Rainer Hamberger

Verschollen am Nahanni


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sind Sie Mister Nicolsen?“

      Schon von Weitem erkennt Uwe seinen Fluggast an der exklusiven Ausstattung: Hosen mit unzähligen Taschen, natürlich in Tarnfarben, dazu passend eine dick gefütterte Jacke und Baseballkappe, auch diese in braun-grün. An den Sitz gelehnt stehen Rohre, in denen er seine Angelruten verstaut hat. Das restliche Gepäck passt in eine kleine Reisetasche.

      „Schön, dass Sie schon da sind. Ja, ich bin Jeff Nicolsen.“

      Der gut ausstaffierte Sportsmann entpuppt sich als freundlicher, sympathischer Zeitgenosse.

      „Hallo Uwe, da bin ich!“

      Lisa kommt ihm durch die Flughalle entgegen.

      „Hast du mal einen Blick in die Wettervorhersage geworfen? Das sieht nicht gut aus. Ich glaube, wir sollten ein paar Stunden warten, bis die Front durchgezogen ist.“

      Als Frau eines Piloten kennt auch sie sich bestens aus mit der Fliegerei. Tatsächlich: Da braut sich was zusammen.

      „Wir lassen das Gepäck hier und genehmigen uns erst einmal ein Mittagessen. Ich kenne da ein nettes kleines Restaurant, ganz in der Nähe.“

      Die beiden Männer sind mit dem Vorschlag gleich einverstanden.

      „Hallo Mabel, hast du genügend zu essen und trinken für zwei hungrige Wölfe?“

      Lisa kennt Mabel Benson von früheren Besuchen und es hat sich ein freundschaftliches Verhältnis zwischen den zwei Frauen entwickelt. Wenn Lisa aus der Enge ihres Elternhauses ausbrechen will, kommt sie hierher. Eine Zeit lang kann sie dann die Probleme mit ihren über achtzig Jahre alten Eltern vergessen. Trotzdem genießt sie die Abwechslung, auch wenn ihre Aufenthalte hier im Jahr gezählt sind.

      „Wen schleppst du mir denn da wieder ins Haus?“, meint Mabel lachend und begrüßt die beiden Unbekannten. Der unbekümmerte Umgangston gefällt Uwe.

      „Einmal Reuben-Sandwich mit viel Sauerkraut, einmal Fisch mit Chips, Mayo und Ketchup. Und für unsere Hungerkünstlerin einen kleinen Salat!“

      Belustigt gibt Mabel ihre Bestellung an die Küche weiter. Während dort gemischt und gebraten wird, entspannt sich eine angeregte Unterhaltung zwischen den Vieren. „Das war schon immer mein Kindheitstraum: Einmal mit dem Wasserflugzeug mitzufliegen“, schwärmt Mabel.

      Die Einladung des Amerikaners gleich mit ihm in die Maschine zu steigen, muss sie leider ablehnen, schließlich ist sie hier die Chefin und kann sich nicht von einer Minute auf die andere freigeben. Uwes Vorschlag, sie am Wochenende mitzunehmen, wenn er Jeff von der Lodge wieder abholt, will sie sich überlegen. Die lebhafte Mabel gefällt ihm. Sie hat in ihm eine Tür aufgestoßen, die er längst geschlossen wähnte. Es schmeckt vorzüglich. Uwe genießt die extra Portion Sauerkraut, ein Überbleibsel seiner deutschen Herkunft. Mit dem Versprechen sich bald wieder zu treffen trennen sie sich. Das Wetter hat eine ruhigere Richtung eingeschlagen. Zum Anlegeplatz ist es nur ein kurzes Stück zu Fuß.

      „Wohin sollen denn die Angelruten?“

      „Die legen wir zwischen die Sitze und Lisa nimmt auf einem der Schwimmer Platz“, macht Uwe Witze mit Jeff.

      Dieser kann mit seiner Begeisterung nicht hinter dem Berg halten, als die Beaver abhebt und die endlose Weite der Wildnis aus der Vogelperspektive zu sehen ist. Doch das Wetter ist unberechenbar. Plötzliche Windlöcher lassen die Maschine immer wieder durchsacken. Nichts Besonderes für den Piloten. Sein amerikanischer Fluggast schielt schon mal nach der Spucktüte. Dann kommt heftiger Regen auf, der gleich darauf in Hagel umschlägt. Selbst einer geübten Mitfliegerin wie Lisa wird es mulmig. Uwe zeigt keinerlei Nervosität. Er verändert hin und wieder etwas die Höhe, ansonsten fliegt er unbeirrt weiter. Plötzlich, wie von Zauberhand, sind die dunklen Wolken verschwunden und ein unglaublich blauer Himmel erstreckt sich vor ihnen. Alle atmen erleichtert auf. Am Boden zeigt sich das verzweigte Geflecht aus Inseln im Ostarm des Großen Sklavensees. Um sich bei der Lodge anzumelden, dreht Uwe eine Runde über dem Gebäude. Jetzt wissen alle Bescheid und Vorbereitungen für die Landung werden getroffen. Der Landesteg ist extra stabil gebaut, dass auch Wasserflugzeuge vertäut werden können.

