mussten. Obwohl die Bürger durch den Krieg sehr arm waren, mussten sie das letzte Brot noch mit den Soldaten teilen.“
Das kam Hanna nun wieder bekannt vor, denn in Königsberg liefen sehr viele Soldaten herum und Mutter hatte erzählt, dass zu Beginn des Russlandfeldzuges 1914 auch viele Soldaten in Königsberg ernährt werden mussten. Vater meinte: „Ja, das war damals ganz genauso, weil Königsberg die letzte große Stadt im Nordosten des Deutschen Reiches und damit Versorgungspunkt für die Soldaten war.“
„Damals brachte die Hunger- und Kriegssituation das Fass zum Überlaufen. Und als bekannt wurde, dass die französische Armee in Russland geschlagen war, stand die deutsche Bevölkerung mit Beteiligung des Landadels, des Bürgertums und der Armee unter der Planung von Yorck auf und befreite sich im Februar 1813 von der napoleonischen Herrschaft. Das Haus in der Landhofmeisterstraße 16 - 18 trägt zur Erinnerung an den 5. Februar ein eisernes Kreuz mit den Worten ‚Februar 1813‘. Damals wurden auch die Grundzüge für eine Landwehrordnung entworfen, d. h. so eine Art Plan für die Selbstverteidigung mit Mobilisierung der Bevölkerung. Mein Großvater hat mir erzählt, wie stolz alle waren, die bei den Befreiungskämpfen dabeigewesen sind.“
Der Vater machte eine kleine Pause und hing seinen Erinnerungen für kurze Zeit nach. Mit einem Blick nach hinten vergewisserte er sich jedoch als Familienoberhaupt, dass seine Frau mit den drei Kindern noch da war. Ihre Blicke trafen sich in gegenseitiger Liebe. Beide waren glücklich, dass sie als Familie wieder zusammen sein konnten. Annas Blicke ruhten voller Stolz auf ihrem Mann, der sich mit den beiden Großen so schön unterhalten konnte. Sie merkte an den Bewegungen seiner Arme, dass er ab und an auf einzelne Gebäude hinwies. Also erzählte er den Kindern etwas über Königsberg. Das war auch gut so, denn über seine Heimatstadt sollte man schon Bescheid wissen. Und außerdem konnte Anna feststellen, dass die anfängliche Scheu von Hanna gegenüber ihrem Vater einer allgemeinen Vertrautheit gewichen war. Vater hatte aber auch immer wieder Kontakt und Verständnis gesucht und die Scheu voreinander war gewichen.
Auch Anna unterhielt sich angeregt mit den Kleinen, zeigte ihnen in den Grünflächen die Blumen, machte sie auf kleine Kriechtiere, Käfer und Vögel aufmerksam und erfand kleine Geschichten.
Sie kamen nun am Eingang des Stadtarchivs vorbei und Vater erklärte, dass dort alle wichtigen Unterlagen – auch von vor vielen Jahren – aufbewahrt werden, zum Beispiel Gesetze, Baupläne, Geburtsurkunden usw. Hanna lächelte ihren Vater an und sagte voller Stolz: „Du weißt aber viel! Hast du das auch alles in der Schule gelernt?“ „Ja, mein Kind, unser Lehrer hat uns immer wieder, immer wieder abgefragt – und wenn wir etwas nicht wussten, gab es ´was auf den Hosenboden. Wir haben uns dann lieber freiwillig hingesetzt und gelernt, bis wir alles konnten.“
Die Gruppe kam der Schlosskirche immer näher und Mutter fragte von hinten: „Wollen wir uns in der Kirche ein wenig ausruhen und ein kurzes Gebet halten?“ Alle waren sofort damit einverstanden. Der erste Weg war in der Sommersonne schon ein wenig ermüdend für die kleinen Füße der Kinder.
