Anne Neunzig

Staatsjugendorganisationen – Ein Traum der Herrschenden


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      Hitler und Schirach gingen beide von einem „angeborene[…][n] Führertum“279 aus, welches durch effizientes Fördern stärker herausgebildet werden konnte. „Zum Führertum gehört nicht nur Wille, sondern auch Fähigkeit. […] Am wertvollsten ist eine Verbindung von Fähigkeit, Entschlusskraft und Beharrlichkeit“280. Um dem genannten Prinzip gerecht zu werden, benötigten die HJ und der BDM eine große Anzahl an Jugendführern. Die Hitlerjugend konnte in der Anfangszeit ihren Bedarf auch aus den Reihen der ehemaligen bündischen Jugendgruppen decken. Der Nachwuchs an Führerinnen für den Bund Deutscher Mädchen musste erst aufgebaut werden.281 Um alle Kinder und Jugendlichen, speziell die ehemaligen Mitglieder anderer Jugendorganisationen, mit den ideologischen Zielen und Inhalten der Staatsjugendorganisation vertraut zu machen, wurde das Jahr 1934 als 'Jahr der Schulung' ausgerufen. Im Verlauf dessen sollten alle Mitglieder der HJ einen einheitlichen Wissensstand und die Führer/​innen den gleichen Ausbildungsstand erlangen. Aufgrund regionaler und struktureller Unterschiede verlief die Umsetzung jedoch nicht in allen Teilen des 'Dritten Reiches' gleichermaßen wie geplant. Um den Führernachweis innerhalb der Organisation zu sichern und die aktiven Führer von Zeit zu Zeit in neuen „historischen politischen und rassebiologischen Kenntnissen“282 zu unterrichten, wurden sie regelmäßig in entsprechenden Kursen, strickt nach Jungen und Mädchen getrennt, an sogenannten Führerschulen zusammengezogen. So dauerte beispielsweise eine Ausbildung für eine 'Schaft', d. h. der kleinsten Einheit innerhalb der HJ und dem BDM ein halbes Jahr. Neben der theoretischen Vermittlung nahm dabei auch das Körpertraining einen großen Stellenwert ein.

      Abgesehen von den extra geschaffenen Ausbildungsschulen, gab es mehrwöchige Lager, in denen die angehenden Führer/​-innen für ihre praktischen Tätigkeiten unterrichtet wurden. Zu ihren Hauptaufgaben gehörte neben der Leitung und Durchführung der Heimabende, das Einüben von Liedern und die Organisation und Durchführung von Feiern und Veranstaltungen. In ihren Verantwortungsbereich fielen zudem „Organisationsarbeit und Kontrollaufgaben.“283

      Für die Vermittlung von Wissen, sowie auch für die Ausrichtung und Gestaltung der Zusammenkünfte, gab es genaue Richtlinien und Anweisungen, wie beispielsweise die Schulungsmappen für den Heimatabend.284 Die Jugendführer empfingen hierarchisch abgestuft auf den jeweiligen Ebenen von den höheren Diensträngen ihre Anweisungen und waren jenen zur Rechenschaft verpflichtet. Lediglich auf den untersten Ebenen, an der Basis, blieb ein wenig Platz und Raum für eigenständiges Handeln.285 Dabei muss beachtet und gegebenenfalls gesondert untersucht werden, wie sich jene Führer verhielten, die nicht aus vollständig indoktrinierten nationalsozialistischen Bereichen kamen, sondern durch Intellekt und Persönlichkeit in die neue Führerrolle gelangt waren.

      Um den männlichen „Führernachwuchs von Partei und Staat“286 zu sichern, wurden verschiedene Eliteschulen gegründet. Da Frauen nicht auf den höheren Ebenen eingesetzt wurden, erhielten sie keinen Zugang zu diesen speziellen Schulen. Die bekanntesten Erziehungsanstalten waren die 'Adolf-Hitler-Schulen', die 'Ordensburgen', die 'NS-Deutsche-Oberschule Starnberger-See' (später umbenannt in 'Reichsschule der NSDAP') und die 'Hohen Schulen', welche jedoch mehr Planung als Realität blieben.

      Auch die 'National-Politischen-Erziehungs-Anstalten' ('N.P.E.A.’S'), volkstümlich auch 'Napola' genannt, waren fast ausschließlich für Jungen gedacht, nur zwei nahmen Mädchen auf. Die 'N.P.E.A.’S' waren staatliche Internatsschulen und hatten dementsprechend nichts mit der HJ oder dem BDM zu tun.287 Die Erziehung der zukünftigen Elite des Landes lag hier ausschließlich in den Händen des Staates bzw. der politischen Machthaber.

