rückt sie mit den grausigen Details heraus.
»Nur das Gesicht, das hat schon sehr unappetitlich ausgeschaut, sagt der Xaverl. Fast so, als ob der arme Kerl in einen Reißwolf gekommen wär.«
»Aber dann hättest du ihn ja sowieso nicht erkannt, selbst wenn du ihm vorher schon einmal begegnet wärst?« Susis Logik: unschlagbar.
»Geh!« Über solch unwichtige Details setzt sich die Hermi hinweg. Und dann fängt sie noch einmal von vorn an mit ihrer Geschichte. Haarklein und ganz von Anfang an erzählt sie, dass der Fischer Xaverl heut Nachmittag, ungefähr um halb vier, im Gebiet zwischen Fürstenbrunn und Wals einen Toten gefunden hat.
Ich schlafe schlecht in dieser Nacht. Meine Träume sind ein irrer Mix aus meiner eigenen Vergangenheit und Hermis Erzählungen. Alle Gärten, Straßen und Wiesen sind bedeckt mit Bergen von buntem Herbstlaub. Kniehohe Fluten aus knisternden Blättern in Gelb, Grellorange und Blutrot, die der Fischer Xaverl im Gutshof Glanegg mit einem alten Reisigbesen zusammenkehrt. Er steht mit seiner roten Jacke mutterseelenallein im riesigen Hof der Meierei und arbeitet sich durch das Laub. Aber sobald er einen Haufen fertig hat, kommt ein Windstoß und wirbelt alles wieder durcheinander. Ich fahre mit dem Rad durch die komplett in Laub versunkene Rotbuchenallee, auf dem Gepäckträger einen Laubsauger. Wahrscheinlich, um dem Xaverl zu helfen bei seiner Sisyphusarbeit. An der Glanegger Schlosskapelle mache ich eine Vollbremsung und springe vom Rad. Irgendetwas steht auf der obersten Stufe am Eingang zur Kapelle, unmittelbar vor der schweren Holztür. Ich laufe hin. Es ist ein Weidenkörbchen, aus dem leises Wimmern zu hören ist. Das Körbchen ruckelt auf den schmalen Steinstufen gefährlich hin und her, nur ein paar Zentimeter von der Kante der obersten Stufe entfernt. Wenn ich es nicht festhalte, wird es hinunterpurzeln. Ich beeile mich, will die Stufen hinaufspringen und das wimmernde Etwas retten. Aber so sehr ich mich anstrenge, ich klebe an der untersten Stufe fest. Es gelingt mir nicht, weiter hinaufzukommen. Aus dem kläglichen Wimmern wird ein Schreien. Zuerst energisch, dann wütend. Ich strecke die Arme aus, will nach dem Körbchen greifen, erreiche es aber nicht. Das Schreien und Zappeln wird immer wilder, das Körbchen nähert sich gefährlich der Kante und kippt schließlich. Ich schreie aus voller Lunge und strecke mich nach oben. Mit den Fingerspitzen kann ich den Rand des Körbchens ertasten, es aber nicht mehr retten. Schließlich purzelt es die steinernen Stufen hinunter. In diesem Moment erscheint der Pechtl. Er kommt aus der Kapelle und putzt sich mit einem blutigen Messer die Fingernägel aus. Ich schreie immer noch, worauf der Fischer Xaverl mit seinem Reisigbesen in Zeitlupe zu mir herschlurft. Das alles, während das Weidenkörbchen im freien Fall ist. Es überschlägt sich ein paarmal, knackst, als ob es auseinanderbrechen würde, und bleibt vor meinen Füßen liegen. Ich beuge mich darüber und erstarre. Denn in die blütenweiße Tuchent mit Spitzenbesatz ist kein Neugeborenes gebettet, sondern ein abgetrennter Männerkopf mit blutigem Gesicht. Der Fischer Xaverl zuckt mit den Schultern und kehrt wortlos einen riesigen Haufen Laub über das schreiende Gesicht.
Zweites Kapitel
Erzählt von lästigen Pflichten, Verdrängung, Stylingfragen und Wochenendplänen. Es geht um böses Karma und Vorzimmerdrachen. Gott reißt das Ruder herum und schickt mir den Rettenbacher. Ein unerwartetes Outing löst mein Problem und ein Papierstau im Drucker bringt eine Zeitzeugin zum Reden. Ich erfahre, dass der Pechtl eigentlich eine ganz arme Sau ist.
Um fünf Uhr früh stehe ich auf und humpele schweißnass ins Bad. Aus dem Spiegel schauen mir Augäpfel mit geplatzten Äderchen entgegen. Tiefe Augenringe und vertrocknete Lippen komplettieren mein gespenstisches Erscheinungsbild. Die Sache mit »Schlaf gleich Schönheit« wird überschätzt, finde ich. Ich schütte mir ein paar Handvoll eiskaltes Wasser ins Gesicht, öffne das Fenster und atme die morgendlich kühle Luft tief ein. Der Schock über den abgetrennten Männerkopf im Weidenkörbchen sitzt mir immer noch in den Knochen, auch wenn er nur geträumt war. Das Unterbewusstsein ist ein Hund, denke ich mürrisch; es bedient sich aus allen verfügbaren Zutaten wie Alltagssorgen, versteckten Wünschen und aktuellen Ereignissen und mixt daraus ein teuflisches Kopfkino. Ich bin zwar keine Expertin in Sachen Traumdeutung, aber das Weidenkörbchen steht ganz eindeutig für meine Vergangenheit. Die Tuchent ebenso. Alles aus diesem Traum sieht exakt gleich aus wie das Zeug, in dem ich gefunden wurde und das seit Jahren auf Tante Zenzis Dachboden vor sich hin verstaubt. Dass das Körbchen auf der obersten Stufe gestanden ist, damals, stimmt ebenfalls; so hat es mir jedenfalls meine Tante Zenzi erzählt. Sie war es, die mich gefunden hat an diesem neblig kalten Herbstmorgen vor 35 Jahren. Natürlich ist sie nicht meine leibliche Tante, sonst wäre die Sache mit den unbekannten Eltern kein großes Geheimnis und ich wüsste längst, wer mich zur Welt gebracht hat. Ich nenne sie einfach Tante, seit ich denken kann. »Mama« wollte ich mir freihalten; für den Fall, jemals auf meine leibliche Mutter zu treffen. Details wie das Weidenkörbchen und hilfesuchendes Kindergeschrei mischen sich seit Jahren in meine Träume und bringen mich um den Schlaf.
