Gisela Garnschröder

Larissas Geheimnis


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klopfendem Herzen lief sie hin, die Nummer war ihr unbekannt. Sie nahm ab.

      »Hallo, mit wem spreche ich?« erkundigte sich die Stimme am anderen Ende.

      Als hätte sie sich verbrannt, fiel ihr das Telefon aus der Hand, sie keuchte. Die Stimme ihrer Mutter! Als sie sich beruhigt hatte, hob sie das schnurlose Telefon wieder auf, lauschte und setzte es in die Ladestation zurück. Erschöpft ließ sie sich in einen Sessel fallen, als ihr Blick auf den großen Umschlag fiel, den der Notar ihr mitgegeben hatte.

      »Alle Unterlagen komplett, auch ein persönlicher Brief Ihrer Tante ist dabei.«

      Sie sprang auf und schüttete den Inhalt des Umschlags auf den Tisch. Das Testament ihrer Tante und ein schmaler Umschlag mit ihrem Namen. Mit zitternden Fingern öffnete sie ihn.

       Geliebte Frauke, mein Kind.

      Tränen rannen Frauke über das Gesicht, die Worte verschwammen vor ihren Augen, und sie wischte sich energisch durchs Gesicht, bevor sie weiterlas.

       Sei nicht traurig, ich werde immer bei dir sein. Als ich dich mit nach Bielefeld nahm, war es der Wunsch deiner Mutter und meine Pflicht, aber du bist mir ans Herz gewachsen, mehr als ich je geglaubt habe, bleib‘ wie du bist und lass dich niemals irremachen in deinen Vorstellungen.

       Für immer Larissa, die auch deine Mutter war. Gott schütze dich.

      Am Ende des Briefes war ein Nachsatz.

      ‚Deine Mutter hat ihr Geheimnis nie verraten, aber ich finde, du musst die Wahrheit wissen. ‚

      Darunter standen eine Zahlenkombination und der Hinweis auf den Safe.

      Frauke hatte plötzlich das Gefühl beobachtet zu werden. Die Wohnung lag im Parterre, sie trat ans Terrassenfenster und spähte hinaus. Nichts zu sehen, nur die Silhouette der Sparrenburg hob sich über den hohen Bäumen ab, die die Wohnanlage umsäumten, trotzdem ließ sie die Rollläden hinunter. Die Unterlagen des Notars packte sie wieder in den Umschlag und verstaute sie in ihrer Handtasche, den Brief der Tante steckte sie in ihre Hosentasche.

      Bevor sie die Wohnung verließ, räumte sie ordentlich auf. Der Tresor ließ sich mit dem Code leicht öffnen. Er enthielt ein Familienbuch, Fotos, mehrere ordentlich gebündelte Briefe und einen länglichen, braunen Umschlag. Frauke nahm alles an sich, verschloss den Safe sorgfältig und verließ, sich vorsichtig umschauend, die Wohnung.

      Hauptkommissarin Mira Wiedemann saß an ihrem Schreibtisch in dem kleinen Büro in Hooksiel, wo das Kommissariat während der Umbauarbeiten in Wilhelmshaven ein freudloses Dasein fristete. Alle Kollegen waren in Urlaub und ausgerechnet jetzt, wo sie sich auf eine ruhige Zeit bis zu ihrer Pensionierung eingerichtet hatte, musste sich eine Fremde umbringen lassen. Missmutig betrachtete sie die Fotos des Polizeifotografen vom Tatort und sog dabei heftig an ihrer Zigarette, als läge die Erkenntnis im Tabakrauch. Es klopfte. Ihr Mitstreiter, Thorben Weller, kam zur Tür herein und warf ihr einen Stapel Briefe auf den Schreibtisch, was ihre Laune nicht unbedingt hob.

      »Ich habe sie alle gelesen, keine Anhaltspunkte, nur so‘n süßlicher Liebesquatsch. Außerdem sind die Briefe uralt.«

      »Noch lange kein Grund sie mir auf den Schreibtisch zu werfen«, zischte Mira und drückte ihre Zigarette aus.

      »Haben Sie die Kollegen in Bielefeld kontaktiert?«

      Thorben nickte.

      »Fehlanzeige. Ein unbeschriebenes Blatt, diese Larissa Norton. Lehrerin, ledig, keine Kinder, einzige Angehörige die Nichte Frauke Thomas. Hat übrigens die Wohnung der Alten geerbt, dahinter sollten wir uns klemmen.«

      »Dummes Zeug, sie war in der Pizzeria mit diesem Friedrich Lust, das Alibi steht.«

      Thorben holte tief Luft und überlegte, ob er nicht einfach am nächsten Tag blaumachen sollte. Die Zusammenarbeit mit der Wiedemann entwickelte sich zu einem echten Horrortrip, so hatte er sich die Praxisanleitung während der Ausbildung nicht vorgestellt. Sein Gedankengang war noch nicht zu Ende, als Mira Wiedemann sich erkundigte:

      »Haben Sie Lust schon überprüft?«

      »Ich denke, äh, Sie wollten das übernehmen.«

      »Das könnte Ihnen so passen, hier den lauen Lenz zu schieben«, schnaubte Mira. »Wir haben einen Mordfall, vergessen Sie das nicht. In einer Stunde will ich das Ergebnis.«

      Er war schon in der Tür, als sie ihn zurückrief:

      »Recherchieren Sie gründlich, nicht so schlecht wie bei der Norton.«

      »Wieso?«

      Verdattert sah er sie an.

