Ursula Klein

Geburtsort: Königsberg


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nach Hause brachte, denn die Mieteinnahmen wurden für das Haus gebraucht. Und so war immer ‚Schmalhans Küchenmeister‘ und für Ausgaben, die nicht direkt mit der Versorgung zu tun hatten, blieb kaum Geld. Die Kinder bewegten sich deshalb nur in der Nähe des Hauses oder in Ponarth. Und damit war dieser Ausflug ein besonderes Ereignis.

      Nach dem Besuch der Kirche am Sonntag konnte Hanna es kaum noch aushalten. Sie war so aufgeregt, dass sie nach dem Essen von der Küche in die Stube, von der Stube in das Schlafzimmer lief und nicht wusste, warum. Die Mutter sagte verständnisvoll: „Hanna, Lisbeth und Herta – helft mir in der Küche, dann können wir schneller fortgehen!“ Hanna war wie ein Wiesel. Die drei Mädchen teilten sich die Arbeit auf: Lisbeth wusch das Geschirr, Hanna trocknete ab und Herta verwahrte alles. Dazu musste sie einen Stuhl vor den Küchenschrank schieben, um an die Fächer zu gelangen. Der Küchenschrank war neben dem Tisch und den Stühlen das einzige Möbelstück in der Küche, so dass sie gar nichts falsch einsortieren konnte. Unter dem Küchenfenster war nur noch ein Vorratsschrank, der – weil die Hauswand an dieser Stelle dünner war – gleichzeitig als Kühlschrank für die Lebensmittel benutzt wurde. Über dem blank gescheuerten Herd mit der Backröhre und dem Wasserschiff prangte eine feine Kreuzsticharbeit „Eigener Herd ist Goldes Wert“. Aus der Besenkammer gleich links neben der Türe nahm Hanna zum Schluss noch den Besen und kehrte die Küche aus. „Fertig!“ strahlten alle drei.

      Die Mutter hatte in der Zwischenzeit die beiden Kleineren - Fritz und Lotte -angezogen. Vater war noch vom Kirchgang im Sonntagsstaat. Seine gute schwarze Hose und den ‚Rock‘ – so wurde die Jacke bezeichnet – hatte die Mutter schon am Sonnabend ausgebürstet und vor dem Schrank auf den Bügel gehängt, damit gleich alles griffbereit war. Mit dem Hemd ging das schon anders zu: Es war das Flanellhemd, das auch wochentags – und manchmal auch nachts - getragen wurde, denn so viele Anziehsachen konnte sich der Maurer mit seinen fünf Kindern nicht leisten. Natürlich wurde dieses Hemd mit einem weißen, steifen Papierkragen verschönt, der am Halsausschnitt angeknöpft wurde. Das Jabot – ein steifer, weißer, meist in feinen Falten gelegter Einsatz wurde wie ein Latz am Kragen befestigt und darauf ein Schlips gebunden. Am Handgelenk schob Vater – ebenfalls aus Papier bestehend – eine Manschette in die Jacke und fertig war der Sonntagsanzug. Diese Papiereinsätze waren nicht sehr teuer, aber besonders fest und man konnte sie sogar ein wenig mit Wasser säubern. Somit ging jeder Mann am Sonntag mit Schlips und Kragen, wie es volkstümlich hieß.

      Der Einkaufskorb wurde noch mit Kuchen, Kaffee und Milch, einem kleinen Tischtuch und Tassen gefüllt, auf den Kinderwagen gestellt, in dem Lotte saß, Vater setzte den Hut auf, nahm den Spazierstock, Fritz an die Hand und leitete damit den Ausflug ein. Mutter band noch schnell die Küchenschürze ab, die drei Großen bekamen ihre frisch gebügelten Sonntagsschürzen um, schnell noch eine Schleife in die dünnen Zöpfe und ab ging die Post bis zur nächsten Straßenbahnhaltestelle. Die war den Kindern gut bekannt, denn sie war gar nicht weit weg. Aber mit der Straßenbahn auch fahren zu dürfen gehörte zum Luxus.

      Es dauerte den Kindern viel zu lange, bis die Straßenbahn kam. Mutter stimmte darum das Kinderlied zum Zeitvertreib an und alle sangen mit:

      Ling, ling, ling, die `Lektrische kommt,

      Schaffner muss sich plagen.

      Wer noch fünfzehn Pfennig hat,

      der steige in den Wagen.

      Die Lotte, die Lotte, die Lotte ist schon groß,

      die kauft sich einen gelben Schein

      und fährt alleine los.

      Das Lied wurde nacheinander mit allen Namen der Kinder gesungen, bis die Elektrische endlich kam. Vater half Mutter, den Kinderwagen hinein zu heben, dann durften Lisbeth, Hanna und Herta einsteigen, Vater half den beiden Kleinen bei den hohen Stufen. Im Waggon war noch viel Platz, denn von Ponarth aus ging es in Richtung Zentrum. Die Schaffnerin zog an der ledernen Leine und für den Zugführer erscholl die helle Klingel als Zeichen dafür, dass alle Leute eingestiegen waren und er abfahren konnte. Vater holte das Portemonnaie hervor und sagte: „2 Erwachsene, 3 Kinder. Muss ich für die Kleinen und den Kinderwagen auch bezahlen?“ „Für den Kinderwagen den halben Preis“, war die Antwort der Schaffnerin. Sie öffnete ein Buch mit vielen Fahrscheinen, riss zwei gelbe und vier rote heraus und sagte: „Sieben Dittche, bitte.“ Hanna hatte das gehört und dachte erschrocken: siebzig Pfennig – das ist aber viel Geld! Nun wusste sie, warum sie so selten mit der Straßenbahn fuhren.

