durch die einzelnen Unterkapitel im Blick auf ihre ganze Reichweite noch differenzierter verstanden werden können. Die jeweiligen kurzen Zusammenfassungen am Ende der Kapitel stellen vor allem einen Diskussionsvorschlag dar und sollen zu eigenen, auch abweichenden Wahrnehmungen anregen. Es handelt sich bewusst um ein Arbeitsbuch und nicht im strengen Sinne um ein Lehrbuch mit abgepackten und einfach zu reproduzierenden Wissenspositionen.
Wichtiger Hinweis: Die in Klammern gesetzten Seitenangaben im Text beziehen sich auf die Literaturangabe in der jeweils letzten unmittelbar vorausgehenden Anmerkung. Im Fall von unvollständigen Literaturangaben in den Anmerkungen finden sich die vollständigen bibliographischen Hinweise im Verzeichnis der ausgewählten Literatur am Schluss des Arbeitsbuches.
Mein Dank für stets verlässliche Unterstützung dieses Projektes gilt Karen Lutz, Ulrike Scholz und Holger Domas als meinen MitarbeiterInnen am Lehrstuhl und dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, vornehmlich Ulrike Gießmann-Bindewald und Jörg Persch für die kompetente und professionelle Begleitung.
Bochum, im Juli 2010
Michael Weinrich
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§ 1 Annäherungen an den neuzeitlichen Religionsbegriff
1. Ein grundlegender Bedeutungswandel
Wenn wir heute den Begriff „Religion“ in einer sehr allgemeinen Bedeutung verwenden, unter den sich recht verschiedene Phänomene fassen lassen, so geht das auf einen Bedeutungswandel zurück, der sich sachlich vor allem im 17. Jahrhundert vollzogen hat. Der historische Grund für die Entstehung des neuzeitlichen Religionsbegriffs liegt vor allem in den teilweise unerbittlichen nachreformatorischen Aggressivitäten zwischen den Konfessionen. Unterschiedliche Wahrheitsansprüche standen sich gegenüber oder prallten weithin unversöhnlich aufeinander. Die konfessionellen Antagonismen gefährdeten den inneren und äußeren Frieden, was sich in besonders drastischer Ausprägung in den Konfessionskriegen zeigt, aber weit darüber hinausgeht. Die überkommene enge Verknüpfung von Religion und Wahrheit ließ sich nicht weiter festhalten. Vielmehr wurden an das Religionsverständnis neue Ansprüche gestellt, die den gegeneinander stehenden Wahrheitsansprüchen übergeordnet wurden. Der dafür verwendete, nun konfessionsübergreifend verstandene, zum Oberbegriff gewordene Religionsbegriff entspringt gleichsam dem Friedensbedürfnis gegenüber den von der nachreformatorischen Konfessionalisierung ausgegangenen Gefährdungen. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn der allgemeine Religionsbegriff seinen Ursprung weniger in der Theologie als vielmehr in der modernen Staatsphilosophie (→ § 2,2 Hobbes) hat.
1.1 Religio – das vorneuzeitliche Religionsverständnis
Zur Unterscheidung vom neuzeitlichen Religionsbegriff verwenden wir für das bis dahin geltende Religionsverständnis den lateinischen Begriff religio. Der Blick in ein Wörterbuch instruiert über die beiden Hauptbedeutungen dieses Begriffs. Sie lassen sich einerseits auf „Bedenken, Gewissenhaftigkeit, Gottesfurcht“ und andererseits auf „Gottesdienst, Kultus, Heiligkeit“ konzentrieren. Darin deuten sich die beiden für unseren Zusammenhang bedeutungsvollen Dimensionen der Verwendung des Begriffs religio an:1
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1. Das Verständnis von religio war stets mit einem bestimmten Glaubensverständnis und dem damit verbundenen Wahrheits- und Legitimitätsanspruch verbunden. Es wurde zwischen ‚wahrer Religion‘ (religio vera) und ‚falscher Religion‘ (religio falsa) in Sinne einer Grenzziehung zwischen rechter und verkehrter Gottesverehrung unterschieden. In diesem Sinne steht religio für eine anzuerkennende Glaubensgewissheit (synonym gebraucht mit fides). Wenn Martin Luther schreibt: Extra Christum omnes religiones sunt idola2 (Jenseits von Christus sind alle religiones Götzendienst), so liegt der Akzent auf den Vollzügen der Gottesverehrung. Religio wird synonym zu cultus gebraucht. Aller Kult sei so lange zu verdammen, wie er sich nicht allein auf den Glauben an Christus stützt.3 – Kommen andere Glaubensgewissheiten in den Blick, so wurden als Oberbegriffe vor allem secta oder lex verwandt. Von den drei Religionen Judentum, Christentum und Islam wurde als den tres leges gesprochen – ein Sprachgebrauch, der bis in Gotthold E. Lessings Nathan der Weise nachgewirkt hat, wo es heißt: „Was für ein Glaube, was für ein Gesetz / Hat dir am meisten eingeleuchtet?“4
2. Mit religio wurde in institutionellem Gebrauch derjenige Stand bezeichnet, der seiner beruflichen Bestimmung nach die rechte Gottesverehrung repräsentierte, nämlich die Orden.
