Gisela Garnschröder

Larissas Geheimnis


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gewesen und nun lag sie dort und schlief. Das rötliche Haar leicht gewellt und halblang, das schmale, blasse Gesicht mit den Sommersprossen auf der Nase, die schmalen Lippen und die langen, kupfernen Wimpern, so ganz anders als ihre, die dicht und schwarz ihre grauen Augen umrandeten. Fraukes Mund war trocken, das Herz klopfte bis zum Hals. Das konnte nur ein Irrtum sein, ein Trugbild, sie schloss die Augen, um diesem Irrsinn zu entgehen, öffnete sie wieder und wurde unfreundlich angepfiffen:

      »He, verschwinden Sie, Sie nehmen mir die Sonne weg.«

      Die Frau verstummte und sah sie wie versteinert an. Endlich löste sich die Starre und Frauke wich zurück:

      »Entschuldigung«, murmelte sie und ging zögernd weiter, die Blicke der anderen im Rücken.

      Die Frau hatte sogar die Stimme ihrer Mutter und die gleichen Augen, hellbraun mit einem grünlichen Rand.

      Wie in Trance entfernte sich Frauke von dem Platz, ging langsam durch den Schlick zum Wasser; die Flut hatte eingesetzt, stetig rollten die Wellen näher zum Strand, und ihre Füße spürten das kühle Nass. Ihr Blick glitt über die graue, stählern schimmernde Fläche bis zum Horizont hinaus, als könne sie das Gesicht ihrer Mutter heraufbeschwören, um einen Vergleich zu finden, ändern würde das nichts. Plötzlich trat sie auf eine Muschel, der Schnitt brannte und sie humpelte zurück, sah ihre Schuhe weit hinten liegen, einer hier, einer dort. Sie hatte sie verloren ohne es zu bemerken, sammelte sie wieder ein und setzte sich am Rand des Deichs ins Gras, um sich ihre Schnittwunde anzuschauen, welche leicht blutete. Sie rieb die Stelle mit ihrem Taschentuch ab und schlüpfte wieder in ihre Schuhe. Den schwachen Schmerz ignorierend, ging sie noch einmal zu der Stelle, an der die Frau gelegen hatte. Sie war weg. Suchend glitten Fraukes Augen umher, aber sie war wie vom Erdboden verschluckt. Langsam ging Frauke über den Deich zum Parkplatz zurück und stieg in ihren Wagen. Auf dem Weg nach Hooksiel grübelte sie über die Frau in den Dünen nach und nahm sich fest vor, gleich am nächsten Tag die Gegend gründlich nach ihr abzusuchen. So in Gedanken hätte sie fast eine Ampel übersehen, sie riss sich zusammen und sah plötzlich ein Stück Papier unter ihrem linken Scheibenwischer, welches sie beim Einsteigen nicht bemerkt hatte. Bei Grün fuhr sie ein Stück die Straße hinunter und hielt an, um den Zettel zu entfernen. Es war eine handgeschriebene Mitteilung auf einem Blatt von einem Abreißblock.

      »Verschwinde!«

      Der Zettel fiel zu Boden und flog mit dem Wind davon, Frauke lief hinterher und hätte beinahe einen jungen Mann umgerannt, braun gebrannt, groß schlank, blond. Er fing die Nachricht auf.

      »Das klingt nicht gerade liebenswürdig. Was haben Sie verbrochen?«

      Er hatte ein umwerfendes Lachen und wunderschön gerade Zähne. Frauke wurde rot und griff nach dem Zettel.

      »Keine Ahnung«, antwortete sie knapp und lief zu ihrem Auto.

      »He, warten Sie doch.«

      Er stellte sich vor ihren Wagen und strahlte sie an.

      »Sie werden das doch nicht erst nehmen? Ich wollte Sie gerade zum Abendessen einladen.«

      Ein nervöses Lächeln huschte über ihr Gesicht.

      »Ich kenne Sie doch gar nicht.«

      Er zog sein Gesicht in bedauernde Falten wie ein Hund, der um Vergebung bettelt, reichte ihr die Hand und stellte sich vor.

      »Friedrich Lust, meine Freunde nennen mich Fried.«

      »Frauke Thomas«, stammelte sie, öffnete die Autotür, sprang hinein, startete und fuhr davon.

      Verblüfft sprang er zur Seite und rief ihr nach:

      »Wir haben noch keinen Treffpunkt ausgemacht!«

      Sie hob die Hand als Gruß und schoss davon. In ihrem Kopf hämmerte es. Kannte jemand sie hier oder hatte die unbekannte Frau ihr den Zettel unter den Scheibenwischer geklemmt? Sicher, wer sollte es sonst gewesen sein? Aber warum? Und woher diese Ähnlichkeit? Vielleicht war die Unbekannte eine entfernte Verwandte ihre Mutter. Bis sie bei ihrer Pension ankam, grübelte Frauke nach, wurde immer verwirrter und fasste den Entschluss, nach dem Auspacken Larissa anzurufen.