Ehrfurchtsvoll betrat die Familie die hohe, wunderschöne Schlosskirche. Die Kinder wussten ja, wie sie sich in der Kirche zu verhalten hatten: andächtig und ruhig. Aber diese Kirche war gegenüber dem Gemeindesaal kein Vergleich! Voller Staunen war ihr Blick. Und hier drin war der König gekrönt worden? Die Größeren konnten es kaum glauben, dass sich hier eine ganz einfache Familie aufhalten durfte, und doch war es so. Es war ja eine Kirche, und die war für alle Menschen da. Hanna schaute sich um. Die Bänke hatten schöne geschnitzte Verzierungen, die Säulen endeten in der hohen Decke in kunstvoll gestalteten Verstrebungen. Hanna verglich dies mit ihrer Hand. Der Arm war die Säule, die Finger die Verstrebungen, die in der obersten Stelle der Decke endeten. Die Plätze auf den Emporen waren sicher für die reichen Bürger. Der Altar war für Hanna beeindruckend schön. Vater sagte: „Schaut mal nach hinten. Dort oben ist eine Orgel eingebaut. Sie klingt wunderschön – viel schöner als unser Harmonium in unserem Gemeindesaal.“ Und wie auf Kommando ertönte zunächst in leisen, dann in immer lauter werdenden Tönen die Orgel. Hanna erkannte das Lied „Großer Gott, wir loben dich, Herr, wir preisen deine Stärke. Vor dir neigt die Erde sich und bewundert deine Werke. Wie du warst vor aller Zeit, so bleibst du in Ewigkeit.“ Sie strahlte ihre Eltern an zum Zeichen, dass sie die Melodie erkannt hatte und Mutter nickte ihr zu. Dass in einer Kirche die Musik so schön klingen konnte, hatte sie nicht vermutet. Ein Gefühl überwältigte sie, wie groß der liebe Gott sein musste, wenn in seinem Haus die Musik so schön war. Mutter und Vater setzten sich für einen Moment in eine Bank, falteten die Hände und dankten Gott für diesen schönen Tag mit der ganzen Familie.
Nach diesem beeindruckenden Erlebnis machten sie sich wieder auf den Weg, denn sie wollten ja noch bis zum Schlossteich gehen. Damit sie schneller voran kamen, erzählte der Vater kurz, dass in der Nordseite des Schlosses, an der sie jetzt vorbeigingen, das Marschallhaus steht. Vater sagte mit verschmitztem Lächeln: „Darin ist schon viele Jahre die Gaststätte ‚Das Blutgericht‘. Dort feiern die Offiziere, reiche Bürger und Edelleute große Feste. Aber wir feiern lieber Zuhause – das ist billiger.“ Hanna lenkte gleich ein: „Das hat unser Lehrer auch erzählt. Aber warum heißt es denn so?“ Vater wusste, dass zu Herzog Albrechts Zeiten dort der Marschall, also der oberste Heerführer, sein Haus hatte, der die Kriege organisieren musste und Recht für die Soldaten sprach. Da auch einige Soldaten im Gerichtsurteil die Todesstrafe erhielten, also Blut floss, nannte man es damals das Blutgericht. Aber die Nachforschungen haben ergeben, dass gar nicht so viel Blut geflossen ist. Und jetzt wird dort viel gesungen, gelacht und getrunken.
Vater erzählte verschmitzt, dass er als junger Mann auch mit Freunden dort gemütlich zusammengesessen und am Nachbartisch eine frohe Schar Jugendlicher Trinksprüche am laufenden Band gesagt haben, um dabei immer ein Gläschen leer zu trinken. Einige habe er noch in Erinnerung:
„Das Wandern ist des Millers Lust,
lass ihm man ruhig wandern.
Ich nehm erst einem fiere Brust
und denn auch foorts dem andern.
So leb denn wohl, du edler Geist,
wo jedem schmeckt und keinem beißt! Prost!“
Oder:
„Wenn ich dir seh, denn muss ich weinen,
weil du so klein geraten bist.
Drum muss ich leider dir vertilgen
mit Andacht und mit Hinterlist.
Bestimmt, du musst mir auße Augen.
Ich kann mir selbst nich weinen sehn.
Drum kuller runter längs e Gurgel,
und grieß man auch den Magen scheen. Prost!“
Anmerkung: Schloss und Stadt
Im Vordergrund der Münzplatz. Der Östliche Renaissancebau des Herzog Albrecht ist links zu sehen. Die selten fotografierte Nordseite des Schlosses ist rechts vorn.
Lisbeth und Hanna konnten sich nicht vorstellen, dass man an einem so hässlichen Ort lustig sein konnte. Schon alleine der Gedanke machte sie traurig, dass dort Menschen gestorben waren. Aber Vater hatte sie vollkommen von ihren traurigen Gedanken abgelenkt, auch durch die Tatsache, dass er ostpreußischen Dialekt gesprochen hatte, was nur äußerst selten vorkam.
Um noch den letzten Rest der traurigen Gedanken seiner Kinder zu verscheuchen, lenkte er sie ab: „Seht mal nach vorn, wo die Burg zu Ende ist, da beginnt gleich der Schlossteich.“ Und schon waren die Gedanken der Kinder in Richtung Wasser und Kuchen essen. Wie von einer inneren Macht getrieben, liefen sie schneller als vorhin.
Jetzt hatten sie wieder ein schönes Ziel vor den Augen. Vater und Mutter suchten auch nicht lange nach einer leeren Bank und holten den Esskorb aus dem Kinderwagen. Wie schmeckte es doch so gut in der frischen Natur! Am Sonntag! Am Schlossteich!
Anmerkung: