Visitenkarte daneben. Schwer ließ sie sich in den Sessel sinken und rieb sich mit beiden Händen das Gesicht. Miss Marple sprang auf ihren Schoß; sie begann zu schnurren und stieß mehrmals mit dem Kopf gegen Kates Ellbogen.
Kate kraulte sie hinter den zarten Ohren und flüsterte: »Miss Marple, du bist nach wie vor das einzige weibliche Wesen, das mich versteht.«
Dann nahm sie die Visitenkarte und betrachtete eine Weile die weiße Rückseite, ehe sie sie schließlich umdrehte und las, was da in schlichten schwarzen Buchstaben stand:
Dr. Calla Dearborn
Approbierte Psychotherapeutin
Liz. Nr. PSY 705536
Tel.: 323-555-1954
2
Am nächsten Morgen, nachdem der schlimmste Rush-Hour-Verkehr ein wenig abgeflaut war, fuhr Kate ohne große Aufmerksamkeit für ihre Umgebung und mit pochenden Schläfen durch den diesigen Dunst zum Sunset Boulevard und die Fountain Avenue entlang und folgte dann dem sanften Bogen der Hyperion Avenue in Silverlake. Sie parkte den Focus unter einer der Eichen, die das abgeschiedene Haus verbargen, das mitten in einer bewaldeten Enklave von bescheidenen Fachwerkhäusern und Bungalows lag. Das ethnisch bunt gemischte Silverlake mit seiner Nähe zu Downtown war in den vergangenen zehn Jahren zu einem angesagten Wohnviertel geworden, und der Wert der schlichten Häuser war mit dem neuen Prestige ins Unverhältnismäßige gestiegen. Kate unterdrückte die Missbilligung, die sich automatisch einstellte, und rief sich in Erinnerung, dass sie sich geschworen hatte, unausweichlichen Veränderungen mit einer gewissen Flexibilität zu begegnen und sie zu akzeptieren. Zusammen mit den vom Verkehr gnadenlos verstopften Straßen und dem turbulenten politischen Treiben einer vielschichtigen Stadt, war Silverlake nun einmal Teil eines sich beständig entwickelnden Los Angeles, ob Kate der eine oder andere Aspekt nun gefiel oder nicht, und wie Maggie ihr oft gesagt hatte: »Alles verändert sich, Kate. Nichts bleibt, wie es ist.«
Sie ließ Stevie Nicks »Rhiannon« zu Ende singen, stellte dann das Radio aus und saß einen Augenblick lang einfach nur da, trank ihren großen starken Starbucks-Kaffee, lauschte den Vögeln und dem Ticken des abkühlenden Motors und wartete darauf, dass das Koffein Wirkung zeigte und den Schmerz milderte, der in ihrem Kopf wütete wie Blitzeinschläge. Schließlich gab sie auf, öffnete das Handschuhfach und kramte darin herum, bis sie das Fläschchen Tylenol fand. Sie warf drei Schmerztabletten ein und spülte sie mit dem Rest des Kaffees hinunter.
»Komm in die Hufe«, murmelte sie vor sich hin. Doch sie rührte sich nicht, saß da wie in einer Art Starre und wartete darauf, dass sich die Willenskraft einstellte, die sie brauchte, um aus dem Wagen zu steigen. Diese Willenskraft aufzubringen schien bei jedem Besuch länger zu dauern.
Nach all den Jahren, in denen sie auf Mordschauplätzen eingetroffen und ihrer Arbeit souverän und voller Selbstvertrauen nachgegangen war und aus nächster Nähe geschundene, bisweilen zerstückelte Tote in alptraumhaft blutigen Szenarien unter die Lupe genommen hatte – warum fiel ihr das hier jetzt so schwer? Weil aus jenen Menschen bereits alles Leben gewichen war, gab sie sich selbst die Antwort, es waren nur noch die irdischen Hüllen, und ihre Aufgabe, ihre Mission war es, herauszufinden, wer die Verantwortung für diesen ultimativen Raub trug: für das Auslöschen des Lebens und aller Verheißung, die dieses Leben für alle im Umfeld des Mordopfers gehabt hatte. So strapaziös es manchmal auch gewesen war, Stund um Stund im Angesicht der Auswüchse schlimmster menschlicher Grausamkeit Beweismittel und Informationen zu sammeln, es schien ihr nicht so schwierig, wie sich der Ankunft des nahenden Todes zu stellen und bei einer Frau zu sein, die sich an dessen Schwelle befand – einer Frau, die zu verlieren sie nicht ertrug.
