war seine Ex-Frau Janine, die immer noch an der Polizeiakademie unterrichtete, aber schon seit fünf Jahren nicht mehr zu Camerons Leben gehörte. Kate war Janine anfangs mehrmals begegnet; sie hatte sie als sehr freundlich erlebt, wenngleich auf eine distanzierte Weise, und sie fand, dass man, wenn man die Camerons kennenlernte, sie leicht für Bruder und Schwester halten konnte. Kate bewunderte Janines kühles Nicole-Kidman-Gebaren, ihre hochgewachsene, biegsame Gestalt mit den kleinen Brüsten, das schwere dunkelgoldene Haar, das sie zu einem schlichten French Twist hochgesteckt hatte. Die Camerons waren kinderlos – aus freiem Willen, hatte Kate stets angenommen; sie hatte nie gehört, dass Joe den Wunsch hegte, Vater zu werden. Und sie hatte nie die erstaunlich abgeklärte Reaktion vergessen, als sie ihre Besorgnis wegen der Kinder geäußert hatte, die in den La Brea Tar Pits mit dem Anblick der Leiche des ermordeten Herman Layton konfrontiert gewesen waren: »Ein toter Fremder ist für Kinder ein schmerzloser Weg, der Realität des Todes zu begegnen.« Eine der vielen rätselhaften Reaktionen, von denen sie im Nachhinein wünschte, sie hätte sie näher ergründet.
Die Camerons waren vierzehn Jahre verheiratet gewesen, als Joe entdeckte, dass Janine seit sechs Jahren eine Affäre mit einem Lehrerkollegen an der Polizeiakademie hatte. Er war vor Wut außer sich gewesen – weniger wegen Janines Untreue an sich (er selbst hatte ein, zwei Affären gehabt, hatte er Kate betrunken gestanden), als vielmehr wegen der Tatsache, dass sie ihn über viele Jahre lang komplett hintergangen hatte. »Ich bin ein Cop – ein gottverdammter Ermittler!«, hatte er in der Bar getobt, in die sie ihn begleitet hatte, um sich in schwesterlicher Solidarität mit ihm zu besaufen. Am Ende jenes Abends waren sie so sternhagelvoll gewesen, dass der Barkeeper Aimee angerufen hatte, damit sie die beiden abholte.
Sie wusste außerdem, dass Cameron in der Abteilung Gewaltprävention und Opferschutz des LAPD gewesen war, allerdings nur für »ein, zwei Minuten«, wie Joe es genannt hatte, weil er sich dort wie ein Berater vorgekommen war, nicht wie ein Cop. Und weil die Opfer diejenigen waren, die ihr Leben wie im Knast verbrachten, während die Täter frei herumliefen, weil Leben und Träume der Opfer zerstört waren, während sich die Männer, die glaubten, diese Frauen gehörten ihnen, jede Menge Rechtfertigungen einfallen ließen, um die Frauen zu terrorisieren.
Als Kate aufblickte, stellte sie überrascht fest, dass das Auto von Marvel Maids verschwunden war. Sie war so tief in ihre Rückschau versunken gewesen, dass sie das nicht mitbekommen hatte.
Sie startete den Motor und ließ den Wagen hügelab rollen, um neben Joes RAV4 zu parken. Besser, man hielt sie für eine Besucherin als für eine Einbrecherin.
Sobald sie Camerons Grundstück erneut betreten hatte, überprüfte sie als Erstes den Briefkasten – leer. Dann verschaffte sie sich Einlass durch die Hintertür. Sie zog den Klebestreifen ab und ließ den Riegel schnappen; den zusammengeknüllten Klebestreifen steckte sie in die Tasche. Sie straffte die Schultern, holte tief Luft und betrat das Haus.
Sie und Cameron hatten gemeinsam viele Hausdurchsuchungen durchgeführt, aber diese fühlte sich seltsam an, sehr seltsam und eindeutig falsch. Sie war im Begriff, in das Haus und das Privatleben ihres ehemaligen Partners einzudringen, und zwar ohne sein Wissen und ohne etwas, das auch nur im Entferntesten nach einem plausiblen Grund aussah. »Nun bring’s schon hinter dich«, murmelte sie. »Tu’s für Joe.«
Sie zog ihr Notizbuch und den Stift aus einer Tasche ihrer Cargohose und beschloss, es bei einem einfachen Rundgang zu belassen; sie würde bloß überprüfen, ob irgendetwas anders war im Vergleich zu früheren Besuchen. Zu dumm, dass die Marvel Maids hiergewesen waren und möglicherweise etwas weggeputzt oder fortgeräumt hatten, das hätte wichtig sein können. »Es ist kein Tatort, verdammt noch mal«, schalt sie sich selbst.
Und wenn doch?, kam die ungebetene Gegenfrage.
Das Haus war recht klein, knapp achtzig Quadratmeter, und Cameron hatte sich, wie sie wusste, finanziell strecken müssen, um es sich leisten zu können. In dem kleinen Wohnzimmer mit dem Flokati befanden sich ein hellbraunes Wildledersofa, ein dazu passender Sessel, ein Couchtisch mit zwei Etagen, auf der unteren stapelten sich Zeitschriften, sowie eine Stehlampe. Niedrige Buchregale, auf denen überwiegend Taschenbücher standen, säumten die eine Wand; darüber hingen Gemälde und Fotos von Wüstenlandschaften. Der Kamin mit den Fotos auf dem Sims beherrschte das Zimmer. Sie hatte nie ein Feuer darin brennen sehen, und das Arrangement von abstrakten Skulpturen davor bewies, dass er nur dekorativen Zwecken diente.
