Katharina Eigner

Salzburger Rippenstich


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Dolinen, und bleibt schlimmstenfalls unentdeckt. Geschichten erzählen von Kaiser Karl, der im Innern des Berges sitzt und von Raben umkreist wird. Zahlreiche Sagengestalten wie die Wildfrauen, der Riese Abfalter und das Moosweiberl gehören genauso zum Untersberg wie der Marmor, Kugelmühlen, die Seilbahn und die Mautflüchtlinge, die auf Grenzwartezeiten und Vignettenpflicht pfeifen und sich vom Navi auf schmale Waldstraßen locken lassen.

      Ich mag den Untersberg, obwohl er ganzen Grödiger Ortsteilen schattige Winter beschert und sie vor sich hin schlottern lässt. Herbstfärbung und Altweibersommer setzen der Mystik noch eins drauf und rechtfertigen die Aussage des Dalai Lama, wonach der Untersberg das Herzchakra Europas ist.

      In der Küche schäumt Max gerade Milch für seinen Cappuccino auf: Teenager, Kaffee-Junkie, Fußballfan.

      Susi, meine Große, macht sich eine Tasse Kakao. Haare bis zum Hintern und nie ohne Ear-Pods. Lisi, die Kleinste, reibt sich den Schlaf aus den Augen. »Ist heute Montag?«, fragt sie. Ich nicke, und sie strahlt übers ganze Gesicht. »Ausflugtag!«

      Susi rollt mit den Augen. »Abgabetag für die Entwürfe!«

      Alle aus Susis Schule arbeiten mit Hochdruck auf das Ereignis des Jahres hin: die hauseigene Modenschau.

      »Ab Mittwoch ist Ruperti-Kirtag in der Stadt«, sagt Max und löst damit eine heiße Diskussion unter seinen Geschwistern aus, ob Sturmsegler, Hexenwippe oder Geisterbahn das Beste am Kirtag sind. Lisi würde am liebsten sofort hin, notfalls auch im Pyjama. Dass sie beim Dosenschießen Kuscheltiere und Lebkuchenherzen abstaubt, davon geht sie grundsätzlich aus.

      Laurenz erscheint und küsst mich auf die Stirn.

      »Wie geht’s deinem Bein?«

      »Soso lala«, murmle ich in meine Kaffeetasse.

      »Fein, dann muss ich nicht allein zur Eröffnungsfeier!«

      Verdammt; hab ich das vergessen? Nein, verdrängt. Die Pläne fürs neue Gemeindezentrum sind aus der Feder vom Laurenz und jetzt ist das Bauwerk endlich fertig. Soll heißen: Heute ist Tag des roten Teppichs in Grödig. Der ganze Ort ist auf den Beinen und voller Vorfreude auf Musik, gratis Schweinshaxen und Fassbier.

      Eröffnungsfeiern haben bei mir denselben Stellenwert wie Wurzelbehandlungen. Im Laufe der Jahre habe ich notgedrungen einen beträchtlichen Erfahrungsschatz zusammengetragen. Folgende Faustformel lässt sich daraus ableiten: Bei offiziellen Feiern könnte man ruhigen Gewissens die erste Stunde schwänzen, denn grob gesagt 60 Minuten sind reserviert für Reden, in denen sich Text, Danksagungen und billige Speichelleckereien wiederholen. Transpirationsbedingt steigt die Luftfeuchtigkeit im Festzelt, die Mägen knurren und die Kinder quengeln. Die Fahnenträger der Vereine halten sich übermüdet an den Masten fest und die 80-Plus-Fahrgäste schalten die Hörgeräte ab, weil sie ohnehin nur die Hälfte mitbekommen. Entspannt wird das Ganze erst, wenn alles gesagt, jedem gedankt ist und man nicht mehr gegen Müdigkeitsanfälle kämpfen muss. Wenn der erste Sturm auf das Buffet vorbei ist und man trotzdem noch etwas Essbares ergattert. Und genau aus diesen Gründen hat es dieser heutige Termin nicht bis in mein Langzeitgedächtnis geschafft.

      Bleibt nur noch die Hoffnung, dass der Tratsch betreffend Leichenfund im Grödiger Gemeindegebiet das langweilige Brimborium etwas durcheinanderbringt und zusätzlichen Gesprächsstoff bietet.

      »Was soll ich anziehen zur Feier?«, denke ich laut. Der Laurenz zuckt nur ratlos mit den Schultern: Er selber erscheint in seiner Architekten-Gala-Uniform, wie er immer sagt. Jeans, weißes Hemd und dunkelblauer Wollpulli.

      Susi und Max rennen zum Bus, wie immer drei Minuten zu spät. Laurenz fährt zu einer Baustelle, und ich bringe Lisi zum Kindergarten, endloses Pfiat-di-Winken inklusive.

      Voll motiviert und einsatzfähig humple ich kurz vor acht in die Praxis. So ein Hundebiss wirft mich noch lange nicht aus der Bahn, das wäre ja gelacht! Ich bin ein energiegeladenes, toughes Arbeitstier, nichts kann mich aufhalten. Du unersetzbare, harte Nuss, du!