      »Die Norton hat noch eine Schwester. Ist Ihnen beim Lesen der Briefe nicht aufgefallen, dass sie von zwei verschiedenen Personen geschrieben wurden?« Thorben kam zurück.

      »Aber, ich dachte ...«

      Mira schnitt ihm das Wort ab.

      »Sie sollen nicht denken, sondern ordentlich recherchieren, verdammt.«

      Thorben sah ihre blauen Augen, die ihn durchbohrten wie giftige Pfeile und verschwand wortlos. Empört blickte sie ihm nach und griff erneut zu ihrer Zigarettenschachtel. Ausgerechnet diesen Anwärter hatte man ihr aufs Auge gedrückt.

      Sie dachte den Tag ihres sechzigsten Geburtstages. Der Polizeidirektor hatte ihr mit einem Blumenstrauß gratuliert und gemeint:

      »In Hooksiel haben wir extra für Sie ein kleines Kommissariat eingerichtet, da werden Sie von den Bauarbeiten nicht gestört und können jeden Mittag einen schönen Strandbummel machen.«

      Alle Kollegen hatten gelacht und waren kurz darauf in Urlaub gefahren. Nicht, dass es ihr etwas ausgemacht hätte, allein zu sein, aber mit einem Mord hatte sie nicht gerechnet, noch weniger mit einem Anwärter, der sich mehr als dumm anstellte. Gefrustet befasste sich Mira wieder mit den Tatortfotos und dem Bericht der Spurensicherung. Bisher gab es keinerlei Erkenntnisse auf den Mörder, da war nur die Aussage der Nichte, die davon sprach, ihre Tante habe Angst gehabt. Dann noch die ominöse Schwester, Zwillingsschwester der verstorbenen Mutter von Frauke Thomas, Verena Norton, die irgendwo in der Gegend wohnen sollte. Mira drückte ihre halb aufgerauchte Zigarette aus, stand auf und verließ das Büro.

      Frauke hatte eine unruhige, von Träumen gequälte Nacht verbracht, trotz mehrmaliger Versuche konnte sie Andreas in seinem Urlaubsort auf Mallorca nicht erreichen, war weiterhin allein auf sich gestellt und schwor sich, mit ihm Schluss zu machen und so bald als möglich die gemeinsame Wohnung zu verlassen, wenn auch momentan andere Dinge anstanden. Sie packte frische Sachen in ihren Koffer und suchte verzweifelt nach ihrer Wetterjacke, bis ihr einfiel, dass sie das gute Stück in Larissas Wohnung zurückgelassen hatte. Eine Nachbarin ihrer Tante empfing sie am Eingang des Hauses, drückte Frauke ihr Beileid aus und überfiel sie mit solcher Redseligkeit, dass es eine Weile dauerte, bis Frauke endlich die Tür zur Wohnung aufschloss und ein Schrei des Entsetzens über ihre Lippen kam. Diesmal war sie froh, dass die Nachbarin neugierig hinzukam und aufgeregt ausrief:

      »Um Gottes Willen! Wie sieht es denn hier aus?«

      Die Wohnung glich einem Trümmerhaufen. Schränke waren umgestoßen, Vasen lagen zersplittert am Boden und Frauke sank schluchzend in einen Sessel, der seitlich mit dem Messer aufgeschlitzt worden war.

      Die Polizisten waren endlich wieder weg. Frauke fand nach langem Suchen ihren Friesennerz unter einem Kleiderstapel im Flur und flüchtete aus der demolierten Wohnung. Die Polizei hatte weder Fingerabdrücke noch Einbruchsspuren an den Türen oder Fenstern finden können. Stundenlang waren Beamte damit beschäftigt gewesen, alles durchzuchecken. Frauke begann, grob aufzuräumen, unterstützt von der Nachbarin, die eifrig hin und her lief, Kaffee kochte und Frauke half.

      Die beiden Frauen hatten einen großen Berg im Wohnzimmer aufgeschichtet, die Sachen waren nicht mehr zu gebrauchen. Die wertvollen Gegenstände, wie der Schmuck der Tante, der auf dem Boden verstreut war, wurden sorgfältig wieder zurückgelegt. Es war Frauke ein Rätsel, warum jemand eine ganze Wohnung auf den Kopf stellte und alles Wertvolle, sogar etwa