Ursula Klein

Geburtsort: Königsberg


Скачать книгу

und Vater waren für die Kinder immer da und kümmerten sich wenig um Regierung und Politik. Wenn nur endlich der Krieg zu Ende wäre – das war der wesentlichste Wunsch aller! Doch zunächst lasen sie an den Litfasssäulen, dass am 29. Oktober die Kriegsmarine gegen England eingesetzt worden war, aber die Besatzung sich weigerte, den bereits verloren geglaubten Krieg noch weiterzuführen. Vater schüttelte verständnislos den Kopf: Soldaten hatten den Wehrdienst verweigert – das es so etwas gab!

      Und unübersehbar waren auf den Litfasssäulen Plakate mit den Informationen zu lesen: „Revolution“, „Mitspracherecht“, „der Kaiser soll abdanken“. Die Kommunisten warben für eine sozialistische Gesellschaftsordnung, in der alle gleich sind, wie in Russland, die Sozialdemokraten wollten demokratisch wählen und das Leben für alle sozial gestalten usw. Was waren das nur für viele neue Begriffe, mit denen man gar nicht so recht wusste, was man damit anfangen sollte? Es war ein allgemeines Durcheinander und eine große Unruhe in der Bevölkerung. Lisbeth und Hanna spürten instinktiv, dass die Eltern große Sorgen hatten. Und darum fragten die beiden Großen oftmals, was das ganze Geschehen zu bedeuten habe. Aber auch ihre Eltern wussten oft keine Antwort auf ihre Fragen, denn keiner wusste, wie das Leben weitergehen sollte. Jeder spürte aber, dass große Veränderungen im Gange waren.

      Auch die Soldaten bzw. Offiziere lehnten sich gegen die Regierung und den Kaiser auf, wollten ebenfalls mitbestimmen. Vater hatte auch im Betrieb gehört, dass sich Arbeiter- und Soldatenräte im Reich gebildet hatten und eine solche Vereinigung in Königsberg „Ostpreußischer Provinzial- Arbeiter- und Soldatenrat“ hieß. Das konnte doch nicht gut gehen! Bisher hatten wir doch immer einen Kaiser oder König! Oftmals sahen sich Anna und Otto fragend an und wussten auf die Alltagsprobleme keine Antwort. Die Welt stand Kopf. Nichts war mehr so, wie es bisher gewesen war. Sicher - von Königsberg waren schon öfter neue Ideen ausgegangen, wenn man nur an Herzog Albrecht dachte. Auch die vielen Wissenschaftler hatten schon früher revolutionäre Ideen nach Königsberg gebracht, aber jetzt drohte ungeahntes Unheil in ganz Deutschland.

      Auf einmal horchten alle auf: Der deutsche Kaiser Wilhelm II. hatte am 9. November abgedankt und war nach Holland ins Exil geflohen!

      Aber im gleichen Atemzug wurde auch bekanntgegeben, dass der SPD-Vertreter Philipp Scheidemann und der Sozialist Karl Liebknecht die Republik ausgerufen hatten. Die Entscheidung, wer nun eigentlich die Regierung übernehmen sollte, ergab sich dadurch, dass der Reichskanzlertitel an den SPD-Vorsitzenden Ebert übergeben worden war.

      Doch wer regierte nun eigentlich? Wer hatte die Machte und bestimmte, was getan werden musste? Was war eigentlich eine Republik? War das so wie in der Sowjetunion, von der sie nun doch schon so einiges gehört hatten? War damit auch der Krieg beendet? Blieben die alten Gesetze noch bestehen?

      Auf allen Straßen bildeten sich Menschengruppen, die heiß diskutierten. In den Betrieben wurde zwar offiziell noch weiter gearbeitet, aber während der Arbeitszeit gingen die Unterhaltungen nur um das eine Thema: Wie wird unsere Zukunft sein, wenn wir keinen Kaiser mehr haben?

      In den niedrigeren Klassen hatten die Kinder drei Tage schulfrei, so auch Lisbeth und Hanna. Obwohl ihnen die Sache nicht so ganz geheuer war, denn die allgemeine Aufregung hatte sich auch auf die Kinder übertragen, freuten sie sich doch über diese zusätzlichen Ferien.

      Bei ihnen stellten sich ganz praktikable Fragen zur Schule ein: Ob wohl der Lehrer in einer Republik nicht mehr so streng sein durfte? Ob das Kaiserbild wohl noch im Klassenzimmer hängen blieb? Bekamen sie nun neue Lesebücher? Auch für die Kleinen gab es viele Ungereimtheiten, waren sie doch in eine Welt hinein geboren, in der die Obrigkeit das Sagen hatte und man gehorchen musste. Vater hatte Hanna und Lisbeth erklärt, dass „Demokratie“ mit dem Wort „Mitbestimmung“ zu erklären sei. Ob es dann in der Schule auch so etwas geben würde? Bestimmt nicht, denn einer – der Lehrer – müsste ja den Schülern sagen, was sie zu tun haben. Mutter beruhigte ihre beiden Schulkinder: „Wartet ab, es wird sich alles mit der Zeit klären.“ Das tröstete nun wieder die beiden Mädchen und sie machten sich an ihre Arbeit.