      Aber das Montagmorgen-Karma will es anders. Eine Designer-Handtasche steht protzig auf meinem Schreibtisch. Ein Mahnmal aus schwarzem Leder, überladen mit goldenen Reißverschlüssen und klimpernden Schnallen. Ein Fremdkörper auf meinem blütenweißen Schreibtischblock. Herta ist da! Eroberer rammen die Fahne ihres Heimatlandes in jungfräuliche Gebiete, Hunde setzen Duftmarken ab, Herta markiert mit ihrer Handtasche. Als provokantes Luder weiß sie genau, was sie tut. Der faltige Vorzimmerdrachen hat sich auf meinem jetzigen, ihrem früheren, Schreibtisch ausgebreitet in aller Wichtigkeit. Scheiße! Meine Laune sinkt, aber gleichzeitig weiß ich: selber schuld. Ich habe meiner Chefin nicht Bescheid gegeben, dass ich Herta als Vertretung nicht brauche. Die wiederum scharrt schon mit den Hufen, denn Gelegenheiten, an die frühere Wirkungsstätte zurückzukehren, dem Telefon beim Klingeln zuzuhören, mit den Lieblingspatienten zu ratschen und die anderen links liegen zu lassen, sind selten. Nicht zu vergessen das Blättern in der Vogue, und das alles gegen Honorar.

      Noch ist sie nirgends zu sehen, aber in der Toilette rauscht die Spülung Ich humpele so souverän wie möglich zu meinem Schreibtisch: Jetzt wird zurückerobert! Die Luxustasche, die wahrscheinlich so viel kostet wie ich in einem ganzen Monat verdiene, landet direkt neben dem Mistkübel im Warteraum. Hertas Pension als Arzthelferin scheint üppiger auszufallen, als ich dachte. Oder hat sie einen Nebenjob? Irgendeine zusätzliche Einnahmequelle? Egal – nicht mein Kaffee.

      Anschließend kümmere ich mich um die Hintergrundmusik. Frau Doktor Fleischer legt Wert auf eine angenehme Atmosphäre in der Praxis. »Angenehm« bedeutet natürlich für jeden etwas anderes. Geschmackssache. Meine Chefin jedenfalls hat konkrete Vorstellungen: Keine esoterische Blim-Blim-Musik, kein künstliches Wasserplätschern, sondern Outdoor-Sounds. Vogelgezwitscher und Hummelbrummen, sagt die Frau Doktor, machen Patienten entspannter. Längere Wartezeiten würden dann gelassener hingenommen. Sagt sie. Also bin ich DJ und Sekretärin in Personalunion. Aus unserem reichen Sortiment an Naturgedudel entscheide ich mich für »Blumenwiese«: Bienen, Hummeln und Grillen.

      Herta reißt die Toilettentür auf und erscheint. Top gestylt wie immer. Sie ist – das muss der Neid ihr lassen – für ihre 65 Jahre immer noch ein heißer Feger. Dass sie solo ist, kann einen nur wundern. Ihre enge schwarze Reiterhose verzeiht kein Gramm Fett zu viel; muss sie auch nicht. Die schlanken Beine stecken in eleganten Lederstiefeln, ebenfalls schwarz. Bluse in Rosé, leicht transparent, mit einer großen Schleife am Hals. Schmuck in Roségold. Das jahrelange Schmökern in der Vogue hat sich gelohnt.

      Binnen Sekunden checkt sie die Lage und erfasst mit Scannerblick das Wesentliche: Erstens, Rosmarie Dorn ist trotz Verletzung zur Arbeit erschienen und hat zweitens die Grenzmarke vom Schreibtisch entfernt. Einen Wimpernschlag lang ist da ein missmutiges Zucken um ihren Mund, aber sie hat sich sofort wieder im Griff und legt den Schalter um.

      »Ach, du Tapfere! Schon dich doch!«, flötet sie und haucht mir ein Bussi auf die Wange. Ihr Lächeln: morgendliche Gesichtsgymnastik. Und ich verwette mein Ohrwaschl: Da war eine Botox-Spritze am Werk. Oder mehrere. Die Stirn ist noch unbeweglicher als im vorigen Jahr, die Knitterfältchen um den Mund sind weg. Dafür sind die Lippen gut zwei Nummern zu groß. Lässig holt sie ihre Tasche und kramt darin. Feile, Nagellackentferner, Wattepads und die aktuelle Vogue werden auf meinem Schreibtisch ausgebreitet. Botschaft an mich: Die Queen am Schreibtisch bin ich! Und jetzt stör mich nicht. Also, Coolness hat sie.

      »Du, ich schmeiß den Laden heute allein. Kannst dich voll auf mich verlassen«, sagt sie und fängt an zu feilen. Ich taste nach dem Kruzifix an meiner Kette. Muss das sein, frage ich Gott, bekomme natürlich keine Antwort. Jedenfalls nicht gleich. Herta reibt seelenruhig dunkelroten Nagellack von ihren Nägeln.

      Punkt acht. Na gut, einer muss ja etwas tun. Sperr ich halt die Praxis auf. Ich habe noch die Hand am Türgriff, als mir schon der Rettenbacher entgegenstolpert. Unsere tägliche Heimsuchung. Mit Terminen und organisatorischem Schmarrn hält er sich nicht auf, denn seine Uhr tickt. Sagt er. Und schon marschiert er an mir vorbei in die Praxis und hängt seine beige Jacke an die Garderobe.

      Der Rettenbacher ist ein anatomisches Wunder. Er schaut aus wie das blühende Leben, und das, obwohl er sich seit Jahrzehnten regelmäßig ins Koma säuft. Keine Schnapsnase, kein Lallen, nicht