Zeitspanne, die dafür zur Verfügung steht, vollständig erfassen und bewerten zu können wird ohne die Unterstützung von Algorithmen nicht mehr möglich sein. Allein dieser Umstand setzt zwingend voraus, dass auch die elektronische Patientenakte zukünftig mehr strukturierte Daten enthält.
Zwar ist der Weg hier vorgezeichnet, in dem die KBV mit der Definition der sogenannten medizinischen Informationsobjekte (MIO) beauftragt ist, welche im Prinzip die erforderlichen strukturierten Datensätze enthalten. Im ersten Schritt im Jahr 2022 werden diese aber nur der elektronische Mutterpass, der elektronische Impfpass, das elektronische Zahnbonusheft und das elektronische U-Heft der Untersuchung von Kindern umfassen. Je eher wir dazu kommen, dass sämtliche relevanten Daten von Patient:innen in nach internationalen Terminologien und Standards strukturierter Form vorliegen, umso eher können Algorithmen ermitteln, welches Problem bei einer Patientin oder einem Patienten vorliegt, und die Zusammenfassung liefern, die sich heute jede Ärztin und jeder Arzt durch Lesen der einzelnen Dokumente erarbeiten müsste.
Auch die für 2024 vorgesehene sogenannte Forschungskompatibilität der elektronischen Patientenakte setzt voraus, dass alle relevanten Daten in strukturierter Form vorliegen. Die dafür nötigen Standards wie die internationale medizinische Terminologie SNOMED CT („Systematized Nomenclature of Medicine Clinical Terms“), das ebenfalls international standardisierte Verschlüsselungssystem für medizinische Untersuchungen bzw. deren Ergebnisse LOINC („Logical Observation Identifiers Names and Codes“) und andere sind bereits lange verfügbar und seit Kurzem auch hierzulande anwendbar, nachdem Deutschland eine nationale Lizenz für SNOMED CT erworben hat.
Die Zukunft der Medizin ist datengetrieben.
Die Transformation des Gesundheitswesens in Richtung einer nicht nur in der Forschung, sondern auch in der alltäglichen Versorgung datengetriebenen Medizin ist also vorgezeichnet und hat bereits begonnen – dabei ist darauf zu achten, dass die bereits in der analogen Medizin störenden Barrieren zwischen dem ambulanten und stationären Sektor in einem digitalen Sektor nicht zugelassen werden: Die Medizin braucht Daten – Daten brauchen Strukturen – Strukturen brauchen Sicherheit.
Literatur
Khadzhynov D, Schmidt D, Hardt J, Rauch G, Gocke P, Eckardt KU, Schmidt-Ott KM (2019) The incidence of acute kidney injury and associated hospital mortality – a retrospective cohort study of over 100.000 patients at Berlin’s Charité hospital. Dtsch Arztebl Int 116, 397–404. doi: 10.3238/arztebl.2019.0397
National Health Service – NHS (2021) Acute Kidney Injury (AKI) Algorithm. URL: https://www.england.nhs.uk/akiprogramme/aki-algorithm/ (abgerufen am 24.06.2021)
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Ethische Schlaglichter der Digitalisierung
Lars Roemheld
Vorneweg: Selbstverständlich muss nicht alles, was technisch möglich ist, auch umgesetzt werden. Investitionen in Technologie sollten klare Nutzenversprechen gegenüberstehen – Digitalisierung ist kein Selbstzweck.
2.1 Blockchain
Ein prominentes Beispiel für Selbstzwecke ist Blockchain. Die Technologie, die es immerhin bereits seit 2008 gibt, hat bisher praktisch keine neuen Anwendungen außerhalb von Kryptowährungen als Investitionsobjekten produziert (dies freilich durchaus erfolgreich). Dennoch hält sich Blockchain auch 2021 noch als ein fester Begriff im Gesundheitswesen.
Selbstverständlich gibt es vielfältige Anwendungen für Kryptografie im Gesundheitswesen:
Daten müssen sicher und ggf. revisionssicher verschlüsselt, gespeichert und übertragen werden.
