ausgeprägte Hypochondrie. Ein krankhaftes Heischen nach Aufmerksamkeit.
Und trotzdem bemerkt er den Verband an meinem Bein.
»So was macht den Alltag gleich schwieriger, gell?« Er ist voll auf Konversationskurs.
»Möcht ich jetzt nicht haben, so einen Haxen. Da ist man so patschert und froh um jede Hilfe; vom Ehepartner, zum Beispiel, oder den Eltern.«
»Ich hab keine Eltern.« Meinetwegen hätte er heute ruhig mehr trinken können, der Rettenbacher. Ganz Grödig kennt meinen Findelkind-Status, aber jeder weiß: Das Thema ist tabu. Zumindest in der Praxis.
Er lächelt mitleidig. »Jeder hat Eltern. Nur manche sind halt noch nicht so weit.«
Zack, Finger in die Wunde! In meinen Ohren rauscht Blut, im Hals wird es eng.
»Ich wüsste nicht, warum ich noch nicht so weit sein sollte!!«, presse ich heraus.
»Neeeiiiin«, lallt der Rettenbacher, »die Eltern meine ich! Die waren damals nicht so weit. Aber Sie werden sehen, Rosmarie …«, er seufzt und schmachtet in Richtung Herta, »eines Tages finden Sie Mutter und Vater. Manchmal ist alles einfacher, als man glaubt.«
Aus purem Selbstschutz nehme ich das kryptische Gefasel eines Alkoholikers nicht allzu ernst, also zurück zum Wesentlichen. »Was führt Sie heute zu uns?«
Der Rettenbacher hat kein Problem mit dem Themenwechsel. Diesmal plagen ihn unbeschreibliche Magenschmerzen, sagt er. Schuld daran: Leitungswasser. Er krümmt sich, eine Hand auf den Oberbauch gepresst. »Ich hab einen Stein im Magen. Das ist der Kalk … Beim Wein passiert mir das nie«, japst er und schaut mich mitleidheischend an. Eine Magenspiegelung und ein MRI verlangt er, vorher geht er nicht heim. Dass er dafür erstens nüchtern sein müsste und wir zweitens weder Gastroskopie noch MRT durchführen, lässt ihn kalt. Er lässt sich auf einen Stuhl im Wartezimmer plumpsen und jammert leise vor sich hin, wobei er immer wieder in Richtung Herta schaut. Großartig. Während ich Computer und Drucker einschalte, lehnt sich Herta zufrieden in meinem Stuhl zurück und pustet auf ihre frisch lackierten Nägel. Anthrazit mit Glitzer, soso.
Die Plätze im Wartezimmer füllen sich.
Der Rettenbacher intensiviert seine Vorstellung: Er wiegt sich auf seinem Sessel vor und zurück und sein Wehklagen wird immer lauter. »Au-au-auuuu.«
Anfangs nehme ich das nicht so ernst; Jammern gehört beim Rettenbacher zum Geschäft. Aber nach einer halben Stunde hört er sich an wie ein indisches Klageweib, und die Patienten um ihn herum werden langsam unruhig. Herta finisht derweil ihre Nägel mit Überlack und blättert in der Vogue. Keinen Meter von ihr entfernt geht der Rettenbacher in wohldosiertem Crescendo zum Fortissimo über. Das beunruhigte Getuschel der Patienten um ihn herum wird lauter, und schlagartig ist auch die Geduld der Frau Doktor zu Ende: Sie dampft aus dem Behandlungsraum, packt den Rettenbacher am Arm, schleift ihn ins Zimmer und knallt die Tür wieder zu. Bumm! Die Patienten sind beeindruckt und flüstern. »So ein launisches Weibsbild – vielleicht hat sie ihre Tage – mit der möcht ich nicht verheiratet sein – das ist eine Resche, uiuiui! – Hab ich immer schon gewusst!«
Es wäre falsch, meiner Chefin wegen dieser leichten Überreaktion gleich grundsätzliche Bosheit oder gar Jähzorn zu unterstellen. Ganz im Gegenteil: Sie ist die Beherrschung in Person, fast schon britisch. Aber Patienten wie der Rettenbacher sind eine veritable Herausforderung. Muss man so sagen. Sein häufiges Erscheinen in der Praxis ist geschäftsschädigend. Denn die übrigen Patienten sehen in ihm den armen Tropf, dem nicht geholfen wird, obwohl er sich vor Schmerzen krümmt. Ein Fall für den Patientenanwalt. Das Vertrauen in den Hippokrates-Eid wird sozusagen täglich aufs Neue erschüttert und die Frau Doktor muss sich tadelnde Blicke ihrer Kundschaft gefallen lassen. Dass einem da einmal die Hutschnur reißt, ist mehr als verständlich.
Aus dem Behandlungsraum ist jetzt nichts mehr zu hören. Weder die Stimme der Frau Doktor noch das Zetern vom Rettenbacher. Kein Au-au-au mehr, stattdessen ein tiefer Seufzer, dann ist Ruhe. Dormicum, vermute ich. Das letzte As im Ärmel meiner Chefin. Schlaffördernd, beruhigend, angstlösend und entspannend. Als der Rettenbacher mit seligem Grinser aus dem Behandlungsraum torkelt, bestätigt sich mein Verdacht. Er wankt geradewegs auf Herta zu und stützt sich lässig auf den Schreibtisch. Sie ignoriert ihn verkrampft, aber er glupscht ihr mit glasigem Blick und diabolischem Jack-Nicholson-Grinser tief in die Augen.