Mein rechtes Bein ist zwar rot und geschwollen, aber die Schmerzen sind längst nicht mehr so intensiv wie gestern. Es zwickt ein bisserl an der Naht. Brav wechsle ich den Verband und tupfe Betadona auf die Wunde, die mit sieben kleinen Stichen zusammengehalten wird. Beim Nähen hat die Frau Doktor ganze Arbeit geleistet. Einen roten Streifen von der Wunde Richtung Herz suche ich vergeblich – also keine Blutvergiftung. Der Kelch mit der Tollwut wird also an mir vorübergehen, hoffe ich. Weil die Fäden nicht nass werden dürfen, ziehe ich ein Plastiksackerl übers rechte Wadl, bevor ich in die Brause steige. Eine gefühlte Ewigkeit lang wasche ich mir dann alle geträumten Grauslichkeiten der letzten Nacht vom Leib und entsteige erfrischt der dampfbeschlagenen Kabine.
Ein paar Extraminuten bleiben noch für mein morgendliches Ritual: Sticken.
Am Dachboden meiner Tante Zenzi, quasi Mikrokosmos meiner Familiengeschichte, habe ich vor Jahren neben dem Weidekörbchen ein altes Buch über Stickmuster entdeckt.
Gut möglich, dass meine leibliche Mutter eine Handarbeitsfee war. Vielleicht ist das Stickzeug aber auch nur zufällig neben meinen alten Sachen gelegen. Jedenfalls habe ich das Buch fasziniert verschlungen, mich mit Nadel und Garn geduldig durch sämtliche Stickmuster gearbeitet. Seither entspannt mich das konzentrierte Zählen von Stichen und hilft, Albträume wie den der letzten Nacht zu vergessen. Manch einer mag das simple Vor-und Rückwärtfädeln von Garn belächeln und Handarbeit als stupide Hausfrauentätigkeit abtun. Tatsächlich aber ist Sticken eine uralte Technik, um Textilien mit Mustern zu verzieren. Eine Kunst mit langer Geschichte, die in allen Kulturen der Welt Tradition hat, und die mehr verdient als ein verstaubtes Image.
An den noch warmen Kachelofen gelehnt, suche ich willkürlich eine Farbe aus und fädle Garn in die Nadel: Blutrot. Und dann geht es los mit meiner eigenen Methode, Ideen und spontane Einfälle festzuhalten: »Brain-Stitching«. Eine Mischung aus Brain-Storming und dem englischen Wort für Sticken. Notizzettelartige Mini-Stickereien ohne Zählmuster und Konzept, die ich niemandem zeige. Ein paar Minuten lang lasse ich Garn durch den Stoff gleiten, schneide die Fäden ab und betrachte meine Stick-Notiz. Das Ergebnis erinnert an eine Blutlache. Wahrscheinlich wegen Hermis Mordtheorie von gestern Abend.
Laurenz hat den Kindern und mir gestern Abend eine Nachrichtensperre auferlegt: kein Wort über den Toten von Fürstenbrunn zu irgendjemandem. Schon gar nicht in der Schule. Erstens, weil das Hinaustrompeten sowieso Xaverl und Hermi erledigen. Zweitens, weil das Stille-Post-Spiel in diesem Fall mehr schadet als nützt. Und weil ihm das neugierige Flackern in meinen Augen nicht entgangen ist, als uns die Hermi gestern Abend an den »latest news« hat teilhaben lassen, war noch eine Extrabotschaft an mich dabei: »Wenn du schon überlegst, welche Patienten du morgen in der Praxis anzapfen könntest, gebe ich dir jetzt einen gut gemeinten Rat: Lass es! Mach dich nicht wichtiger, als du bist!« Er meint es gut mit mir, sagt er. Aber jeder kennt das Sprichwort: »Gut gemeint ist das Gegenteil von gut.« Und: Ja, natürlich interessiert es mich, was es mit dem Mann und seinem entstellten Gesicht auf sich hat. Alles andere wäre gelogen.
Wolkenfetzen umgeben den Untersberg und weichen langsam der Morgensonne. Der Kalkriese, dem nur wenige Meter bis zur 2.000er-Marke fehlen, ist ein gewaltiges Bergmassiv zwischen Bayern und Salzburg, das von zehn Gemeinden umgeben wird; vier davon auf österreichischem Boden. Von Höhlen durchzogen, von Sagen umwoben, hochalpin und geheimnisvoll zieht er Wanderer, Touristen, Schamanen und Höhlenforscher gleichermaßen