Kate dachte daran, wie oft sie die kriminaltechnischen Fotografinnen und Videofilmer angewiesen hatte, das für sie zu erledigen – sie holte ihr Handy hervor und machte Aufnahmen des Raumes aus verschiedenen Perspektiven. Sie zog die Zeitschriftenstapel unter dem Tisch hervor und betrachtete jedes Cover von Sports Illustrated, GQ, Esquire, Maxim und Newsweek. Nachdem sie sich Notizen gemacht hatte, legte sie sie exakt so zurück, wie sie sie vorgefunden hatte.
Im Essbereich hielt sie sich nur kurz auf, um ein Foto zu machen. Dort befanden sich ein Tisch aus Ahornholz mit einer ausziehbaren Platte und sechs Stühle. Einige weitere Bilder hingen an der Wand – noch mehr Wüstenimpressionen.
Die Küche, durch den Frühstückstresen mit seinen drei Barhockern vom Essbereich getrennt, war u-förmig; ein ausgetüfteltes kompaktes Design, aber bei zwei Menschen schon überfüllt. Nicht dass Cameron jemals einen weiteren Menschen in seiner kostbaren Küche hätte haben wollen. Nach seinem Einzug hatte er das wenige Geld, das er noch besaß, für die Renovierung der Küche ausgegeben. Die Schränke waren hochglanzweiß, die Armaturen verchromt, die Arbeitsflächen aus perlgrauem Granit. Alles glänzte dank der Bemühungen der Marvel Maid.
Kate öffnete den Kühlschrank. Die Fächer und die Tür enthielten ein Sortiment an Würzmitteln und haltbaren Lebensmitteln – Erdnussbutter, Marmelade und Margarine, Mayonnaise und Senf, Oliven, Sojasauce, Tapenade und Salatdressing –, dazu eine Dose gemahlenen Kaffee, zwei Flaschen Weißwein und ein paar Dosen Rolling Rock Bier und Club Soda. Im Deli-Schubfach befanden sich fein säuberlich arrangiert abgepacktes Putenfleisch, Schinken und verschiedener Käse sowie ein Pfund Speck. In den Gefrierfächern gab es ein halbes Dutzend Packungen tiefgekühltes Gemüse und Suppen, Hamburger-Brötchen, Meeresfrüchte, Putenhack und Hühnerteile, Himbeersorbet und eine Flasche Kamtschatka-Wodka.
Kate fotografierte alles, machte sich Notizen und inspizierte als Nächstes die Schränke, um Geschirr, Töpfe und Pfannen zu überprüfen. Dann öffnete sie die Tür zur Vorratskammer und machte dort eine Bestandsaufnahme: Cerealien, Konserven, Reis und Pasta, Cracker, Gläser mit Pistazien und Mandeln. Wieder fotografierte sie alles, notierte sich ein paar Dinge.
Auf dem Korkboden des zweiten Schlafzimmers, das in ein zusätzliches Wohnzimmer verwandelt worden war, befanden sich ein paar Trainingsgeräte, darunter einige Hanteln und ein Laufband. Camerons uralter Dell-Computer stand auf dem kleinen Schreibtisch mit der lederbezogenen Platte, den er von Steve Henderson aus dem Einbruchdezernat übernommen hatte, als der nach Dallas gezogen war. Oben auf dem Aktenschrank hinter dem Schreibtisch lag die Akte des Mordfalls Tamara Carter, die Cameron illegal für sich kopiert hatte. Kate machte ein Foto, notierte sich ein paar Dinge.
Sie ging weiter zum Badezimmer. Alle Oberflächen blitzten vor Sauberkeit, der makellose Raum roch nach Putzmittel. Sie öffnete Schubladen und das Schränkchen unter dem Waschbecken, dann das Medizinschränkchen. Sie inspizierte seinen Inhalt, machte ein Foto, notierte sich ein paar Dinge.
Camerons Schlafzimmer, den persönlichsten Raum in seinem Haus wie in jedem anderen, hatte sie sich bewusst bis zum Schluss aufgehoben. Sie hatte es nur ein Mal gesehen, und zwar bei ihrem ersten Besuch, als er ihr stolz gezeigt hatte, was er sich gekauft hatte, nachdem die finanziellen Aspekte seiner Scheidung geregelt gewesen waren.
Bei den meisten der Hausdurchsuchungen im Laufe ihrer Karriere waren entscheidende Beweise in den Schlafzimmern zutage gekommen – in den Räumen, in denen die Menschen ihre persönlichste und oftmals bösartigste Seite zum Ausdruck brachten. Doch nie zuvor hatte sie sich bei einer Durchsuchung moralisch derart im Unrecht gefühlt. Das hier war mehr als bloßes Eindringen in die Privatsphäre eines Freundes. Es war ein Übergriff. Ein neuerlicher Missbrauch des Vertrauens, das Cameron ihr entgegenbrachte.
Wieder straffte sie die Schultern.