Campbell, Thou Art That: Transforming Religious Metaphor
Mein Hauptanliegen ist hier, jegliche Auffassung von Nirvana als nichtbedingtem Bereich, der von der bedingten Welt, in der wir nun leben, getrennt sei, kritisch zu befragen: Macht solch eine transzendente Deutung des Erwachens vielleicht den gleichen Fehler, dem viele religiöse Überlieferungen erliegen – Metaphern wortwörtlich zu nehmen? Verwirklichung des Todlosen – dessen, was jenseits von Geburt und Tod liegt – lässt sich als Erlangen einer anderen Wirklichkeitsdimension auffassen und damit als Flucht aus dieser vergänglichen Welt, in der alles entsteht und vergeht. Man kann es aber auch als Umschreibung der Empfehlung des Buddha an den Bahiyer verstehen, hier und jetzt zu erkennen, dass es kein »Du« gibt, das je geboren wurde oder sterben kann. Modern ausgedrückt ist die Vorstellung eines »Ich«, das diese Erfahrungen hat, ein Konstrukt, das der Buddha uns zu dekonstruieren rät, denn die Illusion eines getrennten Selbst ist die Quelle unseres beschwerlichsten Dukkha. Vielleicht geht das aber nicht damit einher, dass man irgendeine andere Realität erreicht, sondern offenbart nur die wahre Natur dieser Realität.
DAS TRANSZENDENZPROBLEM
Der Einfluss achsenzeitlicher Überlieferungen wird weiter abnehmen, je deutlicher sich zeigt, dass ihre Werkzeuge den moralischen Herausforderungen der Globalisierungsproblematik nicht gewachsen sind. Vor allem soweit diese Überlieferungen einen kosmologischen Dualismus und individuelle Erlösung betonen, kann man ihnen Gleichgültigkeit gegenüber der Integrität natürlicher und sozialer Systeme vorwerfen.
Loyal Rue, Everybody’s Story
Eine Dualität zwischen dieser unbefriedigenden Welt des Samsara und einem überweltlichen Ziel mag die ursprünglichen Ansichten des historischen Buddha zutreffend widerspiegeln oder auch nicht. Ähnliche Dualitäten findet man auch in vielen anderen spirituellen Überlieferungen, die etwa zur selben Zeit – in der sogenannten Achsenzeit, der Periode von circa 800 bis 200 v.u.Z. – entstanden sind. Der deutsche Philosoph Karl Jaspers hat die Auffassung vertreten und bekannt gemacht, während dieser Geschichtsperiode seien voneinander unabhängig in China, Indien, Persien, Judäa und Griechenland die spirituellen Fundamente der Menschheit gelegt worden. Damals entstanden nicht nur der Buddhismus, sondern auch der Vedanta, Jainismus, Konfuzianismus, Daoismus, das Judentum sowie die vorsokratische griechische Philosophie und der Platonismus – und gemeinsam bilden sie heute die Grundlagen der wichtigsten Religionen, einschließlich des Christentums und des Islam.
Die abrahamitischen Glaubensrichtungen heben einen Schöpfergott (im Himmel) von unserer gefallenen Welt ab. Die Überlieferungen des Vedanta unterscheiden diese trügerische Welt der maya (Illusion) von Brahman, dem Grund des Universums. In beiden Fällen wird die Welt, wie wir sie gewöhnlich erfahren, im Vergleich mit einer transzendenten Realität abgewertet. Auch der frühe Buddhismus stützte sich nach allgemeinem Dafürhalten wie diese anderen Entwicklungen der Achsenzeit auf einen kosmologischen Dualismus. Statt des Gegensatzes zwischen Gott und seiner Schöpfung gab es den zwischen Samsara und Nirvana, und unsere Welt wurde auf ganz ähnliche Weise als ein Ort des Leids, der Begierde und der Verblendung gesehen und abgewertet. Wie im Vedanta und in den abrahamitischen Traditionen galt es gewöhnlich als höchstes Ziel buddhistischer Praxis, die Welt zu transzendieren. Erneut müssen wir aber fragen: Was ist mit »transzendieren« gemeint? Heißt das, in irgendeine andere Wirklichkeit zu fliehen, oder heißt es, zu erkennen, dass diese Welt eigentlich ganz anders ist, als wir bisher geglaubt haben?
Ein weiterer Aspekt des kosmologischen Dualismus dieser Traditionen ist die Auffassung, meine individuelle Erlösung oder persönliche Befreiung sei von deiner unabhängig. Wie das Zitat von Loyal Rue nahelegt, kann uns das Bestreben, ein Nirvana zu erlangen, das diese Welt des Samsara transzendiert, von den ökologischen und gesellschaftlichen Aufgaben ablenken, die sich uns gerade hier stellen. Warum sollen wir uns um das kümmern, was hier passiert, wenn unsere höchste Bestimmung doch anderswo liegt? Falls unser grundlegendes Dukkha aber auf der verblendeten Annahme eines Selbst beruht, das sich vom Rest der Welt getrennt wähnt, dann dürfen wir Erleuchtung nicht so auffassen, als würde jenes Selbst nun irgendeine andere Wirklichkeit erlangen. Wie wir sehen werden, kann man Erwachen gemäß einer Umschreibung von Dogen auch als ein Sich-selbst-Vergessen verstehen – als Loslassen des Selbstsinns und Erkennen der eigenen Nichtdualität mit der Welt. Diese Verwirklichung motiviert ganz natürlich zu verantwortlichem Tun für die Welt, denn man kann nunmehr das Wohl »anderer« nicht mehr vom eigenen trennen.