Sie griff nach einer Starbucks-Tüte und zwang sich auszusteigen.
Das schmiedeeiserne Tor öffnete sich auf einen glatten asphaltierten Weg, der eine laubbedeckte Grünfläche teilte und zu einem schmucklosen und doch architektonisch ansprechenden weißen Gebäude führte, das einen Großteil des Grundstücks einnahm. Die zahlreichen zweiflügeligen Fenster erlaubten den Blick auf eine bunte Mischung aus Jacaranda, Feigenbäumen, Fächerpalmen, Paradiesvogelbüschen, scharlachroten Bougainvilleen und gelben Wandelröschen in voller Maienblüte.
Kate öffnete eine große Eichentür und betrat einen lichtdurchfluteten Raum, der an ein Wohnzimmer denken ließ. Auf dem hellen Parkettboden lagen leuchtendbunte Teppiche mit geometrischen Mustern, Sofas, Sessel und Stühle in heiteren Bonbonfarben waren zu drei Sitzgruppen arrangiert. Allein die Rezeption aus warmem Kirschholz, die von der Wand neben der Eingangstür aus in den Raum hineinragte, und ein schwacher Geruch, undefinierbar, aber ausgeprägt und adstringierend, verrieten, dass es sich hier nicht um ein großzügig geschnittenes Eigenheim handelte. Die Sitzgruppe vor dem dunkelblau gekachelten Kamin war von drei Menschen besetzt – zwei korpulente Frauen mit ergrauendem Haar saßen links und rechts von einem weißhaarigen Mann mit eingesunkenen Schultern und zitterndem Kopf, der wiederum in einem Rollstuhl saß. Die Frauen hielten jeweils eine Hand des Mannes und blickten nicht auf, als die automatische Tür sich zischend hinter Kate schloss.
Die Rezeption war nicht besetzt. Mit ruhigen Schritten durchquerte Kate die Eingangshalle und bog am Ende in einen Gang ein. Sie nickte dem weißgekleideten Pfleger zu, der ein Tablett trug. An der Tür zum vierten Zimmer auf der linken Seite blieb sie stehen.
In dem schmalen Bett am Fenster lag Maggie Schaeffer und blickte auf die üppige Pflanzenpracht hinaus; eine leichte Decke lag auf ihrem ausgezehrten Körper, eine durchscheinende Hand ruhte auf dem Buch, das neben ihr lag. Ihre neue Zimmergenossin, der Kate noch nicht begegnet war, eine uralte, runzelige Frau mit gelblichem Teint und grauem Haar, das so dünn war, dass ihre Kopfhaut hindurchschimmerte, schlief in dem Bett an der Wand und schnarchte beim Ausatmen leise blubbernd vor sich hin. Der Fernseher oben an der Wand lief, war aber stumm gestellt.
Kate blieb in der Tür stehen und betrachtete Maggie. Die Erinnerung an ihre erste Begegnung in der Nightwood Bar durchzuckte sie. Eine kräftige, ziemlich selbstbewusste Maggie Schaeffer, die ein lilafarbenes T-Shirt trug und mit vielen Reißverschlüssen verzierte Shorts. In späteren Jahren sah sie eine Maggie Schaeffer mit wettergegerbtem Teint, stets gebräunt von der Sonne im San Fernando Valley, das attraktive Gesicht von einer reinweißen Mähne gerahmt, die mit ihren lesbischen Gästen flirtete, während sie ihnen in der fröhlichen Geselligkeit der Nightwood Bar ihre Drinks servierte. Die gespenstisch dünne Frau in dem Bett, deren Kopf nach der Chemotherapie nun mit einem zarten Pusteblumenflaum bewachsen war und von deren Nase ein Schlauch zu einer Sauerstoffflasche am Kopfende des Bettes führte, erschien ihr wie ein grausames Abbild. Das einzige unveränderte Merkmal,