ausgerichtet, dass reines Bewusstsein von der materiellen Welt getrennt ist. Brahman, den Vedanta-Traditionen zufolge tiefster Seinsgrund, wurde zunehmend als grundverschieden von den besonderen Manifestation oder Formen, die man in dieser Welt erfährt, verstanden. Die Weisen verschwenden keine Zeit damit, eine letztlich unwirkliche Wirklichkeit zu reparieren. Erwachen heißt Erkennen oder Verwirklichen des wirklich Wirklichen, und das ist etwas anderes als dessen Erscheinungen.
»Gib mir einen festen Punkt, und ich hebe die Welt aus den Angeln«, soll Archimedes gesagt haben. Historisch gesehen übte (unser Glauben an) Transzendenz eine solche Hebelwirkung aus. Sie bot den reflektiven Abstand – einen »höheren« Standpunkt –, der nötig ist, um sich selbst zu beurteilen und ändern zu können. Politisch hielt man es ebenso: Die Griechen wandten ihr neu entdecktes philosophisches Denken (eine andere Art Transzendenz) an, um ihre Gesellschaften kritisch einzuschätzen und umzustrukturieren; das berühmteste Beispiel ist die athenische Demokratie. In freier Übertragung einer These von Ernest Renan zum Übernatürlichen ist Transzendentes die Art und Weise, wie Ideales in menschlichen Belangen in Erscheinung tritt. Martin Luther glaubte beispielsweise, er gehorche Gottes Willen und dürfe deshalb auch die gewaltige Autorität und Macht der Kirche herausfordern. So schlug er seine fünfundneunzig Thesen an eine Kirchentür und erklärte: »Hier stehe ich. Ich kann nicht anders.« Die heutige Welt mitsamt unserer Sorge um Demokratie, Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit wäre gar nicht denkbar ohne die in der Achsenzeit entwickelte Vorstellung von einer höheren, überwachenden »Anderwelt«.
Achsenzeitliche Denker … schufen alternative Ideologien, um gegen Herrschaft und Politik anzugehen und zu protestieren. Sie entwickelten moralische und rechtliche Systeme jenseits der vorherrschenden Militär- und Gesellschaftsstrukturen ihrer Zeit. Diese Systeme kritisierten den Status quo und boten ethische und oft auch religiöse Wahlmöglichkeiten, die in menschlichen Werten wie persönlicher Verantwortung gegenüber anderen, Güte, Tugend, aktivem Mitgefühl, Gerechtigkeit, Weisheit und Rechtschaffenheit wurzelten. Diese Relativierung des Staates und seiner Kulte brachte die menschliche Subjektivität und persönliche Moral zurück ins Zentrum der Religion.
Rita Nakashima Brock und Susan Brooks Thistlethwaite
Nichtsdestotrotz erwies sich die Vorstellung von einer anderen und besseren Welt für die einzelnen Achsenzeit-Traditionen auch als problematisch. Der Dualismus zwischen dem Transzendenten und dieser Welt wiederholte sich nun in uns zwischen unserem »höheren« Teil (der Seele, der Vernunft), der sich nach Erlösung aus diesem Jammertal sehnt, und dem »niederen«, erdgebundenen Teil (unserem Körper mit seinen Emotionen und Bedürfnissen). Neuere westliche Versionen dieser Hinterlassenschaft der Achsenzeit sind der Geist-Körper-Dualismus von René Descartes, dem ersten Philosophen der Neuzeit, sowie die Phantasien zeitgenössischer »Transhumanisten« über die Vermeidung des Todes durch Speicherung des Bewusstseins auf Silicon-Chips.
Zweitausend Jahre lang lebten die Menschen in einem toten oder sterbenden Kosmos und hofften auf einen Himmel danach. Und alle Religionen waren Religionen des toten Körpers und der aufgeschobenen Belohnung.
D. H. Lawrence
Das Beispiel des Transhumanismus verweist auf das Problem, das uns nach einer »höheren« Wirklichkeit suchen lässt: Wie auch der Buddha betonte, ist diese Welt ein Ort von Kummer und Tod. Ein Großteil der Anziehungskraft achsenzeitlicher Religionen, einschließlich des Buddhismus, liegt darin, dass sie anscheinend einen Ausweg aus der Sterblichkeit bieten. Todesfurcht erklärt auch unser Grauen vor und unsere Abwertung der Natur, der Tierwelt, Körperlichkeit, Sexualität und der Frauen (deren Blutungen daran erinnern, dass wir wie andere Säugetiere empfangen und geboren werden). Wir wollen nicht vom Stoff der Erde sein, weil wir nicht wie andere Tiere zugrunde gehen wollen. Wir möchten unsterbliche Seelen sein, die ein Anrecht auf den Himmel haben – oder auch Nicht-Selbste, die das Nirvana erlangen können! Es ist kein Zufall, dass all die spirituellen Überlieferungen der Achsenzeit – der Buddhismus eingeschlossen – auch patriarchalisch waren: Die Hierarchie zwischen höheren und niederen Welten wiederholte sich in der Überordnung der Männer über die Frauen.
