eine den heutigen Ansprüchen genügende Religionsdefinition:
Sie muß erstens so weit gefaßt sein, daß sie sich nicht nur auf die historisch gewachsenen Religionen, sondern auch auf pseudoreligiöse Phänomene wie Astrologie, New Age, neue Innerlichkeit, Sinnsuche, Okkultismus, Tischrücken, Wahrsagerei, Telepathie usw. zu beziehen vermag. Andererseits muß sie in der Lage sein, der damit entstehenden Gefahr der Beliebigkeit und Unbestimmtheit zu entgehen. Sie hat also die Aufgabe, Universalität und Konkretion miteinander zu kombinieren.
Zweitens muß sie als eine universale Definition das jeweilige Selbstverständnis der Religionen überschreiten und im Rücken der Religionsangehörigen liegende, unreflektierte soziale, historische und psychische Umstände mitberücksichtigen. Andererseits wird sie die Eigenper-spektive|22◄ ►23| der Religionen, wenn es dem Gläubigen möglich sein soll, sich in den Darstellungen der Wissenschaft wiederzuerkennen, nicht einfach übergehen können. Auch hier kommt es auf die Kombination von Innen- und Außenperspektive der Religion an. Diese Kombination wird nur zu erreichen sein, wenn man die auf Außenanschlüsse bedachte funktionale Analysetechnik mit der von den religiösen Inhalten ausgehenden substantiellen Definitionsmethode zu koppeln versucht.
Drittens stellt jede Religion einen verbindlichen Geltungs- und Wahrheitsanspruch, der von der Wissenschaft jedoch weder verifiziert noch falsifiziert werden kann. Mit ihren Methoden vermag die Wissenschaft nur zu bearbeiten, was sich intersubjektiv überprüfen läßt. Will der Religionsforscher sowohl dem existentiellen Anspruch der Religionen als auch der Forderung nach wissenschaftlicher Redlichkeit genügen, wird er also bei diesem Problem einen Ausgleich zwischen religiösem bzw. religionskritischem Engagement und wissenschaftlicher Neutralität finden müssen.
Viertens muss die zu erstellende Religionsdefinition die unüberschreitbare Zirkularität von theoretischer und empirischer Arbeit berücksichtigen. Selbstverständlich wird man bei der Bestimmung der Eigenart von Religion von theoretischen Überlegungen ausgehen müssen. Der theoretisch gewonnene Religionsbegriff muß aber so aufgestellt sein, daß er sich der empirischen Überprüfbarkeit nicht entzieht. Er muss also als ‚problemanzeigender Begriff‘ [F.-X. Kaufmann], als heuristische Hypothese formuliert sein, die sich empirisch füllen und auch korrigieren läßt. (182f.)
Alle vier Forderungen sind dadurch charakterisiert, dass sie Konkretheit und Allgemeinheit bzw. Gegenständlichkeit und Begrifflichkeit auf eine je besondere Weise miteinander in Beziehung setzen. Die Besonderheit dieser für alle Wissenschaften geltenden Grundmaxime liegt in der merkwürdigen Nicht-Gegenständlichkeit ihres Gegenstandes, der nur in Vermittlungen in Erscheinung tritt, sodass die Indirektheit seiner Erscheinungsweise stets sowohl auf seine Inhaltlichkeit als auch auf seine Funktion hin zu betrachten ist.
Der Gedankenbogen soll mit einem zugegeben recht abstrakten letzten Schritt zugespitzt werden, mit dem wir weiter Detlef Pollack folgen (vgl. 184ff.). Wenn Religion als eine Umgangsweise – neben anderen – mit dem Problem der Kontingenz – warum ist etwas, wie es ist, obwohl es auch anders sein könnte – zu betrachten ist, werden sich zumindest Charakteristika für Verhaltensweisen benennen lassen, die im Unterschied zu anderen als ‚religiös‘ zu bezeichnen sind. Eine Verhaltensweise weist sich darin als ‚religiös‘ aus, dass sie angesichts bewusster Kontingenzerfahrung einerseits die verfügbare Lebenswelt des Menschen überschreitet und andererseits eben diese Überschreitung kommunikativ auf diese Lebenswelt bezieht. Der Begriff ‚religiös‘ ist gegenüber dem Begriff der Religion insofern robuster, als sich auch der Fall einer verfassten Religion vorstellen lässt, die in ihrer Erstarrung das Moment des ‚Religiösen‘ im Sinne eines vitalen Umgangs mit dem Kontingenzproblem bis zur Unerkennbarkeit verdunkelt hat, sodass sie – etwa als äußere Tradition – zwar noch existiert, ohne aber tatsächlich eine vitale religiöse Sinnerschließung zu bieten. Wir bleiben im Horizont der zitierten Forderungen von Pollack, wenn wir in leichter Abwandlung sein Verschränkungsmodell für die Möglichkeiten einer Heuristik zur Wahrnehmung des Religiösen aufgreifen (189).
