Dana Schwarz-Haderek

Equinox


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vor, als wäre der vergangene Abend nur einer der flüchtigen Träume meiner unruhigen Nacht gewesen, und es fiel mir schon leichter, die Gedanken daran zu verdrängen. Mittlerweile müsste es doch mindestens acht Uhr sein.

      Sieben Uhr vierzig zeigte mein kleiner Wecker. Die Zeit kroch tatsächlich im Schneckentempo. Ich beschloss, dem Wetter die Stirn zu bieten, schlüpfte in meinen halbwegs regenfesten Parka und ein paar alte Turnschuhe, schnappte mir ein Buch aus dem Regal und zog die Tür hinter mir ins Schloss. Ich nahm mir vor, die erstbeste Straßenbahn zu nehmen, die kam und im Stadtzentrum in einem Coffeeshop gemütlich zu lesen. Ich fand schnell, was ich suchte. In der Nähe des Hauptbahnhofes, am Brühl gab es eine Filiale von »Tim’s Coffeehouse«, meiner Lieblingscafékette. Das ist das einzig Schöne am sonst für mich eher langweiligen Franchisekonzept, man findet überall auf der Welt die gleiche vertraute Atmosphäre. In Exeter, meiner Stadt auf Zeit in England genauso wie hier in Leipzig. Ich bestellte einen großen Chai Tea Latte, machte es mir auf einem der ausladenden Ledersofas im hinteren, gemütlich dunklen Bereich des Cafés bequem und ließ den Blick wandern. Es waren außer mir erst zwei weitere Gäste anwesend, die beide einen großen Koffer und Rücksäcke dabei hatten. Sie saßen sich schweigend gegenüber und hielten sich ziemlich müde aussehend an ihren übergroßen Milchkaffeetassen fest. Wahrscheinlich waren sie die ganze Nacht unterwegs und warteten nun auf ihren Anschlusszug. Zum Bahnhof waren es ja nur wenige Schritte.

      »Tim’s Coffeehouse« war der Inbegriff von Gemütlichkeit. Eine heimelige Insel inmitten hektischer Städte. Wahrscheinlich mochte ich diesen Platz deshalb so sehr. Ich fühlte mich hier immer ein wenig zu Hause und konnte das schnelle Stadtleben für die Länge einer Tasse Tee einfach ausblenden. Die Wände waren abwechselnd in verschieden breiten Streifen abgedunkelter und pastelliger Farben gestrichen, weinrot, royalblau, zartgelb, waldgrün, rosenholz, verschiedene Braun- und Grautöne. Auf alt getrimmte Emaillekaffee- und Teewerbeschilder aus aller Welt schmückten die bunten Farbstreifen und auf einem im Laden ringsum laufenden Regal knapp unter der mit Stuck reichhaltig verzierten Decke standen Tee- und Kaffeeblechdosen, Kannen, Tassen und Becher. Große bodentiefe Fenster mit alter Buntverglasung, warfen trotz des miesen Wetters draußen ein warmes Licht in den Raum. Ob der Stuck und die Fenster wohl noch Originale aus der Jugendstilzeit waren? Vielleicht, denn solche Kleinode ließen sich in Leipzig noch häufig finden und wirkten auf mich besonders anziehend. Ich nippte an meinem Chai Latte und packte mit einem leisen Seufzer des Wohlbefindens mein Buch aus. »Dreh Dich nicht um« von Daphne du Maurier. Ich liebte die Bücher dieser Schriftstellerin, denn sie erinnerten mich an die schöne Zeit, die ich von September letzten Jahres bis Mai dieses Jahres in Südwestengland verbracht hatte. Ich begann mit der ersten Novelle »Die Vögel« und versank in der faszinierenden Mischung aus subtilem Horror und Hoffnung. Versunken lesend, klopfte mein Herz im Takt der atemlosen Geschichte.

      »Hallo Bücherwurm. Da bist Du ja wieder. Darf ich?«

      Mein Buch fiel mir fast aus den Händen, als mich eine Stimme ansprach, die mir paradoxerweise unendlich vertraut erschien, obwohl ich sie erst wenige Stunden kannte.

      Unglaublich, da war er.

      Mir gelang es nicht, das Erstaunen in meinem Gesicht auch nur andeutungsweise zu verbergen. Leicht verwuscheltes, regenfeuchtes Haar, als hätte er vergessen, sich zu kämmen. Bluejeans, ein dunkelblau-petrolgrün kariertes Hemd darüber, bis zur Brust aufgeknöpft, darunter ein einfaches graues V-T-Shirt. Die Hemdsärmel lässig hochgekrempelt. Über dem Arm eine alte schwarze Bikerlederjacke. Letzte Regentropfen in seinem Gesicht, die das warme, abgedunkelte Licht der Cafébeleuchtung in warmen Sonnenfarben brachen und ihn leicht funkeln ließen.

      Ich konnte meinen Blick wieder nicht von ihm abwenden.

      Er lächelte fragend.

      Ich deutete auf den Sessel neben mir und ärgerte mich gleichzeitig, dass ich den Rest der Couch neben mir einnehmend mit meiner Jacke okkupiert hatte.