      Der Totalitätsanspruch der Gesamt-HJ vollzog sich auf unterschiedlichen Ebenen. So formulierte Schirach in seinem 1934 erschienen Buch zur Staatsjugendorganisation folgendermaßen: „Die HJ will sowohl die Gesamtheit der Jugend, wie auch den gesamten Lebensbereich des jungen Deutschen erfassen.“288 Dieser Forderung kam Schirach durch die Gleichschaltung und Auflösung konkurrierender Jugendorganisationen nach. Kurz nach seiner Ernennung zum Reichsjugendführer des Deutschen Reiches am 17. Juni 1933 (seit 30. Oktober 1931 Reichsjugendführer der NSDAP) begannen die Nationalsozialisten, jüdische und sozialistische Jugendverbände aus dem Reichsausschuss auszuschließen, gefolgt von den politischen und kirchlichen Verbänden.289 Die durch Zwangsmaßnahmen abgeschaffte Konkurrenz ermöglichte einen schnellen Anstieg der Mitgliedszahlen in HJ und BDM in der Folgezeit.

      Als weitere Maßnahme galt die Gleichstellung der Erziehungsinstitutionen Gesamt-HJ, Elternhaus und Schule als „Träger der völkischen Erziehungsgedanken“290. Um einen Konflikt zwischen den einzelnen Institutionen zu vermeiden, erhielt jede Einheit ihre eigenen Aufgaben und Bereiche zugeteilt. So sollte ein „sinnvolles Zusammenwirken“, gegründet auf gegenseitige „gute Beziehungen“ und „Einblicke in die Arbeit“291 der jeweiligen anderen Institutionen entstehen.

      Die Einteilung sah folgendermaßen aus: das Elternhaus war für die grundlegenden Erziehungsfragen zuständig, die Schule sollte auf Basis des nationalsozialistischen Gedankenguts unterrichten und die Hitlerjugend Werte wie kameradschaftliche Haltung, Gemeinschaftsgedanken und Führungsfähigkeit entwickeln.292

      Den Eltern wurde gleichsam nahe gelegt, ihre Kinder im Sinne der nationalsozialistischen Weltanschauung zu erziehen. Hitler definierte in einer Rede die „Familie als Keimzelle unseres Volks- und Staatskörpers“293 und ein Großteil der Eltern folgte bereitwillig seinen Vorstellungen, da das politischideologische Gedankengut der Nationalsozialisten fast alle Bereiche des Lebens durchdrungen hatte.

      Es gab aber auch Eltern die versuchten, ihre Kinder vor den Einflüssen des Nationalsozialismus zu schützen.

      Das Elternhaus blieb in damaliger Zeit die letzte Institution, in der es möglich war, individuelle Vorstellungen bezüglich Weltanschauung und Erziehung zu leben. Da jene jedoch im Widerspruch zu der nationalsozialistischen Gesinnung stehen konnten, versuchten die Führer/​innen aus HJ und BDM, die Kinder in zunehmendem Maß dem Einfluss ihrer Elternhäuser zu entziehen. Sie sollten sich mehr der Staatsjugendorganisation verbunden und zugehörig fühlen, als dem eigenen Elternhaus. Des Weiteren wurden Kinder dahingehend beeinflusst, ihre eigenen Eltern bei Verstößen oder Äußerungen gegen das nationalsozialistische Regime anzuzeigen, wodurch ein psychologisch problematisches System des Denunziantentums erzeugt wurde.

      Zwar fanden die Erziehungsgedanken der Nationalsozialisten Eingang in die schulischen Lehrpläne, doch wurde eine scharfe Trennung zwischen der Staatsjugendorganisation und der Lehrerschaft gezogen, da laut nationalsozialistischer Meinung „Lehren und Führen“294 grundsätzlich unterschiedliche Kategorien seien. Hinzu kam, dass kognitive Fertigkeiten im Nationalsozialismus nur gering geschätzt wurden, d. h. der Institution Schule ohnehin ein niederer Stellenwert eingeräumt wurde. Schwierigkeiten erhielten vor allem die Lehrer, die sich nicht dem NS-Gedankengut verschrieben hatten bzw. sich entsprechend opportun verhielten. Sie wurden oft mit einem Berufsverbot aus dem Schuldienst entlassen.295

      Zu komplizierten Verhältnissen kam es bisweilen auch, wenn in einer Schulklasse Jugendführer/​innen der HJ oder des BDM innerhalb der nationalsozialistischen Dienstgrade höher gestuft waren als die Lehrkraft, infolgedessen befugt waren, diese zu maßregeln. Um es nicht zu Kompetenzstreitigkeiten kommen zu lassen, wurden die Lehrer angewiesen, in einem derartigen Fall dem jeweiligen Jugendführer das nötige Taktgefühl entgegenzubringen und nicht dessen Autorität vor seinen Kameraden in Frage zu stellen.296

      Entsprechend der vielfältigen Vorgaben wurde die Woche für die Kinder und Jugendlichen genau strukturiert in fünf Schul- bzw. Arbeitstage, einen Tag für HJ/​BDM und staatspolitischer Bildung und den siebten Tag für die Familie.297 Das Leben der Jugendlichen wurde durch diese Einbindung und die permanente Bevormundung seitens ihrer Führer/​innen in derart festgelegte Bahnen gelenkt, dass eine eigenständige, individuelle Entwicklung kaum möglich war. 298

       Abb. 29: Schüler mit Lehrer in Winterdorf 1937, 13 von 37 Schülern sind in HJ-Kleidung