Vater soll ihr regelmäßig geschrieben haben, das jedenfalls hat Frauke Thomas ausgesagt, Ihre Cousine.«
»Meine was? Ich habe keine Cousine! », empörte sich Stella Bornfeld.
»Das hat Frau Thomas auch gedacht. Sie ist die Tochter der Zwillingsschwester Ihrer Mutter.«
Stella sprang auf.
»Meine Mutter hat nur eine Schwester, und das ist - war Larissa Norton.«
Mira zog eines der Fotos aus der Tasche, welche die drei Schwestern vor etwa dreißig Jahren zeigten, und hielt es ihr hin.
»Ihre Cousine hat es mir freundlicherweise zur Verfügung gestellt.«
Stella wurde abwechselnd rot und blass.
»Sie müssen mir glauben, ich habe nichts davon gewusst«, stotterte sie.
Mira nahm ihr das Bild wieder ab und verabschiedete sich.
»Können Sie mir sagen, wo sich Ihre Mutter aufhält? Ich muss sie dringend sprechen.«
Stella hatte sich in einen Sessel geworfen und schüttelte wortlos den Kopf.
Der Umschlag enthielt den Befund eines Krankenhauses, mit dem Frauke nichts anzufangen wusste. Gefrustet steckte sie das Blatt wieder zurück und untersuchte das Geheimfach des Koffers noch einmal gründlich. Nichts. Sie faltete den Umschlag zusammen und steckte ihn wieder in das Fach. In diesem Moment klopfte es und ohne ihr »Herein« abzuwarten, stand Friedrich Lust im Zimmer.
»Hallo, wie geht es dir?«
Sie verstaute den Koffer im Schrank und lächelte.
»Gut, ich habe nur auf einen Kavalier gewartet, der mich an den Strand begleitet.«
Hauptkommissarin Mira Wiedemann war es endlich gelungen mit Verena Bornfeld telefonisch Kontakt aufzunehmen. Die Dame hatte sich bereit erklärt, das Kommissariat persönlich aufzusuchen. Sie kam des Nachmittags im goldgelben Porsche vorgefahren, in einem eleganten zartgrünen Kostüm, welches hervorragend zu ihren rötlichen Haaren passte und ihre schönen Beine zeigte, die in zum Kostüm passenden Pumps steckten. Als sie gegenüber von ihrem Schreibtisch Platz nahm, konnte Mira trotz des gut deckenden Make-ups die vielen kleinen Sommersprossen auf ihrer Nase sehen, welche die Ähnlichkeit mit ihrer Tochter deutlich hervorhoben.
»Ist es wahr, dass meine Schwester Larissa ermordet wurde?«
Ihre hellbraunen Augen musterten Mira interessiert.
»Sie wurde mit durchschnittener Kehle aufgefunden.«
»Wie entsetzlich!«
Verena Bornfeld riss die Augen auf und spielte nervös mit ihrem Autoschlüssel.
»Wissen Sie, ob Ihre Schwester hier mit jemandem in Kontakt stand? Alte Freunde, Schulkameraden?«
Verena seufzte vernehmlich.
»Woher soll ich das wissen? Ich habe sie seit Jahren nicht gesehen.«
»Warum nicht?«
Zum ersten Mal hatte Mira das Gefühl, Frau Bornfeld aus dem Konzept gebracht zu haben. Ihre Wimpern flackerten verräterisch, und es dauerte einige Sekunden, bis ihre Antwort kam.
»Es hat Streit gegeben, wir hatten nichts Gemeinsames. Larissa war so pedantisch, wie soll ich sagen - Lehrerin eben!«
Mira lächelte und stellte leise, ihre Augen fest auf Verena gerichtet, die nächste Frage.
»War Ihre Zwillingsschwester auch Lehrerin?«
Verena beugte sich vor, die Augen zu kleinen Schlitzen verengt.
»Was fällt Ihnen ein?«, fauchte sie. »Meine Zwillingsschwester ist tot. Mehr möchte ich dazu nicht sagen!«
Mira Wiedemann setzte zur nächsten Frage an.