Trotz vieler Unterschiede zwischen den Überlieferungen der Achsenzeit zeigen sie bemerkenswerte Parallelen. Ganz allgemein unterschieden sich diese Weltanschauungen stark von Vorgängerkulturen wie denen Mesopotamiens oder Ägyptens. Dort hatte man geglaubt, die Götter kommunizierten mit den Menschen vor allem durch den König, Kaiser oder Pharao, der an der Spitze der sozialen Pyramide stand. Die Autorität dieser Herrscher war gleichermaßen heilig und weltlich, denn nur sie standen in unmittelbarer Beziehung mit den göttlichen Gefilden; faktisch galten die Herrscher oft als Götter oder gottähnlich. Zusätzlich zu ihren politischen Pflichten wirkten sie als Oberpriester und zelebrierten die Rituale zur Erhaltung der Harmonie zwischen der menschlichen und der himmlischen Ordnung – Feiern, die nur sie leiten durften. Dem Ägyptologen Bruce Trigger zufolge war der Pharao »der alleinige Vermittler, der den Göttern dienen und so den Fluss der Energieströme in die Welt erhalten konnte«. In Amerika war es nicht anders. Der Forscherin Lynn Foster zufolge galten die Mayakönige als »Kanäle, durch die übernatürliche Kräfte in die Menschenwelt geleitet wurden«.
Die Aktivität dieser heiligen Zwischenträger war unentbehrlich, um den Kosmos im Gleichgewicht zu halten. Die Mesopotamier glaubten, die Götter hätten sich die Menschen zu Sklaven erschaffen und die kosmische Ordnung würde gefährdet, wenn diese die Götter nicht mit Speisen (Opfern) und Wohnstätten (Tempeln) versorgten. Die Azteken waren dafür berüchtigt, dass sie ihren geweihten Opfern das noch schlagende Herz herausschnitten und dem Sonnengott opferten, um ihn auf seiner himmlischen Umlaufbahn zu halten; großes Unglück werde sich ereignen, falls er vom vorgesehenen Pfad abkam. Kurz gesagt kannten die Gesellschaften bis zur Achsenzeit im Allgemeinen eine Unterscheidung noch nicht, die uns heute selbstverständlich ist: die Trennung von religiöser und weltlicher Autorität. Sie glaubten, ihnen selbst komme eine wichtige Rolle in der Erhaltung der kosmischen Harmonie zu.
Mit der achsenzeitlichen Revolution wurde das anders. Sie formulierte neue Visionen der kosmischen und moralischen Ordnung, und dazu gehörte auch eine neue Beziehung zwischen dem Heiligen und jedem einzelnen Menschen. In der Tat brachte diese Beziehung erst das hervor, was wir heute »Individuum« nennen. Anstatt sich nur vermittelt durch einen Priesterkönig auf Transzendentes zu beziehen, hat seither jede und jeder eine eigene persönliche Beziehung zu Gott, Brahman oder dem Dao. In der Sprache des Buddhismus haben wir alle dieselbe Grundnatur wie der Buddha, und das bedeutet, wir haben dasselbe Potenzial zu erwachen. Zugleich ist damit ein Kreis der Empathie entstanden, dem alle angehören, die eine gleich gelagerte Beziehung mit dem Heiligen haben.
Der revolutionärste Aspekt dieser neuen Beziehung war ein spiritueller Anspruch, eine Erwartung, dass man sich selbst wandelt. Es genügte nicht mehr, die sozialen Pflichten zu erfüllen, indem man die hochheilige Rolle des Herrschers stützte. Das Transzendente verlangte von jedem Individuum, selbst Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen. In den abrahamitischen Traditionen (vor allem im Judentum, Christentum und Islam) bestand dies vor allem in der ethischen Forderung, im Einklang mit Gottes Geboten zu leben. Hier ist aber zu beachten, dass dieser Anstoß, sich zu wandeln, von etwas außerhalb der Welt herrührt – und damit geht unvermeidlich eine gewisse Abwertung dieser Welt einher. Wenn Gott die Quelle alles Guten, allen Sinns und Wertes ist, dann folgt daraus doch wohl, dass es dieser Welt selbst daran mangelt. Und wenn das Aufhören der Wiedergeburt der Weg ist, Leiden, Begierde und Verblendung zu beenden, dann sind diese Gebrechen wohl zwangsläufig dieser Welt des Samsara eigen.
Zu einem Gott im Jenseits zu beten ist, als würde man durch Glas küssen.
Paul West
Im Gegensatz zur ethischen Ausrichtung (Gut versus Böse) der abrahamitischen Religionen betonten indische Überlieferungen eine kognitive Erkenntnis (Verblendung versus Erleuchtung)