      „Willkommen in der Einsamkeit! Die Fische warten schon auf dich!“

      Laut dröhnendes Lachen empfängt den neuen Gast. Jeff weiß, hier wird er sich wohl fühlen. Nach Kaffee und einem Besuch der Toilette eilen Lisa und Uwe zum Flugzeug zurück. Sie trauen der Wetterverbesserung nicht. Auf dem Schwimmer stehend nimmt Uwe die Taue in Empfang und verstaut sie sicher. Gewandt klettert er auf seinen Sitz und wirft den Motor an.

      „Also dann bis zum Wochenende Jeff, und Petri Heil.“

      Ein letzter Gruß.

      Schnell werden die auf dem Steg stehenden Figuren kleiner.

      „Wie oft habe ich wohl schon diese Landschaft unter mir gesehen, die glitzernden Seen, die von oben schmal wirkenden Flüsse, die sich in Wirklichkeit in rasende todbringende Ströme verwandeln, Tiere, die dort ein gut getarntes Dasein führen. All die Menschen, die tagtäglich sich den Herausforderungen dieser ungebändigten Natur stellen.“ Uwe gerät ins Schwärmen und er weiß: Ja, es war die richtige Entscheidung.

      Die Woche verläuft ruhig. Als Flugzeugmechaniker ist Uwe auch bei anderen Piloten gefragt. Schnell und zuverlässig führt er ihre Aufträge aus. Die Zeit scheint still zu stehen. Was ist nur los mit ihm? Kann er es nicht erwarten sich mit Mabel zu treffen?

      „Also von mir aus ist es in Ordnung. Erfülle Mabel ihren Kindheitstraum, aber bring sie auch wieder sicher zurück!“

      Sandy kann sich eine gewisse Ironie nicht verkneifen, als er den herausgeputzten Uwe sieht, der gerade in die Beaver steigt. Eine aufgeregte Mabel erwartet ihn am Anlegeplatz. Sie hat sich übers Wochenende frei genommen. Er ist ihr behilflich beim Anlegen des Sicherheitsgurtes. Schnell verschwindet die Unsicherheit in Mabels Augen, als sie beobachtet, mit welcher Überlegenheit Uwe die Maschine bedient. Dann stellen sie fest, dass sie das Gleiche für diese unglaubliche Landschaft empfinden, die sich nun unter ihnen zeigt. Mabel ist ganz aufgeregt von all den Eindrücken. Sie weiß nicht was spannender ist, dass sie von hier oben wie ein Vogel die Welt sieht, oder ist es etwa der lässig hantierende nicht schlecht aussehende Pilot mit dem sie unterwegs ist?

      „Jeff ist noch mit dem Boot draußen. Gebt ihm noch etwas Zeit. Er ist verrückt nach den Fischen. Dabei muss er die größten wieder von der Angel lassen: catch and release. Schließlich soll der Fortbestand der Fischarten gesichert sein. Aber für ein Foto reicht es allemal, um bei den daheim gebliebenen Freunden anzugeben.“

      Ein anderer Gast entschuldigt verschmitzt grinsend den Vermissten. Uwe ist über die Verzögerung nicht traurig. Gemeinsam mit Mabel schlendert er über das weitläufige Gelände. Wahrlich ein Paradies für jeden Naturfreund. Uwe gibt nur wenig von seinem Lebenslauf preis. Die etwas jüngere Mabel hat noch eine Mutter in Winnipeg. Ansonsten verlief ihr Leben wie sie meint in allzu ruhigen Bahnen.

      Viel zu früh kommt ein übers ganze Gesicht strahlender Jeff zurück: „Mensch, so was Tolles hab ich noch nie erlebt. Meine Freunde werden staunen, wenn ich ihnen davon erzähle!“

      „Aber halt dich mit deinem Angler-Latein etwas zurück“, unterbricht Uwe den Redefluss des Amerikaners. Eisgekühlt nimmt er seinen Fang mit. Die Ausrüstung hat sich bewährt. Von all den Eindrücken überwältigt verschläft er den Rückflug.

      Zurück in Yellowknife heißt es auch Abschiednehmen von Mabel. In den wenigen Stunden sind sich die beiden näher gekommen.

      „Ich lass bald wieder etwas von mir hören. Alles Gute!“

      Mabel wird es schwer ums Herz, als Uwe sie ein letztes Mal in den Arm nimmt.

      Bald schon hat der Alltag Uwe fest im Griff. Ein Bewohner hat zu viel getrunken und anschließend ein Wochenendhaus ausgeräumt. Diesmal ist es ein „Gefangenentransport“ bei dem die Beaver mit ihrem Piloten gefragt ist. Ein andermal wollen Goldsucher zu ihrem abseits der Straße liegenden Claim gebracht werden. Auch die alte Dame, die unbemerkt das Seniorenheim verließ, um zu ihrer Farm zurückzukehren, entdeckt er aus der Luft.