»Wo waren Sie am Samstagabend zwischen zehn Uhr und Mitternacht?«
Verena Bornfeld starrte die Beamtin empört an, stand auf, fasste ihre Handtasche mit festem Griff und antwortete:
»Im Wellnesscenter an der Bremer Straße.« Dann wandte sie sich zur Tür und erklärte bestimmt: »Ich bin in Eile, wenn Sie weitere Fragen haben, wenden Sie sich bitte an meinen Anwalt!«
Sie warf eine Visitenkarte auf den Schreibtisch und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum. Mira Wiedemann blickte ihr empört nach und nahm den Telefonhörer zu Hand.
Wenige Sekunden später öffnete sich die Tür erneut, und Thorben Weller ließ sich schnaubend vor Wut auf den Stuhl fallen, den Frau Bornfeld gerade geräumt hatte.
»Dieses Miststück! Sie weiß mehr als sie sagt!«
Er war rot im Gesicht und bemerkte in seinem Ärger nicht, dass seine Kollegin nicht eben begeistert über sein Benehmen war.
»Was fällt Ihnen ein, hier so hereinzuplatzen? Sehen Sie nicht, dass ich telefoniere?«
Erst jetzt sah er ihr zornrotes Gesicht und duckte sich automatisch in seinem Stuhl, als befürchte er einen tätlichen Angriff.
Mira warf den Hörer auf die Gabel und fauchte:
»Polizeiarbeit ist kein Zuckerschlecken, wenn Sie dafür zu sensibel sind, sollten Sie die Ausbildung abbrechen!«
Weller stotterte eine Entschuldigung und erklärte, nun ruhiger:
»Diese Frauke Thomas hat mich praktisch hinausgeworfen, nachdem ich ihr geholfen habe, aus einem Geheimfach ihres Koffers einen Umschlag zu bergen.«
Seine Schilderung ließ Miras Zorn verblassen.
»Diese Familie hat so viele Geheimnisse, dass ich fest überzeugt bin, dass der Mörder im familiären Umfeld zu suchen ist. Diese Verena Bornfeld war vor wenigen Minuten hier, keine vernünftige Aussage, aber die Visitenkarte ihres Anwalts hat sie hinterlassen.«
Weller war froh, dass Mira sich wieder dem Fall zuwandte und steuerte einen weiteren Aspekt hinzu.
»Frau Thomas hat auch einen Gewinn durch den Tod der Norton, sie hat nicht nur eine Wohnung, sondern auch etliches an Geld geerbt, das hat sie mir gesagt.«
»Für die Tat hat sie ein bombensicheres Alibi«, warf Mira ein und fuhr fort: »Da muss es noch andere Gründe geben, die einen Mord rechtfertigen.«
»Wir müssen an den Umschlag kommen, den die Kleine so schnell vor mir versteckt hat, sicher wusste sie, was drin war.«
Weller war noch immer verärgert, dass er mit so wenig in der Hand bei seiner Hauptkommissarin erschienen war. Mira schüttelte den Kopf.
»Für eine Hausdurchsuchung haben wir keinerlei Handhabe.«
»Es muss etwas geben, was sie verbirgt«, ereiferte sich Weller, »völlig ohne Grund wird niemand umgebracht.«
Mira schmunzelte.
»Ihren Eifer in Ehren, aber ich glaube nicht, dass die Nichte mit dem Mord zu tun hat. Sie schien mir völlig glaubwürdig, als sie von den Ängsten der Ermordeten sprach. Wir müssen herausfinden, vor wem diese Frau Angst hatte. Ich tippe da eher auf einen Erpresser.«
»Warum soll man eine Lehrerin erpressen?«
Thorben Weller seufzte und gab sich selbst die Antwort:
»Es muss ein Geheimnis geben, was so brisant ist, dass es einen Mord rechtfertigt.«
Die Hauptkommissarin pflichtete ihm bei.
»Gehen Sie der Sache auf den Grund, versuchen Sie etwas über den Umschlag zu erfahren. Heute Abend ist die Dame sicher im Hotel.«
Wenig begeistert machte sich Weller des Abends erneut auf den Weg zu Frauke Thomas und traf sie im Garten der Pension beim Abendessen.
»Sie schon wieder?«
Frauke war verärgert, am Nachmittag mit Fried hatte sie die schrecklichen Ereignisse fast vergessen