Begriff Neurodiversität tauchte erstmals in den späten 1990er-Jahren auf und wurde von der Soziologin Judy Singer geprägt. Sie verglich die Akzeptanz verschiedener Denkweisen mit anderen Formen der sozialen Akzeptanz und hoffte, „für neurologisch unterschiedlich geprägte Menschen das zu tun, was der Feminismus und die Schwulenrechte für ihre Wählerschaft getan hatten.“3 Oberflächlich betrachtet scheint dies ein hehres Ziel zu sein – was kann denn falsch daran sein, sich für Akzeptanz einzusetzen? In der Zeitschrift Wired untersuchte Silberman die soziale Revolution, von der er glaubte, dass sie Realität werde, da Fürsprecher mit Autismus und „andere Andersdenkende die Regenbogenfahne der Neurodiversität hissen, um die Gesellschaft zu ermutigen, kognitive Unterschiede zu schätzen und zu zelebrieren, während sie angemessene Vorkehrungen in Schulen, Wohnungen und am Arbeitsplatz fordern.“4
Silbermans Botschaft entsprach den Bedürfnissen der sozialen Agenda der Medien, Autismus als etwas Normales zu betrachten, und stieß damit sowohl in elitären Kreisen als auch bei denjenigen, die Impfstoffschäden radikal bestreiten, auf Resonanz. Silberman, der in vielen bekannten Publikationen (Forbes, Washington Post, New York Times, The Economist und New Yorker, um nur einige zu nennen) vorgestellt wurde, gewann 2015 den Samuel-Johnson-Preis für Sachbücher. Eine Rezension in The Atlantic lobte Silbermans Buch und vermerkte, dass Befürworter des Autismus „Platz für jeden machen, der sich nicht ganz normal fühlt“.5
Silberman ging noch einen Schritt weiter, indem er das Überleben unserer Spezies an unsere Fähigkeit knüpfte, die neurologische Vielfalt zu akzeptieren. Er erklärte: „Der Nutzen der biologischen Vielfalt ist die Resilienz: die Fähigkeit, wechselnden Bedingungen standzuhalten und Angriffen von Feinden zu widerstehen. In einer Welt, die sich schneller als je zuvor verändert, ist die Anerkennung und Förderung der Neurodiversität die beste Chance der Zivilisation, in einer ungewissen Zukunft erfolgreich zu sein.“6
Ich bin bald 50 Jahre alt und als Kind hatte ich noch nie einen Gleichaltrigen mit Autismus gesehen oder von ihm gehört. Sie können jeden Lehrer, Arzt, Krankenpfleger oder Trainer fragen, der seit 30 Jahren oder länger arbeitet, und Sie bekommen immer dasselbe zu hören: Heute geschieht mit Kindern etwas Neues und ganz Anderes. Meine Kinder im Teenageralter kennen Dutzende autistische Kinder, und die Schulen platzen aus allen Nähten mit Sonderschulklassen. Betrachtet man die Grafik, die zeigt, wie sich die Autismusquote im Laufe der Zeit verändert hat, ist das wirklich erstaunlich (siehe Abbildung 1.1). Als ich zum ersten Mal hörte, dass einige Forscher, Wortführer und Experten behaupteten, die gestiegene Anzahl der Kinder mit Autismus sei nur eine Täuschung und dass es diese Kinder schon immer gab, konnte ich es nicht ernst nehmen.
Abb. 1.1: Anstieg der Autismusquote seit 1970 (um das 277-fache), Daten von: Treffert et al., Centers for Disease Control and Prevention.
Eine einfache Frage widerlegt diese Erzählung: „Wo sind all die Erwachsenen mit Autismus?“ Wenn Silbermans Version der Geschichte plausibel wäre, müssten fast drei Prozent der amerikanischen Erwachsenen deutliche Anzeichen von Autismus aufweisen. Lassen Sie uns das schnell durchrechnen: 54 Prozent der US-Bevölkerung sind über 35 Jahre alt, das sind ungefähr 174 Millionen Menschen. Wenn einer von 36 dieser Erwachsenen Autismus hätte, wären das 4,8 Millionen amerikanische Erwachsene mit Autismus – 4,8 Millionen Erwachsene über 36 Jahre, die an einer Behinderung leiden, die ein unabhängiges Leben für alle – bis auf die mildesten Fälle – zu einer Herausforderung macht.
Robert F. Kennedy Jr., ein Umweltaktivist und Anwalt, hat oft über den Mangel an Erwachsenen mit Autismus gesprochen und das jahrzehntelange Engagement seiner Familie an den Special Olympics angeführt. Er sagt, dass es bei dieser Veranstaltung nie Teilnehmer mit Autismus gab. Er fragte (im Jahr 2017, als die Autismusquote bei 1:45 lag): „Warum sieht man nicht einen von 45 älteren Menschen im Shopping-Center herumlaufen, warum trägt nicht einer von 45 Menschen Windeln und einen Football-Helm und hat Anfälle, schlägt mit dem Kopf auf den Boden oder leidet unter Stimming?“7 (Stimming, kurz für self-stimulating behaviour, meint ein sich selbst stimulierendes Verhalten, z. B. motorische Handlungen wie Händeflattern, Wippen etc., Anm. d. Übers.)