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Konsistenz | Kontingenz | |
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Immanenz | Pragmatismus (keine religiöse Frage, keine religiöse Antwort) | religiöse Suche (religiöse Frage, ohne religiöse Antwort) |
Transzendenz | religiöse Routine (reliögise Antwort ohne religiöse Frage) | vitale Religiosität (reliögise Frage und religise Antwort) |
Damit verfügen wir zwar nicht über eine Definition der Religion, wohl aber über ein Differenzierungsmodell, das bei der Frage der Abgrenzung des religiösen Phänomenbereichs eine flexible Hilfe darstellt, indem es zumindest idealtypisch ausweisbare Unterscheidungen anbietet. Das Modell lässt unterschiedliche Profile in Erscheinung treten, ohne Religion nur auf einen Typus zu beschränken und kann zugleich auch im Uhrzeigersinn gelesen werden, um dann auf wiederum idealtypische Dynamiken hinzuweisen. Das Modell ist ebenso einfach wie flexibel und verfügt daher über eine hohe Erklärungskraft. In jedem Falle werden – und darauf kommt es entscheidend an – die inhaltlichen und funktionalen Aspekte miteinander in Beziehung gehalten.
Mit einer an dieser Stelle nicht auszudiskutierenden Problemanzeige soll dieses Kapitel abgeschlossen werden. Insbesondere die modernen Religionswissenschaften betonen weithin ihre Neutralität gegenüber den von ihnen erfassten und beschriebenen Gegenständen. Jede Gestalt der Komparatistik bringt größte Probleme mit sich, sodass versucht wird, sie auf das unvermeidliche Minimum zu beschränken, ohne welches das die Religionswissenschaften ausmachende Erklärungspotential gefährdet wäre. Am Ende stünde nur die reine und als solche verwirrende und schließlich ratlos machende Phänomenologie. Es stellt sich einerseits die Frage, inwiefern die Neutralitätsdisziplin nicht schon in sich eine Illusion ist, die permanent schon durch die angewandten Parameter und Kategorien der Beschreibungsraster unterlaufen wird. Andererseits ist angesichts des religiös motivierten Aggressions- oder gar terroristischen Gewaltpotentials auch zu fragen, ob sich das Ethos der Religionswissenschaft auf den deskriptiven Aspekt der Wissenschaft beschränken darf. Wenn die Religionswissenschaften auch ihre gesellschaftswissenschaftliche Dimension und das damit verbundene Ethos ernst nehmen wollen, werden sie nicht umhin kommen, auch wieder Wege zu erschließen, auf denen normative Fragen sinnvoll diskutiert und dann auch für die öffentliche Debatte diskutierbar gemacht werden können. Der gern an die Theologie gerichteten Relevanzfrage sollten sich alle mit der Religion und den Religionen befassten Wissenschaften stellen, gerade dann, wenn ihnen heute mit nicht unerheblichen Mitteln eine bisher kaum vorstellbare Aktivität ermöglicht wird. Es kann nicht darum gehen, ihnen eine normative Schiedsrichterrolle zuzuweisen, wohl aber darum, die Konsequenzen aus der nicht erst unserem Zeitalter bekannten Tatsache zu ziehen, dass die Religion in ihren höchst unterschiedlichen Erscheinungsweisen auch ein zutiefst ambivalentes und somit zutiefst abgründiges Phänomen ist.
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§ 2 Die Kritik der Religion
Man könnte sagen, dass eine Überschrift, die zunächst erst einmal erläutert werden muss, eine schlechte Überschrift ist. In diesem Fall ist die Formulierung bewusst auf ihre Erläuterungsbedürftigkeit hin angelegt.
Die Überschrift zu diesem Kapitel enthält einen Genitiv und somit eine durchaus missverständliche Formulierung – wer kritisiert da was? Sie soll unterstreichen, dass da, wo der neuzeitliche Religionsbegriff zur Zeit seiner Einführung in Anwendung kam, also in einem verallgemeinernden Sinne von Religion gesprochen wurde, immer auch eine Dimension der Kritik ins Spiel gebracht wird. Es handelt sich also bei dem Genitiv der Überschrift zunächst um einen genitivus subjectivus, d. h. die Religion ist das Subjekt und somit der Ausgangspunkt der zur Debatte stehenden Kritik. Ihrem Ursprung nach tritt mit der Religion ein gegen den sich selbst verabsolutierenden Dogmatismus der sich gegenseitig ihr Existenzrecht absprechenden Konfessionen kritischer Anspruch auf den Plan. Wir befinden uns im 17. Jahrhundert, dem Zeitalter der Konfessionskriege. Die Einführung des allgemeinen Religionsbegriffs als eine den im Konflikt stehenden Konfessionen übergeordnete Ebene ist verbunden mit der Erwartung, von dieser übergeordneten Ebene aus auf die Konfessionen einen zähmenden Einfluss nehmen zu können, indem sie Minimalbedingungen benennt für das, was in einem Gemeinwesen als Religion anerkannt werden kann. Mit der von den Philosophen