Ex-Partner wusste, methodisch auszuwerten und einzuschätzen, welche für die aktuelle Situation relevant sein mochten.
Es war im August vor sieben Jahren gewesen, als er ihr Partner bei der Mordkommission der Wilshire Division wurde. Cameron, von jungenhaftem Aussehen und Linkshänder, war von der Devonshire Division zu ihnen gekommen. An jener Hand hatte er die ersten zwei Jahre einen Ehering getragen. Er war gewandt und stets gut gekleidet; mit seinen sechsunddreißig Jahren ein Leichtgewicht, was seine Erfahrung anging, und nach Kates Maßstab ziemlich jung fürs Morddezernat. Bei Autopsien war er zimperlich, das hatten sie gemeinsam, aber sie konnte es vor den Pathologen besser verbergen. Er trug eine Pilotenbrille, was sie affig fand, und wurde leicht rot, was nach ihrem Maßstab ein ernsthaftes Manko darstellte. Anfangs fiel er ihr ins Wort, wenn sie Zeugen befragte und Verdächtige verhörte, und plapperte Fakten aus, ehe Kate den zu Befragenden ihre Version entlocken konnte – absolut inakzeptabel, egal welchen Maßstab man anlegte. Sie hatte kein Blatt vor den Mund genommen, als sie es ihm sagte, und er hatte sich nach Kräften bemüht, das zu ändern. Er lernte enorm schnell; er machte kontinuierlich eindrucksvolle Fortschritte und erwies sich innerhalb eines Jahres als kompetent und intuitiv an Tatorten und als ein Partner, der sie aufs Beste ergänzte. Sie konnte sich nicht erinnern, wann Joe Cameron das letzte Mal während einer Befragung einen Fehler gemacht hatte – oder rot geworden war.
Als sie ihm am Anfang die traditionelle Frage, warum er Polizist hatte werden wollen, gestellt hatte, war seine Antwort prosaisch gewesen: krisenfester Job. Nach jenem ersten Jahr, in dem sie seinen Eifer, Mörder zu fassen, beobachtet hatte, begriff sie, dass seine Antwort ein billiges Ablenkungsmanöver gewesen war, um weit tiefgründigere und zorngespeiste Motive zu kaschieren.
Zwei von ihren Fällen stachen hervor. Nach nur drei Wochen Zusammenarbeit hatten sie den Fall Herman Layton geklärt, eine Messerattacke, begangen am helllichten Tag, als das Opfer auf einer asphaltbespritzten Bank vor der Mammutrekonstruktion in den La Brea Tar Pits gesessen hatte. Drei Jahre später erfolgte die von großer Publicity begleitete Untersuchung des Todes von Victoria Talbot im noblen Villenviertel Hancock Park und dem anschließenden Gerichtsverfahren. Während dieser Zeit hatten sie Stil und Stärken des anderen genau kennengelernt. Kates Unterstützung, als er wegen seiner Scheidung todunglücklich gewesen war, hatte sie noch enger zusammengeführt. Nachdem Joe sie wiederum gerettet hatte, als Aimee sie das erste Mal verließ, wurden sie Freunde und Vertraute; sie verbrachten auch außerhalb ihrer Arbeit viel Zeit miteinander, bedeutsame Zeit, und Kate war oft bei ihm zu Hause gewesen, wenn er abends zum Barbecue eingeladen hatte. Es waren Zeiten gewesen, in denen er sich mit Wein hatte volllaufen lassen und sie mit Scotch. Wenn sie einmal nicht unentwegt von der Arbeit redeten, erfuhr er ihre Familiengeschichte und etliches aus ihrem Leben als Lesbe, und sie erfuhr mehr, als sie je hatte wissen wollen, über die Frauen, die ihm unrecht getan hatten, und all die Freundinnen, die durch sein Haus und sein Leben stolziert waren.
Und dennoch blieb eine Kluft zwischen ihnen. Zum Teil konnte sie Camerons allgemeiner Coolness und Reserviertheit zugeschrieben werden, aber Kate übernahm mehr als die Hälfte der Verantwortung für etwas, das in ihrem allerersten gemeinsamen Fall wurzelte. Für sie war der Fall Herman Layton gelöst – zum Guten oder Schlechten. Für Cameron hingegen blieb sein erster Fall ein doppelbödiges Rätsel, das ihm keine Ruße ließ. In den Folgemonaten war er die Ermittlungen erneut in allen Einzelheiten durchgegangen und hatte Misstrauen angesichts gewisser Schlüsselmomente geäußert, in denen er und Kate nicht zusammengewesen waren. Er hatte geschlussfolgert, dass er von entscheidenden Entwicklungen bewusst ausgeschlossen gewesen war. Das Thema kam immer mal wieder auf den Tisch, wenn auch seltener in den letzten Jahren, und er wischte ihre gleichbleibende und beharrliche Beteuerung, dass sie ihm keine Erkenntnisse oder Beweise vorenthalten hatte, stets beiseite. Sie hatte keine andere Wahl, als zu mauern, wie sie sich selbst beschönigend versicherte, um nicht das Wort Lüge benutzen zu müssen. Sie konnte ihren Eid nicht brechen, über die internationalen Auswirkungen zu schweigen, die einen CIA-Officer aus dem Ruhestand geholt und verdeckt, aber tief in den Fall involviert hatten.