Es gibt keine Daten, die eine Zahl von 4,8 Millionen Erwachsenen belegen, die an Autismus leiden. Um so viele Personen unterzubringen, müsste es Pflegeheime, Gruppenheime und psychiatrische Anstalten geben, die mit autistischen Erwachsenen überfüllt wären. Die besten Daten, die ich über Unterkünfte für Erwachsene mit Behinderungen finden konnte, stammen aus Kanada, wo ein föderales Gesundheitssystem dafür sorgt, dass sich die Daten besser nachvollziehen lassen. In Kanadas größter Provinz, Ontario, leben 13,6 Millionen Menschen; 7,34 Millionen Menschen sind Erwachsene über 35 Jahre, was bei einer Quote von 1:36 folglich 204.000 Erwachsene mit Autismus bedeuten würde. Und wie viele Gruppenunterkünfte bietet Ontario für Erwachsene mit allen möglichen Entwicklungsstörungen an? 18.000.8 Bedenken Sie, dass Autismus nur eine Form der Entwicklungsstörung ist und weit weniger als die Hälfte aller Fälle ausmacht. Ontario hat nicht mehr Betten zur Verfügung, weil (noch) nicht mehr Betten benötigt werden – es gibt bei Weitem nicht so viele autistische Erwachsene. Tatsächlich werden in Ontario 42.000 Erwachsene mit allen möglichen Behinderungen versorgt und wenn, grob gerechnet, Autismus die Hälfte dieser Zahl ausmacht, gibt es 90 % der Erwachsenen mit Autismus in Silbermans Welt, die in Ontario „fehlen“ (20.000 dort gegenüber 200.000), weil sie nicht existieren.
Sollte diese einfache Mathematik nicht ausreichen, Sie zu überzeugen, verweise ich auf ein 2017 erschienenes Buch, das meiner Meinung nach den Protagonisten, die eine Autismus-Epidemie bestreiten, das entsprechende Kontra bietet: Denial: How refusing to face the facts about our autism epidemic hurts children, families, and our future wurde von Dan Olmsted, einem ehemaligen investigativen Journalisten und Chefherausgeber von UPI, und dem Harvard-MBA Mark Blaxill, selbst Vater eines autistischen Kindes, geschrieben. Anscheinend hatten die Autoren ähnliche Bedenken, ein ganzes Buch über ein Thema zu schreiben, das von den meisten Menschen hoffentlich als Mumpitz betrachtet wird. Die Autoren bemerkten, dass „ein Teil unserer persönlichen Herausforderung als Elternteil mit autistischem Kind sowie als Gesundheitsjournalist darin besteht, die ‚Vorstellung‘ [dass es keine echte Autismus-Epidemie gibt] ernst genug zu nehmen, um sie gründlich zu entlarven, und nicht nur darauf zu warten, dass die Geschichte diesem Unsinn den Garaus macht, wie es schließlich auch der Fall sein wird.“9
Olmsted und Blaxills Buch ist so scharfsinnig und so klar und bringt Silbermans gesamte These zum Einsturz (die Autoren widmen viele Kapitel Silbermans Buch Geniale Störung, um es zu widerlegen), dass ich mich bemühen werde, dem Buch in einem einzigen Kapitel gerecht zu werden. Ich kann Ihnen einige ausgewählte Passagen aus dem Buch anbieten, die meines Erachtens allein dafür stehen, die Verleugnung der Autismus-Epidemie als abwegig zu betrachten:
Die Bestreitung einer Autismus-Epidemie ergibt keinen Sinn. Nehmen Sie die US-Bevölkerung von 124 Millionen im Jahr 1931 – das Jahr, in dem das älteste Kind in diesem ersten Bericht über Autismus geboren wurde – und dividieren Sie diese Zahl durch die gegenwärtige Autismusprävalenz von 1 zu 68 Kindern [Anmerkung: heute ist es 1 von 36]. 1931 hätte es 1,8 Millionen Amerikaner mit Autismus geben müssen, gab es aber nicht. Wir haben die medizinische Literatur nach Fällen aus der Zeit davor durchforstet und es sind im Wesentlichen keine zu finden.10
Sie gehen in ihren Berechnungen auch bis zum „Anbeginn der Zeit“ zurück, was es noch schwieriger macht, die Behauptung von Silberman und anderen zu akzeptieren:
Gehen wir noch etwas weiter zurück: Wie viele Menschen haben je auf der Erde gelebt? Etwa 100 Milliarden bis 1931. Auch hier lässt sich leicht errechnen, dass es etwa anderthalb Milliarden autistische Menschen gab, die vor 1930 gelebt haben. Jetzt beginnen wir, die Gehaltlosigkeit hinter den Behauptungen Silbermans, des Bestreiters der Epidemie, zu erahnen. Es mag einzelne Personen mit genügend Merkmalen gegeben haben, die für eine Autismusdiagnose infrage kamen, aber 1,5 Milliarden wären