Rainer Hamberger

Verschollen am Nahanni


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Geste seinen Arm um ihre Schulter und führt sie langsam durch die breite Glastür in den weit ausladenden Wohnraum zurück, der vor wenigen Minuten noch mit Menschen angefüllt war. Jetzt ist es still. Und man spürt, wie bedrückt Karl Harder selbst ist.

      „Da war ja wieder mal eine Menge Geld unter unserem Dach versammelt“, lässt sich da eine junge, gutmütig spöttelnde Stimme vernehmen. Peter, groß, sportlich, breitschultrig, blonder Haarschopf, steht an der in einem antiken Schrank eingebauten Stereoanlage, wo er eine Platte heraussucht. Der förmliche blaue Blazer wirkt ein wenig künstlich an ihm.

      „Ich muss nach all der Feierlichkeit mal ein paar Takte Rockmusik hören“, sagt er leichthin.

      Da schaut er auf und sieht seine Eltern mit ernsten Gesichtern in seltsam zögernder Haltung mitten in dem großen Raum stehen.

      „Was ist denn mit euch los?“ fragt er überrascht.

      „Ist jemand gestorben?“

      Da merkt er, dass sein Ton deplatziert ist.

      „Deine Mutter und ich wollten mit dir sprechen“, sagt Karl Harder mit sehr ernster Stimme.

      „Hab' ich was falsch gemacht? Ich war freundlich zu allen.“

      „Nein, das ist es nicht. Du hast dich sogar prima benommen. Ich weiß ja, dass du so was gar nicht besonders magst. Aber ich dachte, ich nehme deinen einundzwanzigsten Geburtstag zum Anlass, dich mal seriös in unserem weiteren Bekanntenkreis vorzustellen. Die Leute gehören zu unseren besten Kunden, und es werden ja deine Kunden sein, wenn du hier mal übernommen hast.“

      Ein beklemmendes Gefühl kommt in Peter auf. So hat er seinen Vater noch nie erlebt.

      „Das ist es aber doch nicht, was du mir sagen willst, oder?“

      „Nein, Peter, aber lass uns zusammen ins Arbeitszimmer gehen.''

      Peter lässt keinen Blick von ihm, während sie zu dritt hinübergehen und im Lichtkreis der behäbigen Stehlampe auf den Ledersesseln in der Sitzecke des sonst dunklen Raums Platz nehmen.

      „Mutter, du sagst ja gar nichts“, versucht Peter das Geheimnisvolle dieses Moments zu durchdringen.

      „Ach Peter“, sagt sie, sichtlich mit den Tränen kämpfend.

      Peter starrt seinen Vater an.

      „Also, sag es schon, was ist es?“

      Peter steht dem Verhalten seiner Eltern verständnislos gegenüber.

      „Ja, da muss ich weit ausholen Junge.“

      Karl Harder, der sonst so selbstsichere Mann, klärt mit einem verkrampft wirkenden Husten die Stimmbänder.

      „Du weißt ja, Peter, dass deine Mutter schon einmal verheiratet war. Sie hatte im Krieg diesen Flieger kennengelernt und hat ihn geheiratet, als sie gerade neunzehn war.“

      „Ja, das weiß ich. Aber ...“

      „Hör mir zu. Also, diese Ehe ist dann zerbrochen. Uwe Breuer, so hieß ihr Mann, hat die Scheidung eingereicht und ist, soviel wir wissen, nach Kanada ausgewandert, wir haben nichts mehr von ihm gehört.“

      Er macht eine abwehrende Handbewegung, als Peter ihn wieder unterbrechen will.

      „Deine Mutter hat mich kurz danach geheiratet. Ja, das alles weißt du. Als sie mir damals ihr Ja-Wort gegeben hat, da war auch die Rede von dir.“

      „Wieso? Ich war doch noch gar nicht auf der Welt!“

      „Nein, Peter.“

      Er bedeckt für einen kurzen Moment seine Augen mit der rechten Hand, um sich dann einen Ruck zu geben.

      „Aber deine Mutter ... Ich meine, du warst schon unterwegs.“

      Peter starrt seine Mutter ungläubig an.

      „Das heißt?“

      „Ja, Peter, es heißt, dass ich“, er schluckt, „dass ich nicht dein leiblicher Vater bin!“

      Für einen langen Augenblick ist es totenstill im Raum. Peter schaut ohne jedes Verstehen zwischen diesen beiden Menschen hin und her. In seinem Gehirn hallen die Worte nach, ohne dass er sie begreift. Eine Welt stürzt in ihm zusammen.