Verkompliziert wurde die Situation noch dadurch, dass Cameron während der Ermittlungen im Fall Layton Vertrauen in sie gesetzt hatte, indem er ihr anbot, ihr bei einem Stalker und dessen zunehmende Drohungen gegen seine Frau – bei der es sich um Aimees enge Freundin Marcie handelte –, zu helfen, als klar wurde, dass die legalen Mittel, Frauen wie Marcie Grissom zu schützen, nicht greifen würden. Kate erinnerte sich gut an seinen an die Nieren gehenden Bericht von einem grausamen Doppelmord mit anschließendem Suizid in Victorville – ein gewalttätiger Ehemann war mit der Heckenschere auf seine Frau losgegangen, die sich in der Vergangenheit mehrfach hilfesuchend an die Polizei gewandt hatte. Anschließend hatte er eine Schrotflinte auf seinen Sohn gerichtet und sich dann selbst erschossen. Dieser Fall mochte Cameron die Rechtfertigung für sein Handeln in sich möglicherweise ähnlich entwickelnden Umständen bieten, aber seine Lösung für Marcie Grissoms Problem und die Rolle, die Kate dabei spielte, hatten ihren grundlegenden Kodex als Polizistin derart erschüttert, dass es Monate, ja Jahre auf ihrem Gewissen lag. Heute, das gestand sie sich inzwischen ein, würde sie vielleicht nicht mehr eine derart rigide moralische Haltung an den Tag legen, aber das war nicht mehr von Belang. Ihr Missmut im Anschluss an Camerons Einschreiten war unübersehbar gewesen und hatte sie sein bedingungsloses Vertrauen gekostet.
Cameron setzte sich oder seine unorthodoxen Methoden – die er selbst als »pragmatisch« bezeichnete – nicht im Entferntesten mit den schmutzigen Cops in Rampart gleich, die er verächtlich »Schlägertypen, die auf Schlägertypen mit Drogen losgehen« nannte. Und sie war sich ziemlich sicher, dass er gemeinsam mit einem oder mehreren Kollegen ähnliche »pragmatische« Lösungen auf andere Probleme anwandte, die sich den Möglichkeiten der Strafverfolgung entzogen.
Sie warf einen Blick zu Camerons RAV4 hinüber. Wo immer er stecken mochte – warum hatte er nicht seinen Wagen genommen? Ein keinesfalls abwegiger Grund für seine mangelnde Reaktion auf Walcotts Nachrichten und ihre eigenen konnte sein, dass er sich auf einer »pragmatischen« Mission befand und keinen identifizierbaren Wagen hatte nehmen wollen. Und irgendwas war dabei schiefgegangen.
Es war auch möglich, versuchte Kate sich zu beschwichtigen, dass es irgendwas mit seiner Familie zu tun hatte. Seine Polizeikarriere hatte in Victorville, seinem Heimatort, begonnen, und er hatte dort immer noch einen Kumpel beim Police Department, mit dem er manchmal campen ging – einen hageren, tiefgebräunten, wortkargen Typen, an den sie sich vage von einem Barbecue bei Joe im Garten erinnerte und den er schlicht Dutch genannt hatte. Dutch schien der einzige verbliebene Freund in Victorville zu sein, und Joe hatte angedeutet, gute Gründe gehabt zu haben, die Wüstenstadt zu verlassen. Genauere Auskünfte hatte er nicht geben wollen, nicht einmal als Kate ihr Verhörgeschick hatte spielen lassen – seine Antworten blieben einsilbig und gingen über »öde« oder »keinen Grund zu bleiben« oder ein wegwerfendes Achselzucken nicht hinaus.
Falls er außer einem Bruder, zu dem er keine enge Beziehung zu haben schien, und einer Schwester, die nach ihrer Scheidung aus Phoenix nach Victorville zurückgekehrt war, noch weitere Familie hatte, so wusste Kate nichts davon. An die Namen seiner Geschwister erinnerte sie sich nur, weil sie so schlicht waren – es waren allesamt einsilbige Namen, die mit J begannen: Jack, Jean und Joe. Jean war die einzige Verwandte, die er mehr oder weniger regelmäßig erwähnte, und gewöhnlich schüttelte er bloß den Kopf darüber, dass seine Schwester ebenso wie er dazu neigte, Beziehungen einzugehen, die sich als ungut erwiesen. Von seinen Eltern sprach er kaum jemals, außer um festzustellen, dass er sie zu früh verloren hatte – eine Gemeinsamkeit, die er mit Kate teilte. Auf dem Kaminsims, zu dem die Putzfrau gegangen war, um sich das Foto von Cameron und ihr selbst anzusehen, stand ein formelles Porträt dieser Eltern, aufgenommen in ihren Vierzigern vermutlich, und ein weiteres von den Eltern mit ihren drei noch jungen Kindern Joe, Jack und Jean, die auf einer Felsformation herumkletterten, und dann noch eines von dem zwölfjährigen Joe, neben dem sein Vater kniete, einen Arm um ihn gelegt, vor einer rostfarbenen Hütte in der Wüste. Als Junge hatte Cameron davon geträumt, Geologe oder Paläontologe zu werden, erinnerte Kate sich.
Sie hatte ihn niemals im Zeichen ihrer Freundschaft mit seiner Zurückhaltung oder seinem ausweichenden Verhalten, was seine Familie und seinen Heimatort Victorville anging, konfrontiert, und jetzt überlegte sie, ob sie die Bezeichnung »Freundin« überhaupt verdiente,