Die Echtheit von digitalen Zertifikaten muss einwandfrei belegt werden können.
Anonymität spielt beim Umgang mit hochsensiblen Informationen eine große Rolle.
Die dabei zugrundeliegenden Technologien sind auch bei Blockchains von Bedeutung. Die eigentliche Innovation von Blockchain allerdings, das vertrauenslose Speichern einer dezentralen, revisionssicheren Datenbank durch die schlaue Balance kryptografischer Garantien und ökonomischer Anreize, erscheint im Gesundheitswesen unnötig: Dort mangelt es ja eben nicht an vertrauenswürdigen Zentralinstanzen. Solange wir Arztausweisen vertrauen, uns darauf verlassen können, dass Kostenträger rechtmäßige Forderungen begleichen und wir im schlimmsten Fall alle Gegenparteien gerichtlich erreichen können, ist fraglich, wofür wir vertrauenslosen Speicher brauchen.
Blockchain macht IT-Projekte teurer, aufwendiger, und unverständlicher als nötig wäre. Das kann kein Fortschritt sein.
2.2 Solidaritätsprinzip
Aber auch die langfristigeren Technikfolgen wollen bedacht sein. Mit größerer Digitalisierung steigt die Verfügbarkeit von Daten.
Mit mehr Daten und mehr Künstlicher Intelligenz steigt die Vorhersagbarkeit menschlicher Schicksale. Und Vorhersagbarkeit materialisiert Pech früher.
Wenn das spätere Auftreten einer psychiatrischen Diagnose schon heute mit hoher Wahrscheinlichkeit vorhersagbar ist, verschlechtern sich die Konditionen für Berufsunfähigkeits- und Lebensversicherungen. Eine private Krankenversicherung kann einen Versicherungsvertrag auf Grundlage von Vorerkrankungen ablehnen – was passiert perspektivisch, wenn die Erkrankung noch nicht eingetreten, aber praktisch schon vorhersehbar ist?
Das Solidaritätsprinzip im Gesundheitssystem gewährt, dass auch Bürger:innen mit genetischer Veranlagung für Diabetes sich eine normale Krankenversicherung leisten können. Mehr noch, die höheren Gesundheitskosten von rauchenden oder Skisport betreibenden Personen müssen diese auch nicht selbst tragen. Das sind zivilisatorische Errungenschaften, die wir nicht leichtfertig aufgeben sollten; gleichzeitig wird die Zwiespältigkeit des Versicherns gegen freiwillige Entscheidungen mit größerer Vorhersagbarkeit deutlicher.
Die moralische Problematik entsteht hier freilich nicht durch die Risikoschätzung selbst – diese kann viel Gutes bewirken, beispielsweise in der Prävention und Aufklärung. Aber die Verwendung der Schätzung zum Nachteil von Bürger:innen können wir rechtlich steuern. Das sollten wir tun, solange wir uns über die Konsequenzen von Vorhersagbarkeit nicht vollends klar sind.
2.3 Datennutzungsgebot
Wenn nun aber das Nutzenpotenzial von digitalen Lösungen sehr klar ist: Gibt es dann nicht auch ein Datennutzungsgebot? Wieso ist gerade die Medizin, die bei fast allen Interventionen am menschlichen Körper mit kalkulierten Risiken arbeitet, im Digitalen so risikoavers?
Der fast automatische medizinische Nutzen von verfügbaren Informationen zur Krankengeschichte (ePA), von koordinierter Medikation (AMTS, „Order Entry“, Medikationsplan), von klinischen Assistenzsystemen („Decision Support“), von Entlass- und Case-Management liefert gute Gründe, hier zu investieren. Können wir moralisch noch rechtfertigen, dass Missverständnisse auf der Klippe zwischen ambulanter und stationärer Versorgung regelmäßig ganze Medikationspläne durcheinanderbringen, wenn es dafür längst technische (und