Kurz vor dem Schleudertrauma lasse ich das Kopfschütteln und fasse den Schmarrn, den mein Mann gerade von sich gegeben hat, zusammen:
»Soll heißen: Agatha Christie hat zwei geniale Ermittler erschaffen: Miss Marple und Hercule Poirot. Während der Mann der geniale Ermittler ist, ist die Frau nur eine …«
»… gelangweilte Gschaftsnasen im Wetterfleck! Und drum ist es besser, du überlässt die Sache mit der Fürstenbrunner Leiche den Profis. Es sei denn, du willst dich lächerlich machen.« Er schaut mich herausfordernd an. Die Antwort, die mir auf der Zunge liegt, verbeiße ich mir mühsam. Als nach ein paar Sekunden immer noch kein Einwand meinerseits kommt, gibt er mir ein Bussi auf die Nasenspitze. Es kostet mich kolossale Überwindung, den Kopf nicht wegzudrehen.
Er schnappt sich den Autoschlüssel und schaut auf die Uhr. »Und: Bitte zieh dir was anderes an!«
»Ich gehe so oder gar nicht!« Schließlich bin ich ein großes Mädchen und habe meine Prinzipien.
Zehn Minuten später sitzen wir im Auto: er im Pulli, ich im Dirndl. So viel zum Thema Konsequenz.
Der Ablauf der Einweihungsfeier weicht komplett von meinen Erwartungen ab, denn die Aufmerksamkeit der Gäste hat sich verlagert. Nicht das neue Gemeindezentrum, sondern der Leichenfund ist Gesprächsthema Nummer eins. Alles Getuschel und Gemurmel dreht sich um den Toten von Fürstenbrunn: »… schon gehört – grauslich – genau dort geh ich auch immer spazieren! – gefährliche Gegend – immer schon gewusst – eh nicht gekannt.« Sämtliche Hörgeräte sind auf maximale Lautstärke gedreht, heute will niemand etwas verpassen. An diesem Nachmittag findet im Festzelt das größte Stille-Post-Spiel statt, das ich je erlebt habe, und nichts ist uninteressanter als das neue Bauwerk geschweige denn der Architekt dahinter. Der Bürgermeister hätte seine Festrede auf Bengali halten können; es wäre niemandem aufgefallen. Zuerst spult er seine rhetorische Allerweltsleier noch tapfer ab, aber irgendwann ist es ihm zu anstrengend, gegen die Gäste anzuschreien, und er gibt auf. Er tut mir fast ein bisschen leid, als er den Zettel mit seiner Rede resigniert zusammenknüllt und in den nächstbesten Mistkübel schmeißt. An vollkommenes Desinteresse ist er nicht gewöhnt. Aber er hat sich schnell im Griff und passt sich der neuen Situation an; eine Eigenschaft, die meiner Meinung nach zur Grundausstattung eines Politikers gehört, wahrscheinlich sogar überlebenswichtig ist. Mit einer energischen Handbewegung scheucht er den Bauamtsleiter, der sich gerade mühsam durch die unwillige Menge zum Rednerpult schiebt, zurück auf seine Bierbank. Auch das fällt kaum jemandem auf. Die Musikkapelle spielt einen Tusch, das Bierfass wird angezapft, die Wärmebehälter geöffnet und der Schweinsbraten angeschnitten. Beinahe eine Stunde früher als sonst beginnt das große Fressen, und meine 60-Minuten-Theorie wird um einen Erfahrungswert reicher. Der Laurenz wirkt gefasst und lässt sich nichts anmerken, aber das Ganze ist auch für ihn eine neue Situation. Ich bin mir zwar nicht sicher, ob er die Lobhudelei und das Durchschneiden des roten Bandes vermisst, aber er wirkt zumindest ein bisschen verstört. Abweichungen vom strikten Protokoll überfordern ihn leicht.
