Michael Weinrich

Religion und Religionskritik


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Durchdringung der den Menschen betreffenden Fragen an die Stelle der mythischen und symbolischen Erfassungsversuche der Weltwirklichkeit trat (Demokrit: „Der Mensch ein Kosmos im kleinen.“8), zu einer selbstbewussten Entdeckung des Menschen in seiner Gottebenbildlichkeit. Während in der Antike die hervorgehobene Anthropologie bis zur ausdrücklichen Kritik des Gottesglaubens reichte (→ § 4,2.1), gestaltete sich ihre Wiederentdeckung im Humanismus in einer teilweise massiven Kirchenkritik.

      Im Humanismus wurde vor allem immer wieder der Vorwurf des Götzendienstes |13◄ ►14| erhoben. Petrarca, Boccaccio, Michelangelo, Raffael, Budé, Reuchlin oder Erasmus von Rotterdam heben gegenüber den Gängelungen von Seiten der Kirche die im Menschen liegenden Begabungen hervor. Dabei steht die über die Natur erhobene Freiheit im Zentrum, die den Menschen dazu befähigt und auch autorisiert, die Welt zu gestalten und zu beherrschen. – Das Epochejahr 1492 symbolisiert dabei sowohl den gefeierten Aufbruch (Entdeckung Amerikas, die Konstruktion des ersten Globus von Martin Behaim) als auch die Ambivalenz des für sich selbst in Anspruch genommenen Pathos (Beginn des Kolonialismus, Vertreibung der Juden aus Spanien).

      Giovanni Pico della Mirandola (1463 – 1494) war von der Idee durchdrungen, dass es eine fundamentale Übereinstimmung zwischen Philosophie und recht verstandener Glaubenslehre gebe. Er befand sich im permanenten Konflikt mit der Kirche, wurde aber kurz vor seinem Tod rehabilitiert.

      In das Epochejahr 1492 fällt möglicherweise auch eine wirkungsgeschichtlich bedeutungsvolle Schrift (Datierung bleibt unsicher, wahrscheinlich allerdings erst posthum 1496) des italienischen Humanisten Giovanni Pico della Mirandola mit dem Titel De hominis dignitate (Über die Würde des Menschen) – „eines der edelsten Vermächtnisse“ der Renaissance.9 Diese Schrift soll als Exemplum der „dignitas-hominis“-Literatur ein Licht auf den Neuaufbruch des Humanismus werfen. Pico verstand sich zutiefst im Einklang mit dem christlichen Bekenntnis, wenn auch nicht mit der offiziellen Lehrmeinung der Kirche. Mit Hilfe des biblischen Motivs der Gottebenbildlichkeit sollte der Mensch auf seine eigenen Füße gestellt werden. Die traditionelle Kosmozentrik der Theologie soll in eine Anthropozentrik überführt werden. Dem Menschen werden bisher kaum geahnte Freiheiten zugesprochen und zwar von Gott selbst, der dem Menschen die Welt in seine Hände gelegt habe. Die traditionell dominierende Lehre der Sünde tritt in den Hintergrund. An ihre Stelle tritt der triumphierende Christus, durch den die menschliche Seele erhoben wird. Nicht die Stimmigkeit mit der überkommenen theologischen Lehre steht im Vordergrund, sondern die praktische Lebendigkeit des Glaubens. All dies sind Elemente, die später von der Aufklärungstheologie aufgenommen und weitergeführt werden. Lassen wir Pico selbst zu Worte kommen:

      Also war er [Gott] zufrieden mit dem Menschen als einem Geschöpf von unbestimmter Gestalt, stellte ihn in die Mitte der Welt und sprach ihn so an: ‚Wir haben dir keinen festen Wohnsitz gegeben, Adam, kein eigenes Aussehen noch irgendeine besondere Gabe, damit du den Wohnsitz, das Aussehen und die Gaben, die du selbst dir ausersiehst, entsprechend deinem Wunsch und Entschluß habest und besitzest. Die Natur der übrigen Geschöpfe ist fest bestimmt und wird innerhalb von uns vorgeschriebener Gesetze begrenzt. Du sollst dir deine ohne jede Einschränkung und Enge, nach deinem Ermessen, dem ich dich anvertraut habe, selber bestimmen. Ich habe dich in die Mitte der Welt gestellt, damit du dich von dort aus bequemer umsehen kannst, was es auf der Welt gibt. Weder haben wir dich himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich geschaffen, damit du wie dein eigener, in Ehre frei entscheidender, schöpferischer Bildhauer dich selbst zu der Gestalt ausformst, die du bevor-zugst.|14◄ ►15| Du kannst zum Niedrigeren, zum Tierischen entarten; du kannst aber auch zum Höheren, zum Göttlichen wiedergeboren werden, wenn deine Seele es beschließt.‘10

      Gott hat dem Menschen alle Möglichkeiten gegeben, nun aber muss er selbst zusehen und daraus etwas machen. Er kann sich verfehlen, nicht nur bis zum Tier, sondern bis hin zur Pflanze, aber er kann sich eben auch erheben und unmittelbar neben Gott platzieren. Ein ungeheurer Optimismus spricht aus den Formulierungen:

      Wenn du nämlich einen Menschen siehst, der seinem Bauch ergeben auf dem Boden kriecht, dann ist das ein Strauch, den du siehst, kein Mensch; wenn einen, der blind in den nichtigen Gaukeleien der Phantasie ... verfangen, durch verführerische Verlockungen betört und seinen Sinnen verfallen ist, so ist das ein Tier, das du siehst, kein Mensch. Wenn einen Philosophen, der in rechter Abwägung alles unterscheidet, kannst du ihn verehren: er ist ein himmlisches Lebewesen, kein irdisches. Wenn du aber einen reinen Betrachter siehst, der von seinem Körper nichts weiß, ins Innere seines Geistes zurückgezogen, so ist der kein irdisches, kein himmlisches Lebewesen; er ist ein erhabenes, mit menschlichem Fleisch umhülltes göttliches Wesen. (9)

      Die Anstürme der Leidenschaft wollte Pico mit Hilfe der „Morallehre ... zügeln“ (15), um „die Streitlust des Löwen“ in uns zu besänftigen (19). Er weiß um die Ambivalenz der Vernunft, die sowohl zum Guten, aber auch auf verderbliche Wege leiten kann, und erhofft sich deshalb von der Moral einen haltbaren Frieden. Nicht die Philosophie vermag hier wirklich Ruhe zu bringen, weil auch von ihr der Wettstreit befördert wird, „sondern dies sei Aufgabe und Vorrecht ihrer Herrin, der heiligen Theologie“ (19). Gegen die ordnungspolitische Verwaltung des Glaubens von Seiten der zeitgenössischen Kirche stellt Pico in seiner Anthropologisierung der Theologie entschieden die humanisierende Seite des Glaubens heraus.

      1.3 Ansätze zu einem neuen Verständnis

      Es kann überall da von Ansätzen für ein tatsächlich neues Verständnis von religio gesprochen werden, wo sich die bisher charakteristische Bindung an eine bestimmte Wahrheit, einen bestimmten Glauben bzw. eine bestimmte Gottesverehrung zugunsten eines neutraleren, verschiedene Glaubensrichtungen übergreifenden Verständnisses zu lockern beginnt. Die ersten Belege, die in diese Richtung weisen, finden sich im 17. Jahrhundert. Es lässt sich kein klarer Schnitt ausmachen, sondern der Übergang vollzieht sich eher schleichend, auch wenn mit dem Grad der Veränderung die Entschlossenheit zu einer Neufassung des Religionsverständnisses wächst.

      Den ausschlaggebenden historischen Hintergrund bilden die zum Teil verheerenden gesellschaftlichen und politischen Folgen der unerbittlichen nachreformatorischen konfessionellen Auseinandersetzungen. Ernst Feil hat gezeigt,11 dass zunächst |15◄ ►16| durchaus überraschend lang versucht worden ist, dieses Problem im entschlossenen Beharren auf der eigenen Wahrheit zunächst der Ethik zuzuweisen. Es wurde also an die Friedfertigkeit der je eigenen Überzeugung appelliert.

      Im theosophischen Denken von Jakob Böhme (1575 – 1624), einer Art Mystik des Geistes (im Unterschied zu einer Mystik des Herzens), kommt es gerade angesichts der herrschenden Finsternis darauf an, dem Licht der Herrlichkeit Gottes Geltung zu verschaffen, was nur gelingen kann, wenn konsequent der Friede über unsere immer begrenzt bleibende Einsicht in die Wahrheit gestellt wird. Damit beginnt die für die Neuzeit dann bald charakteristisch werdende Tendenz, in der mehr und mehr entschlossen die Bedeutung der Ethik vor die der Dogmatik gerückt wird.

      Es ist die größte Torheit in Babel, daß der Teufel hat die Welt um die Religionen zankend gemacht, daß sie um selbstgemachte Meinung zanken, um die Buchstaben, da doch in keiner Meinung das Reich Gottes stehet, sondern in Kraft und der Liebe. Auch sagte Christus und ließ es seinen Jüngern zuletzt, sie sollten einander lieben. Dabei würde jedermann erkennen, daß sie seine Jünger wären, gleichwie er sie geliebt hätte. Wenn die Menschen also sehr nach der Liebe und Gerechtigkeit trachteten als nach Meinungen, so wäre gar kein Streit auf Erden. Wir lebten als Kinder in unserem Vater und bedürften keines Gesetzes noch Ordens.12

      Wenn Herbert von Cherbury (1583 – 1648) „als Vater der Religions- und Offenbarungskritik der Aufklärung“ bezeichnet wird,13 so liegt der Ton auf der rationalen Zähmung des Offenbarungsglaubens und nicht so sehr auf der Neutralisierung des Religionsbegriffs als eines allgemeinen Oberbegriffs. Auch Herbert verfolgt noch – ebenfalls zur Beförderung des Friedens – ein qualitatives Religionsverständnis, das sich zwar ähnlich wie bei Jakob Böhme aus der konfessionellen Bindung gelöst hat, nun aber eben eine übergeschichtliche rationalistische Bindung eingeht, die daraufhin angelegt ist, sich die verschiedenen Konfessionen unterzuordnen. Die Wahrheitsfähigkeit wird unter die Kontrolle der Vernunft gestellt. Die Vernunft vertraut