      »Hallo. Ja, bitte.« Immerhin, ich konnte heute Morgen wenigstens sprechen. Das lag wohl an der absolut unerwarteten Überraschung. Meine wie eingefrorene Starre würde bestimmt gleich wieder eintreten, fürchtete ich, denn da waren sie erneut, diese unergründlich grünen Augen, die mich warm und wieder ein klein wenig belustigt anblickten. Ich versuchte mich so stark wie möglich darauf zu konzentrieren, einen halbwegs geistesanwesenden Eindruck zu erwecken und nicht wieder in den Tiefen seiner Augen einfach nur hilflos durch Raum und Zeit zu treiben.

      »Ich hätte ja nicht erwartet, überhaupt schon jemanden bei diesem Wetter und um diese Zeit hier an einem Samstagmorgen anzutreffen. Und plötzlich bist du da. Weißt du, ich mag es, hier noch vor allen anderen einen Kaffee zu trinken, in der Zeitung zu blättern und langsam ins Wochenende zu starten.« Er schaute mich aufmunternd an, als wollte er tatsächlich mit mir ins Gespräch kommen.

      In der Zeitung blättern. Um diese Zeit? Wie spät war es eigentlich? Erst acht Uhr vierunddreißig? Mir gegenüber hing eine große weiße bahnhofsähnliche Uhr mit antik wirkenden Metallzeigern, die leise vor sich hin tickten. Irgendetwas stimmte heute mit meinem Zeitempfinden nicht. Ich hätte es schon wieder deutlich später vermutet.

      »Ja, ich finde es auch schön hier, vor allem wenn noch nicht alles überfüllt ist. Ich war früh wach, und da ich noch nicht so viel in Leipzig kenne, dachte ich, ich suche mir etwas Bekanntes.«

      Wow, das war mutig. Ganze Sätze. Ich kam voran.

      Er lächelte mich einfach nur an und mein Herz begann mit einem Mal, einen Takt schneller zu schlagen. Er verwirrte mich zusehends.

      »Aha, also bist du neu hier. Was wirst du denn in Leipzig tun?«

      »Am Montag beginne ich mein Studium.«

      »Und was …?«

      »Anglistik-Amerikanistik und Germanistik. Bücherwurm. Das weißt du ja schon.« Ich tippte zur Bekräftigung auf mein Buch.

      Mir gelang es nicht nur, ein halbwegs kohärentes Gespräch zu führen, sondern sogar ein schiefes Lächeln dazu. Wenn er mich doch nicht unentwegt so anschauen würde. Aber plötzlich fühlte ich, wie meine Aufregung ganz langsam einem angenehmen, ja sogar vertrauten Gefühl wich. Sein intensiver Blick ließ mich ein wenig entspannen und ich fasste Mut, ihn anzusprechen.

      »Du sprichst nicht so, als wärest du ein echter Leipziger. Was tust du hier, Robert?« Seinen Namen auszusprechen ließ mich erschauern. Es war ein noch viel aufregenderes Gefühl für mich, als ihn nur zu denken.

      »Oh, das merkt man hier immer gleich. Ja, der hiesige Dialekt liegt mir nicht so.« Er lachte. »Ich komme zum Teil aus Berlin und arbeite hier am Max-Planck-Institut … beschäftige mich mit der anthropologischen Entwicklung der Sprache und betreue verschiedene Projekte in diesem Themenbereich.«

      »Wow, das klingt interessant.«

      »Das ist es auch. Was liest du eigentlich?«

      »Daphne du Maurier, … kennt heutzutage meist keiner. Sie ist anscheinend ein bisschen aus der Mode geraten.«

      »Ich schon. Ich mag es, dass die meisten ihrer Geschichten in Cornwall spielen. Eine tolle Gegend. Ich bin dort öfter und auch immer wieder gern.«

      Ich war sprachlos. Gerade wollte ich ihm von meiner Leidenschaft für ebendiesen zauberhaften Landstrich erzählen, als das Piepen seines Handys unvermittelt diesen ersten Anflug von Vertrautheit zerbrach. Er entschuldigte sich knapp und schien beim Lesen der Nachricht leicht zerknirscht.

      Mit einem Ausdruck ehrlichen Bedauerns wandte er sich mir wieder zu und sagte: »Elisabeth, es tut mir leid. Ich muss schon wieder los. Am Bahnhof wartet jemand auf mich. Ich war mir sicher, sie würde einen Zug später nehmen. Ich wünschte … es tut mir ehrlich leid. Bis bald.«

      Er nahm eilig seine Jacke, zog sie im Gehen an und lief mit großen Schritten auf die Tür zu. Er war noch nicht ganz draußen, als er sich noch einmal umwandte und mir zulächelte. Sah ich da einen Anflug von Traurigkeit in seinem Gesicht? Nein, das bildete ich mir nur ein. Und doch, er verharrte einen Augenblick länger als er zum Schließen der Tür benötigt hätte und suchte meinen Blick. Ein kurzes letztes Nicken und er war verschwunden. Ich saß fassungslos da und starrte auf