Der männliche Körper wird zum Werkzeug der Herrschaft und Kontrolle. … Der weibliche Körper wird zu einem Symbol, auf das Männer projizieren und an dem sie verschiedene Vorstellungen von Sexualität, Geburt, physischer Existenz und Intimität ausagieren.
Brock und Thistlethwaite
Das erinnert an den untergeordneten Status von Frauen, wie er in allen abrahamitischen Überlieferungen institutionalisiert ist, aber Buddhisten sind kaum berechtigt, den ersten Stein zu werfen. Manch ein Abschnitt im Palikanon drückt Abscheu gegenüber dem weiblichen Körper aus, während andere Geschichten nahelegen, dass der historische Buddha auch in dieser Hinsicht freier war als die Organisationen, die später zur Erhaltung und Übung seiner Lehren entstanden. Doch die untergeordnete Stellung ordinierter Frauen in buddhistischen Gesellschaften und der institutionelle Widerstand in fast jedem asiatischen Land (mit der bemerkenswerten Ausnahme von Taiwan), die volle Ordination von Frauen wiederherzustellen, zeigt, dass das Patriarchat weiterhin ein tief eingefleischtes Problem traditioneller buddhistischer Kulturen ist.
Die achsenzeitliche Sicht, dass jedes Individuum eine persönliche Beziehung zur Transzendenz hat, hatte auch Folgen in Richtung Demokratie. Von wenigen Ausnahmen abgesehen (wie einer kurzen, unvollständigen im antiken Athen), entfalteten sich entsprechende Möglichkeiten aber erst in der Neuzeit. Bis dahin diente die hierarchische Ordnung einer höheren Wirklichkeit über der Menschenwelt auch als Vorbild, ungleiche Gesellschaftsstrukturen zu reproduzieren und zu rechtfertigen. Religion wurde Brock und Thistlethwaite zufolge »oft metaphorisch und mythisch in Anspruch genommen, um Macht innerhalb ihrer eigenen Systeme zu strukturieren. Hierarchische Bilder totalitärer Macht wurden in Symbole der Güte umgedeutet.«
Heute sind wir zunehmend mit einer weiteren Hierarchie von Herrschaft und Privilegien konfrontiert, nämlich jener zwischen homo sapiens sapiens und (dem Rest) der natürlichen Welt. Der achsenzeitliche Dualismus zwischen höheren und niederen Welten hat sich auch in der Entfremdung zwischen dem Kollektiv-Ego der Menschheit und der übrigen Biosphäre, die an den Folgen unserer institutionalisierten Gier und Ausbeutung leidet, nachgebildet. Der rasante Klimawandel – inzwischen nicht mehr nur eine zukünftige Möglichkeit – verlangt von uns, eine neue Beziehung zu finden, die unsere Nichtdualität mit und unsere Verantwortung für die Erde anerkennt, die ja nicht nur unsere Heimat, sondern auch unsere Mutter ist. Im dritten Teil werden wir die auffallenden Parallelen zwischen unserer immerwährenden individuellen Notlage – dem verblendeten Glauben an ein von anderen getrenntes Selbst – und unserer aktuellen kollektiven Not im Verhältnis zur Biosphäre betrachten.
Dieser dreifachen axiologischen Kritik am kosmologischen Dualismus – bedrückende Machtgefälle zwischen Männern und Frauen, Herrschern und Untertanen sowie zwischen der Menschheit und dem Rest der Natur – muss man noch die von den Naturwissenschaften gebotene kritische Perspektive hinzufügen. Die Erklärungsmacht und der Erfolg der Wissenschaften sind die größte Herausforderung für jeden religiösen Glauben an eine transzendente Welt jenseits der unsrigen. Heutzutage liegt das größte Problem derartiger Dualismen natürlich darin, dass die in der modernen Welt am höchsten geachtete Erkenntnisquelle nichts entdeckt hat, was einen solchen Glauben stützt. Früher lebte Gott im Himmel über den Wolken, heute aber haben wir andere Vorstellungen von den Gefilden über und jenseits der Erdatmosphäre.
Zusammengenommen widerlegen diese Einschätzungen nicht die Möglichkeit einer Wirklichkeitsdimension, die diese Welt transzendiert, sie regen uns aber an, diese Version einer begrifflichen Formulierung der buddhistischen Erfahrung des Erwachens kritisch zu befragen. Man kann die Schlussfolgerung kaum vermeiden, dass der achsenzeitliche Typ der Transzendenz, so wertvoll er geschichtlich war, dem nicht mehr gerecht wird, was wir heute wissen. Achsenzeitliche Vorstellungen dienten als symbolische Hebel, uns aus dem Eingebettetsein vorachsenzeitlicher Gesellschaften zu befreien; heute müssen wir von ihren Dualismen frei werden, denn sie haben ausgedient. Gibt es ein anderes Paradigma, das – ohne gleichzeitige Abwertung dieser Welt – die transformierende Hebelkraft: liefern könnte, die wir weiterhin brauchen?
DAS