      Und schon nach drei Tagen, nachdem die Republik ausgerufen worden war, wurde der Waffenstillstandsvertrag abgeschlossen.

      Vater Krohn kam mit dieser freudigen Botschaft nach Hause. Der Krieg war zu Ende! Eine bessere Nachricht konnte es nicht geben!

      Mutter freute sich auch sehr und verband diese Situation gleich damit, dass es ihnen in Zukunft sicher wieder besser gehen werde. Doch Vater meinte beschwichtigend: „Na, warte mal ab, Anna, wir haben ja schließlich den Krieg verloren. Das dicke Ende wird bestimmt noch kommen."

      In der Familie wurde aber erst einmal freudig das Kriegsende begrüßt, alles andere werde sich schon mit Gottes Hilfe finden.

      Lisbeth und Hanna konnten aber diese Veränderung nicht begreifen. Sie hatten doch erst in diesem Jahr so viel über den König, den Kaiser und Königsberg gehört und vor allem in der Schule gelernt. Der Lehrer hatte die Kinder immer und immer wieder abgefragt, die Jahreszahlen im Exerzierton verlangt und viele Kinder hatten den Rohrstock zu spüren bekommen, wenn nicht sofort die richtige Antwort kam. Wenn nun der Kaiser nicht mehr an der Macht war – mussten sie dann trotzdem noch die vielen Jahreszahlen und Begriffe kennen? Hatte die Vergangenheit keine Bedeutung mehr? Fragen über Fragen. Hanna kam alleine mit ihren Überlegungen nicht zurecht und fragte kurz entschlossen die Mutter, die ja immer Zuhause war. Doch darauf gab es vorerst keine Antworten, denn niemand wusste, wie sich alles entwickeln werde. Nur eine Frage beantwortete die Mutter mit großer Sicherheit: „Königsberg wird sicher Königsberg bleiben. Unsere Stadt bekommt bestimmt keinen neuen Namen, nur weil uns kein Kaiser mehr regiert.“ Das tröstete Hanna schon einmal, denn auf den Namen ihrer Geburtsstadt war sie mächtig stolz.

      Auch Vater sprach nach der Arbeit viel mit den Kindern und brachte fast jeden Tag neue Informationen mit. Der Betrieb war für ihn – neben den Informationen an den Litfasssäulen – die wichtigste Informationsquelle, denn Geld für eine Zeitung wollte Vater Krohn nur selten ausgeben. Er hatte zwar noch Arbeit, aber das verdiente Geld ließ erst recht in diesen unsicheren Zeiten die Ausgaben für solche Sachen nicht zu. Dadurch erfuhr er zwar immer erst einen Tag später, welche Neuigkeiten es in Deutschland gab, aber das war ja nicht so schlimm.

      Selbst in der Gemeinde – nach dem Gottesdienst – diskutierten die Männer und politisierten. Doch alle Gemeindemitglieder waren sich einig: Es ist alles Gottes Fügung. Sie vertrauten auf Gott und seine Hilfe in der Not. Hatte der Krieg mit Gottes Hilfe ein Ende gefunden, so wird der Herr ihnen auch in diesem politischen Wirrwarr beistehen. In der Gemeinsamkeit des Glaubens fühlten sie sich nicht verloren und allein. Und so gingen sie nach dem Gebet gestärkt nach Hause.

      Auch Zuhause waren die Gebete gefüllt mit den Alltagssorgen in der Zwiesprache mit Gott. Alle Kinder hörten den Gebeten der Eltern immer aufmerksam zu und bekräftigten mit ihrem „Amen“ die Sicherheit, dass der liebe Gott schon alles zum Guten wenden werde. Danach fühlten sie sich doppelt behütet und beschützt: einmal durch den lieben Gott und zum anderen durch ihre Eltern.

      *

      Zuhause – ja das war das schöne, große Haus in der Ponarther Straße 56. Zwar war alles ein wenig eng für die Familie, aber in die größere Wohnung im Haus wollten sie nicht umziehen, denn das hätte ja Mietverlust ergeben. Und in diesen unruhigen Zeiten mussten sie sich weiterhin einschränken. Also freuten sich alle über den Frieden und das zukünftige schöne Leben ohne Krieg, Einquartierungen von Soldaten und Flüchtlingen und sonstigen Belastungen.

      Weihnachten wurde vorbereitet – das Fest des Friedens. In diesem Jahr sollte es ganz besonders schön werden, war doch der Vater bei ihnen und der Krieg war zu Ende. Am Abend saß die Familie bei Kerzenschein zusammen – es wurden Weihnachts- und Adventslieder gesungen, denn wer ein Lied hören wollte, musste es auch selbst singen und wer Musik wollte, musste selbst ein Instrument spielen (oder eine Musikkapelle bestellen! Und schon alleine dieser Gedanke war verwegen!). Und so erklangen im trauten Familienkreis die altbekannten Advents- und Weihnachtslieder.

      Für das Krippenspiel in der Kirche wurde der Text gelernt, den die Mutter oder der Vater abhörten. Selbstverständlich musste auch der kleinste Vers mit Liebe vorgetragen werden. Darauf achtete die Mutter ganz besonders.