Noch für die Reformationszeit ist von diesen beiden Gebrauchsweisen von religio auszugehen. So stellt etwa Huldrych Zwingli seine grundlegenden Einsichten über den reformatorischen Glauben unter den Titel De vera et falsa religione commentarius (1525). Das gilt ebenso für die deutlich umfänglichere Dogmatik von Johannes Calvin mit dem Titel Institutio christianae religionis (Unterricht in der christlichen Religion; letzte Fassung 1559). Es geht allein um die (reine) Lehre ([sana] doctrina) zur rechten Verehrung Gottes nach dem christlichen Glauben, ohne dass Calvin dabei auf die Idee gekommen wäre, eine interkonfessionelle oder gar interreligiöse Dimension ins Auge zu fassen. Die älteste Verteidigungsschrift des christlichen Glaubens, die religio im Titel führt, stammt von Augustin (um 390): De vera religione.
Die Etymologie von religio lässt sich nicht eindeutig bestimmen. Der Religionswissenschaftler Carsten Colpe schreibt: „Das lat. Wort religio wird schon von den Alten verschieden abgeleitet, z. B. von Cicero (De natura Deorum 2, 28, 72) von relegere‚ (wieder)zusammennehmen (was sich auf die Verehrung der Götter bezieht)‘; und von einem beim Grammatiker Gellius (4, 9, 1) zitierten Etymologen von der Nebenform religere ‚rücksichtlich beachten‘; dagegen von Servius (ad Verg. Aen. 8, 349), Lactantius (Inst. 4,28) und Augustinus (Retract. 1, 13,9) von religare ‚zurückbinden, an etwas befestigen‘. Moderne Etymologen neigen der letzteren Ableitung zu (Wurzel lig- ‚binden‘); religio bedeutet dann ursprünglich dasselbe wie obligatio, nämlich ‚Verbindlichmachung, Verpflichtung‘. Daneben wird aber auch die Ableitung von leg- ‚sich kümmern um‘ vertreten; dann wäre religio etwas Ähnliches wie diligentia ‚Achtsam-keit‘. “5 Andere Religionswissenschaftler verzichten ganz auf eine Herleitung des Begriffs, nicht nur weil sie sich nicht tatsächlich klären lässt. Sie weisen darauf hin, dass eine inhaltliche |12◄ ►13| Ableitung den problematischen Eindruck erwecken könne, der Begriff lasse sich auch in nichteuropäische Sprachen übersetzen, um dann zur Selbstbezeichnung entsprechender Inhalte empfohlen zu werden. Die Reichweite des Religionsbegriffs wird dann ausdrücklich auf die europäische Religionsgeschichte begrenzt.6
1.2 Die Entdeckung des Menschen – der Renaissance-Humanismus
Eine fundamentale Voraussetzung sowohl für die Neuzeit als auch für das neuzeitliche Religionsverständnis liegt in der Entdeckung der besonderen Herausgehobenheit und somit des von Gott ausgezeichneten Adels des Menschen, wie sie sich im Humanismus der Renaissance vollzogen hat. Die verschiedentlich vorgetragene Annahme, dass es bereits hier zu einer verallgemeinernden Neufassung des Religionsverständnisses gekommen sei, ist zwar nahe liegend, lässt sich aber nicht tatsächlich ausreichend belegen.7 Aber zweifellos kommt es im Humanismus zu Weichenstellungen, ohne die der allgemeine neuzeitliche Religionsbegriff nicht denkbar ist. Dies gilt vor allem für den mit Pathos vorgetragenen Aufbruch zu einem grundlegend neuen Selbstbewusstsein des Menschen.
Verstand sich der Mensch bisher als hineingestellt in eine fest gefügte, Gott gegebene Ordnung, so tritt er nun aus diesem Gefüge hervor und beansprucht die Freiheit zu eigener Gestaltung seiner Wirklichkeit. Es verbreitet sich ein Überdruss an den nur noch mühselig nachzuvollziehenden Entwicklungen der scholastischen Theologie des Spätmittelalters, die sich immer mehr in Detailfragen verlor oder eben ein spekulativ konstruiertes Wirklichkeitsverständnis propagierte, das sich nicht mehr mit den Erfahrungen der Menschen plausibel vermitteln ließ. Im Rahmen der zunehmenden Verrechtlichung der Kirche, die durch die Anzeichen des Humanismus dann noch beschleunigt wurde, verschärfte sich die Betonung der zu bewahrenden Tradition. Das führte zu einer rückwärtsgewandten Formalisierung der Autorität der Kirche, die sich einer rapide anwachsenden Kritik gegenübergestellt sah.
Gegen