      Er steht auf und geht mit unsicheren Schritten zu der Bücherwand hinüber. Da steht er, mit auf dem Rücken verschränkten Armen gegen die Bücherreihen gestützt. Er starrt wortlos seine Mutter an.

      Da fängt Karl Harder leise an zu sprechen.

      „Deine Mutter und Uwe Breuer haben sich innerlich aneinander aufgerieben. Deine Mutter hat alles Erdenkliche unternommen, das Auseinanderleben zu verhindern. Sie waren sich auch nach langer Quälerei wieder nähergekommen. Aber dann hat ein Unfall, bei dem ein Mensch zu Tode kam, ohne dass es Breuers Schuld war, ihn aus der Bahn geworfen. Er kam gar nicht mehr zu deiner Mutter zurück, sondern hat die Scheidung eingereicht. Und deine Mutter hatte keine Gelegenheit mehr, ihm zu sagen, dass du unterwegs warst.“

      „Du hast es ihm verschwiegen, Mutter?“

      „Peter“, sie unterbricht ihr verzweifeltes Weinen und räuspert sich, „selbst wenn ich gewusst hätte, wo ich ihn finden könnte, in mir war alles ausgelöscht, hätte ich ihn zwingen sollen, bei mir zu bleiben, wenn er mich nicht mehr liebt?“

      Sie schluchzt laut auf und presst das Taschentuch gegen ihren Mund.

      „Schau, Peter, deine Mutter hat mir erst sehr viel später gesagt, dass Uwe Breuer nichts von ihrer Schwangerschaft gewusst hat. Ich hatte Inge schon immer geliebt, aber es bei mir behalten. Als ich sie dann bat, mich zu heiraten, da habe ich versprechen müssen, du sollst spätestens an deinem einundzwanzigsten Geburtstag erfahren, wer dein leiblicher Vater ist. Und ich habe auch versprochen, dass ich dem Kind, das sie erwartete, ein wirklicher Vater sein werde. Und, bei Gott, ich habe mein Bestes versucht.“

      Inge Harder hat gerötete Augen, als sie jetzt zu Peter aufschaut. Sie sitzt an dem kleinen Sekretär am Fenster des Wohnzimmers, aus dem sie voller schwerer Gedanken auf die gepflegten Rosenbeete hinaussah, bevor Peter eben hereinkam. Man sieht ihr an, wie sehr sie unter dem Gespräch gelitten hat.

      „Komm Junge“, sagt sie mit resignierter Stimme und in einem Ton, als wüsste sie, dass eine schlechte Nachricht auf sie warte.

      „Wir setzen uns dort hinüber“, auf die Sofaecke deutend. Sie setzen sich und sie nimmt seine beiden Hände in die ihren.

      „Ich weiß nicht, ob wir das richtig gemacht haben, es dir erst jetzt zu sagen. Wir wollten, dass du eine unbeschwerte Jugend hast.“

      „Die habe ich gehabt, und das werde ich dir und Vater auch nicht vergessen. Aber seit gestern Abend ist halt vieles anders, nein!“

      Er hindert sie daran, ihre Hände von den seinen zu lösen.

      „Verstehe mich bitte nicht falsch. Ich mache euch ja gar keine Vorwürfe. Mir ist heute Nacht klargeworden, dass er eine Menge Schuld an dem allem trägt, weil er einfach abgehauen ist.“

      Er braucht einen Augenblick, um sich zu fassen.

      „Ach Gott, wer kann nach so langer Zeit noch wissen, wer Schuld hatte“, sagt sie ruhig.

      „Vielleicht war einfach die Zeit gegen uns. Ich war ein junges Ding, als er plötzlich heiraten wollte. Zu gründlichem Prüfen hatten wir beide keine Zeit. Sicher hat bei ihm eine Rolle gespielt, dass er sah, dass der Krieg verloren war. Er wollte jemand haben, zu dem er zurückkehren könnte. Seinem Elternhaus war er entfremdet. Ich war von ihm begeistert, er sah ja auch toll aus.“

      Sie lächelt. „Aber dann wurde er gleich an die Front gerufen und geriet wenig später in Gefangenschaft. Und dann brach hier alles zusammen. Die paar Briefe, die über das Rote Kreuz aus Kanada kamen, was besagten die schon? Auf jeden Fall stand er 1948 plötzlich vor meiner Tür hier in Düsseldorf. Aber festgewachsen ist er hier nie. Er sprach öfters vom Auswandern nach Kanada. Er hatte einfach sein Herz nicht hier. Und geschäftlich ging