      Es war ein wunderschöner Sonntag: Die Sonne strahlte vom Himmel, es war warm. Alle Spaziergänger und Fahrgäste hatten sich sonntäglich herausgeputzt. Die Mutter hatte ihr Sonntagskleid an, das sie sich, als Vater aus dem Krieg nach Hause gekommen war, nach der neuesten Mode geschneidert hatte. Denn die Mode hatte sich grundlegend verändert: Noch zur Jahrhundertwende hatten die Röcke der meist einteiligen Kleider noch kleine Schleppen. Die Betonung der Silhouette lag in der Schulterpartie. Sie wurde durch breite Kragen, Schultervolants und Keulenärmel erreicht. Der Prinzessschnitt war Mode und die sehr langen Ärmel wurden enger. Man schnürte Leib und Hüfte mit dem Korsett zu einer geraden Front und betonte die Büste, so dass der Körper von der Seite aus einer "S-Form" glich. Nach 1900 wurden die Röcke kürzer und die gesamte Kleidung legerer. Bedingt durch die Gleichstellung der Frau im beruflichen, privaten und politischen Bereich wollte man in der Kleidung keine Einengung mehr durch ein Korsett, verzichtete auf die Betonung der weiblichen Formen und verlangte nach Beinfreiheit. Die Folge waren vereinfachte Schnitte und kurze Röcke. Vor allem die Tageskleidung war nun praktisch und bequem.

      Darum hatte sich Mutter auch an ein neues Kleid gewagt, obwohl sie in der Mode etwas ängstlich und konservativ war. Denn von ihrem Korselett wollte sie sich auf keinen Fall trennen, das gab ihr im Rücken den notwendigen Halt für einen geraden Gang. Aber sie musste ganz einfach auf die Rückkehr des Vaters mit einem neuen, modernen Kleid reagieren, um ihrer Freude besonderen Ausdruck zu geben.

      Darum zog sie dieses Kleid nun immer an, wenn die Familie in die Kirche ging. Und heute war Mutter besonders schön: Die schwarzen, etwas gewellten vollen Haare waren wie immer zu einem Knoten gesteckt. Aber heute – weil man ja in die Stadt fuhr – hatte sie noch einen kleinen braunen Hut auf dem Kopf, der mit freundlich wirkenden Blumen geschmückt war. Wichtig war auch, dass der Hut mit einer Hutnadel am Knoten befestigt war. Das war nicht nur hübsch, sondern auch praktisch zugleich, hielt doch die Nadel bei Wind den Hut fest. Und Wind gab es oft. Die Zierde des Hutes war aber ein cremefarbener Schleier, der sparsam um den Hut gelegt war und hinten in einer Schleife endete. Als Mutter sich diesen Hut gekauft und ihn Zuhause gezeigt hatte, wertete Otto diese Errungenschaft: „Das sieht ja wie ein Topf aus. Und das soll modern sein?“ Mutter war damals etwas niedergeschlagen, aber sie hatte sich die Modezeitschriften genau angesehen. Das war gerade modern. Und darum setzte sie das gute Stück auch voller Stolz auf. Ein Paar passende Spangenschuhe in braun vervollständigten das Bild in Farbe und Harmonie der Kleidung.

      Doch das alleine war es nicht, was die Mutter heute so festlich erscheinen ließ. Sie hatte zwar ihr wadenlanges, dunkelbraunes Sonntagskleid an, das die Taille mit einem Gürtel betonte, aber es hatte heute einen ganz fein gehäkelten großen cremefarbenen Kragen, der bis an die Schultern reichte. Hanna erinnerte sich, dass die Mutter viele Abende daran gearbeitet hatte. Aber wenn es dann zu dunkel geworden war, legte sie die Arbeit in einen Handarbeitskorb, um die Augen nicht zu sehr zu belasten und strickte an den Strümpfen und Pullovern weiter - und die Nadeln flogen wie automatisch. Aber gerade dieser Kragen war heute für Hanna wichtig, da er ihre Mutter in der Kleidung den reichen Bürgern gleichstellte. Da dieses Kunstwerk geschont werden musste, hatte der Kragen eine feste Kante am Hals und konnte mit Druckknöpfen befestigt werden, so dass er eben nur zu besonderen Festlichkeiten genutzt wurde. Und heute war so ein Tag. An den Ärmelbündchen schaute eine ebenfalls selbst gehäkelte gekräuselte Spitze hervor, die dem Sonntagskleid etwas Vollkommenes und Vornehmes gab. Auch diese Spitze hatte die Mutter heute extra hervorgeholt und kunstgerecht so befestigt, dass sie auch schnell wieder abgenommen werden konnte. Die Krönung war aber eine silberne Brosche, die den Spitzenkragen am Kleid befestigte und außerdem noch wunderschön aussah. Alles in allem war Mutter heute die Schönste und Hanna musste sie immer wieder anschauen und bestaunen.

      Dass die Kinder mit der Straßenbahn fahren durften und sie außerdem