Der Bürgermeister setzt sich zu ihm, und nach ein paar Minuten Schweigen und ratlosem Schulterzucken spülen die beiden ihr angekratztes Ego ordentlich mit Bier durch und geben sich hemmungslos die Kante. Frustsaufen. Die restliche Feier hocken die beiden wie auf einem unentdeckten Eiland; um sie herum wuselt, schreit und flüstert es, aber niemand nimmt Notiz von ihnen. Aus reiner Neugierde mische ich mich unter die Festgäste; stelle mich um eine Schnitte trockenen Schweinsbraten an und hole mir einen Krug Bier, obwohl ich eigentlich Weintrinkerin bin. Warteschlangen vor der Essensausgabe sind normalerweise die Nachrichten-Hotspots bei gesellschaftlichen Anlässen, aber wirklich Neues hat der Tratsch um mich herum nicht zu bieten, wie sich herausstellt. Und weil ich mich daran nicht beteilige, fällt mir auf, was jenseits des Fressgelages passiert. Dass ein paar Kinder quietschend herumlaufen und eine Art Trophäe hochhalten, zum Beispiel. Einer der Buben gehört zum Gasthaus »Alte Hex« in Sankt Leonhard. Der Sohn vom Wirt rennt den anderen davon, bleibt immer wieder stehen und hält einen länglichen Gegenstand hoch, der in der Nachmittagssonne glitzert. Die anderen Kinder, einige davon gehen mit Lisi in eine Klasse, versuchen ihn zu erwischen und ihm das Ding zu entreißen. Außerdem findet zu späterer Stunde hinter dem Festzelt eine handfeste Schlägerei statt; ein paar junge Männer, allesamt stämmig und vom Freibier gezeichnet, lassen ihre Fäuste fliegen. Nichts Unübliches für eine Feier dieser Größenordnung. Einzureihen unter Bewegungsdrang nach der langen Sitzerei auf Bierbänken, denke ich und mache mich auf die Suche nach einer Toilette. Das gemietete Kunststoff-Klohäuschen neben dem Festzelt ist aber dermaßen versifft, dass ich es der Wartenden hinter mir gern überlasse und mich ins nächstgelegene Gebüsch verziehe. Gott sei Dank ist es mittlerweile fast dunkel, und außer mir will sich niemand den Hintern am Gestrüpp zerkratzen. Mit geübtem Handgriff wurschtele ich den Dirndlrock in die Höhe und treffe alle anderen Vorkehrungen, um es in die Wiese plätschern zu lassen. Die anschließende Erleichterung durchströmt mich bis in die letzte Faser meines Körpers, denn nichts ist unangenehmer als eine volle Blase in einem engen Dirndl. Allerdings trifft der Strahl nicht den Boden, sondern prallt irgendwo ab und ändert die Richtung. Es klingt blechern. Ich erledige das Notwendigste mit Taschentüchern, ziehe mich wieder an und kneife die Augen zusammen: Etwas Glänzendes liegt in der Wiese, natürlich nass. Vor dem Aufheben wische ich es trocken; es ist das Ding, mit dem die Kinder am Nachmittag gespielt haben. Aber was genau es ist, erkenne ich erst unter dem funseligen Licht einer Straßenlaterne: rechteckig, leicht und hell. Ein Autokennzeichen. Am linken äußeren Rand kann ich zwölf EU-Sterne auf einem blauen Band erkennen und darunter zwei Buchstaben: CZ. Tschechien.
Am Sonntag fahren wir mit den Kindern zum Ruperti-Kirtag in die Stadt. Wunderbares Herbstwetter und die Vorfreude auf Bauernkrapfen und gebratene Mandeln lassen einem das Herz im Dirndl höher hüpfen.
Die Stadt Salzburg ist eine wandelbare Diva, die ihren Wert kennt. Das ganze Jahr über bietet sie Abertausenden Touristen Unterschlupf. Hochpreisig, versteht sich. Gönnerhaft erlaubt sie ihnen im Gegenzug, scharenweise die engen Altstadtgässchen zu verstopfen. Im Sommer während der Festspiele ist Salzburg noch teurer als sonst, dazu noch mondän und elegant. Die Altstadt wird porentief rein geschrubbt, die Aufträge an sämtlichen Baustellen termingerecht abgeschlossen, die Kühlräume der Spitzengastronomie mit erlesenen Magenfüllern bestückt. Das Rascheln der Abendkleider, das Klack-Klack der Highheels und die A-, B- und C-Promis auf dem Weg ins Festspielhaus gehören zum Salzburger Sommer wie die Preiselbeeren unter die Nockerl. Pro Jahr betten mehr als drei Millionen Gäste ihr Haupt auf einem Kopfpolster in der Mozartstadt. Die Fiaker karren seit beinahe 100 Jahren gehfaules, zahlungskräftiges Publikum an den Barockbauten vorbei und haben Debatten über Pferdewindeln und Gummihufe geduldig überdauert. Touren zu den Highlights der Sehenswürdigkeiten werden mittlerweile auch im Doppeldeckerbus oder mit dem Salzachschiff angeboten. Hat man alle bedeutenden Kirchen der Stadt gesehen, kann man die Pfade der singenden Maria von Trapp als Fahrradtour abklappern oder sich von Musikstudenten mit Livree und Perücke gesanglich einlullen lassen. Aber die Diva hat nicht nur Weltoffenheit und Kultur in ihrem Repertoire, sondern auch Traditionsbewusstsein und Brauchtum. Die frühere Residenzstadt, die von Fürsterzbischöfen nach Belieben niedergerissen, umgestaltet und schließlich als persönliches Denkmal wieder aufgebaut wurde, ist manchmal ganz für die Salzburger da. Zu Ehren des Landespatrons Rupert findet für einige Tage im September ein Kirtag statt. Die großen Plätze um Mozartdenkmal, Residenzbrunnen und Kapitelschwemme sind dann vollgepfercht mit Fahrgeschäften, Zuckerwatte-Verkäufern, Schießbuden und Lebkuchenherzen. Vor dem Dom kann man Kitschiges und Süßes kaufen, Würstel essen und Bier trinken und mit etwas Glück ein halbwegs sauberes öffentliches WC ergattern.
Der Kirtag dauert immer vom Mittwoch vor dem 24. September, der dem heiligen Rupert geweiht ist, bis zum nächsten Sonntag und endet mit einem fantastischen Feuerwerk. Also heute.
Über die lange und bucklige Moosstraße fahren wir von Glanegg in die Stadt und parken unsere Familienkutsche in der Mönchsberggarage. Meine Töchter und ich im Dirndl, Max und Laurenz in der Lederhose, denn Kirtag gleich Brauchtum gleich Tracht. Vorbei am altehrwürdigen Stift Sankt Peter schlendern wir in Richtung Domplatz, und der Lärmpegel steigt mit jedem Meter, den wir zurücklegen.
Am Kirtag ist die Hölle los. Überall klebrige Finger und Zuckerwatte, dröhnende