      Ihr Zimmer war klein, aber hübsch eingerichtet, mit hellen Eichenmöbeln und karierten Gardinen am Fenster. Die Zimmerwirtin, eine nette, rundliche Dame, servierte ihr, obwohl es bereits elf Uhr war, zur Feier ihrer Ankunft ein opulentes Frühstück und danach fühlte Frauke sich gleich besser, was sich schlagartig änderte, als sie ihre Tante anrief.

      »Du solltest Wilhelmshaven meiden, Frauke. Es ist eine so öde Stadt.«

      »Tante Larissa, bitte sag mir, ob du eine Frau kennst, die Mutti wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich sieht?«

      Fraukes Stimme hatte fast flehentlich geklungen, aber am anderen Ende war Stille.

      »Larissa?«

      Die Tante hatte aufgelegt. Mehrmalige Versuche sie zu erreichen blieben erfolglos. Frauke packte eilig ein paar Sachen, lieh sich bei der Wirtin ein Fahrrad und fuhr durch den Sonnenschein zum Deich.

      Sie fuhr schnell, war in wenigen Minuten da, stellte ihr Rad ab und setzte sich oben auf der Deichkrone auf eine Bank. Die Fahrt hatte sie beruhigt und sie atmete tief die salzige Luft ein. Sie dachte an Andreas, der in den Süden fliegen wollte und sie hier allein in diesem Schlamassel sitzen ließ. Gerechterweise musste sie sich eingestehen, dass es allein ihre Entscheidung war, hierher zu kommen. Sie musste herausfinden, was die fremde Frau mit ihr und ihrer Mutter zu tun hatte, denn dass der Zettel von dieser Frau stammte, war so gut wie sicher. Umständlich kramte sie ihn aus der Hosentasche und las ihn noch einmal, was ihre Unruhe nicht beseitigte, denn selbst die Schrift kam ihr vertraut vor. Seufzend stand sie auf und ging hin und her. Ein Jogger kam über den Deich auf sie zu, und sie wich zur Seite. Er trug eine blaue Kappe, und sein Gesicht war nicht zu erkennen. Gerade als er vorbei war, drehte er sich um und rief erstaunt aus:

      »Sie sind es, ich dachte schon, ich sehe Sie nie wieder.«

      Er war verschwitzt, sein T-Shirt hatte dunkle Flecken, und als er nun die Kappe abnahm, strahlte sein Gesicht unter klebrigen, nassen Haaren.

      Frauke wollte eine schnippische Antwort geben, aber plötzlich war sie froh, dass er da war, und hörte sich sagen:

      »Die Welt ist klein.«

      Im selben Moment kam ihr dieser abgedroschene Spruch so dumm vor, dass sie verlegen errötete. Er lachte.

      »Unten bei der Pizzeria gibt es ein gutes Pils, wie wär‘s mit heute Abend.«

      »Abgemacht.«

      Frauke lächelte ebenfalls. Er stülpte seine Kappe wieder auf, trottete davon, drehte sich noch einmal um und rief:

      »Um acht! Nicht vergessen!«

      Langsam ging Frauke den Deich hinunter über die Steine und hielt die Hände ins Wasser. Lange saß sie da, beobachtete die Wellen, die sanft ans Ufer klatschten, die kleinen Fische, die zwischen den Steinen hin und her flitzten, fühlte die Sonne auf ihrer Haut, sah oben einige Möwen ziehen und weit hinten auf dem Meer einen Kutter Kurs auf den Hafen nehmen. Wie sehr hatte sie den Urlaub herbeigesehnt, doch nun fühlte sie sich leer, schutzlos, ungewollt in eine Zwickmühle geraten, aus der es kein Entrinnen gab. Nach Stunden erst machte sie sich auf den Weg zu ihrer Pension, leicht getröstet von dem Gedanken, dass sie den Abend nicht allein verbringen musste.

      Sie sah den Wagen schon von Weitem. In ihrem Bekanntenkreis gab es niemanden, der einen Chevrolet fuhr, außer Tante Larissa. Beunruhigt stellte Frauke ihr Fahrrad ab. Kaum hatte sie die Eingangstür erreicht, wurde diese von Larissa Norten aufgerissen.

      »Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht«, empfing sie ihre Nichte.

      Frauke betrachtete die Tante, sah die Furcht in ihren Augen und meinte knapp:

      »Fein, dass du sofort gekommen bist, Larissa. Komm, wir gehen auf mein Zimmer.«

      Kaum hatte Frauke die Tür hinter sich geschlossen, ließ Larissa sich in einen Sessel fallen und sagte:

      »Du darfst nicht