»Dann bis heute Abend um 20 Uhr, meine Gebieterin«, säuselt er.
Oha! Jetzt ist es mucksmäuschenstill im Wartezimmer. Wer hört als Erster die Stecknadel fallen? Niemand, es passiert nämlich nichts. Zumindest nichts akustisch Wahrnehmbares. Denn Hertas Gesichtsfarbe wechselt völlig lautlos von Rosa auf Karmin. Auch die Schweißperlen, die stirnabwärts Richtung Lidschatten perlen, kann man nicht hören. Noch sitzt sie fest im Sattel respektive meinem Bürostuhl und zuckt mit keiner Wimper. Aber dann …
»Alle Männer stehen still, wenn’s die strenge Herta will!« Ein gebrülltes Kommando vom Rettenbacher, mitten in die neugierige Stille hinein. Ein Schirm, den er wie eine Lederpeitsche durch die Luft wirbeln lässt: Das endgültige Aus von Hertas Coolness. Sie springt auf und ist samt ihrer Tasche in einem Satz draußen aus der Praxis. Durch die offene Tür sehe ich die Frau Doktor grinsen.
Der Rettenbacher ist vom Dormicum dermaßen relaxt, so habe ich ihn noch nie erlebt. Vollkommen enthemmt, der Kerl. Im lockeren Plauderton und mit leicht erhöhter Lautstärke erzählt er mir von der strengen Herta. Von ihrem Reihenhauskeller, wo sich der kleine Mann noch das große Vergnügen leisten kann. Von rasselnden Ketten höre ich, an denen lustvoll japsende Männer hängen – freiwillig, versteht sich – und er selber mittendrin. Als er von den Jutesäcken mit Gucklöchern über dem Kopf anfängt, versuche ich wegzuhören. Wie sehr er die Züchtigung durch Hertas Lederpeitsche genießt, will ich gar nicht wissen. Aber als er bei den Starterklemmen angekommen ist, die sie ihm an die Brustwarzen zwickt, reicht es mir und ich verabschiede ihn.
»Ich sehe, Sie haben es eilig, Herr Rettenbacher. Ich will Sie gar nicht aufhalten! Bis morgen!«
Ich schubse ihn aus der Praxis, schließe die Tür hinter ihm und öffne ein Fenster; einigen Patienten ist die Schamesröte ins Gesicht gekrochen und der Temperaturanstieg ist überdeutlich. Frischluft tut gut, vor allem den älteren Semestern. Ein weißhaariger Endsiebziger mit Burberry-Schal und aufgestelltem Kragen zögert kurz und rennt dann dem Rettenbacher hinterher. In Sachen Domina, nehme ich an. Kein Wunder, dass sich Herta teure Handtaschen leisten kann. Ist man als Domina eigentlich einkommensteuerpflichtig?
Der restliche Vormittag verläuft dann erfrischend normal: haufenweise Patienten. Wie das eben so ist zu Wochenbeginn. Jeder jammert über akute Schmerzen, die ihn seit Freitagabend plagen. Alle wollen schnellstmöglich untersucht werden. Keiner will warten. An Tag eins nach einem Leichenfund darf man allerdings den Kommunikationsfaktor nicht unterschätzen; manche Patienten werden eher vom Redebedürfnis als von Schmerzen zu uns getrieben. Die Praxis ist ein Nachrichten-Hotspot. Und heute geht’s hier zu wie in einem Bienenstock: Die Neuigkeit vom Toten an der Glan wirkt sich positiv auf die Patientenfrequenz aus. Jeder beteiligt sich am Tratsch, jeder hat eine eigene Version. Mit einem Ohr bin ich immer bei den Gesprächen, um nichts zu verpassen, aber die Ausbeute an wirklich Interessantem ist mager. Nur wilde Spekulationen. Die Fakten kenne ich schon von der Hermi.
Kurz vor dem Zusperren geht mir dann das Papier im Drucker aus und ich muss um Nachschub humpeln. Vorbei an der letzten Patientin im Wartezimmer; Frau Schneider. Ihre dunklen Knopfaugen blitzen freundlich und wach aus dem runzligen Gesicht. Eine liebe alte Dame, die schon so viel überstanden hat wie andere Patienten in drei Leben: Krebs, Unfälle, einen Darmverschluss. Im Alter ist sie noch dazu Diabetikerin geworden. Sie ist also Stammkundin und – was ihren Medikamentenverbrauch betrifft – ein Leckerbissen für die Pharmaindustrie. Momentan wartet sie auf ein Rezept. Mein Humpeln kommentiert sie nur mit einem freundlichen »Na?«
Ich schenk ihr ein tapferes Lächeln. »Hundebiss. Gestern, beim Laufen.«
Frau Schneider gehört zu der Sorte Mensch, mit der man binnen Minuten in ein angenehmes Gespräch eintauchen kann. Nicht aufdringlich, sondern irgendwie vertraut. Und während ich mit dem Drucker kämpfe, erzähle