Michael Weinrich

Religion und Religionskritik


Скачать книгу

eigenen Kriterien zu konfrontieren, ohne deren Erfüllung sie nicht mit öffentlicher Akzeptanz rechnen können. Etwa ein Jahrhundert später wird dann dieser Genitiv im Zusammenhang mit der Religionskritik (→ § 4) zu einem genitivus objectivus, d.h. die Religion wird dann zum Gegenstand der artikulierten Kritik, sie wird zum Objekt einer sie angreifenden Argumentation.

      Nun hätte sich leicht eine auf den ersten Blick so missverständliche Formulierung als Überschrift vermeiden lassen. Allerdings wäre sie dann in jedem Falle kraftloser geworden. Mit ihr wird gleich zu Beginn annonciert, dass es da, wo im neuzeitlichen Sinne die Religion auftritt, in jedem Fall in besonderer Weise kritisch zugeht, eben bereits da, wo die Religion als neu geprägter Begriff überhaupt erst eingeführt wird. Die Kritik, die sich dann später auch gegen sie selbst erhebt, hat durchaus einen vergleichbaren Charakter mit derjenigen, die zunächst von ihr ausgeht. Eben dieser aufs Ganze gesehen enge Zusammenhang wird von dem ambivalenten Genitiv der Überschrift gleich zu Anfang angedeutet, auch wenn es in diesem Kapitel zunächst nur um das kritische Potenzial geht, das vom Religionsverständnis selbst ausgeht.

      |25◄ ►26|

      1. Die Aufklärung

      Epochenabgrenzungen sind deshalb so schwierig, weil die Bestimmung der jeweils ins Auge zu fassenden Charakteristika umstritten ist. Wenn hier die Aufklärung als der entscheidende Entdeckungshorizont für den neuzeitlichen Religionsbegriff annonciert wird, wird diese im weitesten Sinne als die Transformationsphase zur Neuzeit angesehen. Als solche ist die Aufklärung einerseits davon geprägt, den Menschen konsequent aus den Bindungen apodiktisch gesetzter und somit unbefragbarer Autoritäten zu befreien, und andererseits von einem entschlossenen Gestaltungswillen sowohl des individuellen als auch des sozialen Lebens. Die entstehenden Nationalstaaten beanspruchen uneingeschränkte innen- und außenpolitische Selbstbestimmung und verstehen sich als souveräne Akteure der vom Menschen hervorzubringenden Geschichte. Für die Gestaltung des Gemeinwesens rückten die vor allem im Bürgertum aufblühenden wirtschaftlichen Interessen des Frühkapitalismus vor die Dringlichkeit, die konfessionellen Wirrnisse und Feindseligkeiten zu klären. Es waren nicht zuletzt die wirtschaftlichen Erfolge, deren Gefährdung durch Religionsstreitigkeiten, wie sie in besonders drastischer Weise in den Verheerungen der Konfessionskriege vor Augen standen, nicht mehr hingenommen wurde. Insgesamt verschwand die Bereitschaft, den Kirchen irgendeine Entscheidungsmacht in Fragen, die mit der inneren und der äußeren Sicherheit zu tun haben, zuzugestehen. Entschlossen trat die Politik und mit ihr die bürgerliche Gesellschaft – unterstützt durch die zu eigenem Selbstbewusstsein gegenüber der Theologie erstarkte Philosophie – mit einem deutlich artikulierten Souveränitätsanspruch aus dem Schatten der kirchlichen Bevormundung.

      Im Zusammenhang mit der Aufklärung kommt der Bestimmung des neuzeitlichen Religionsbegriffs eine besondere Rolle zu. Indem im Blick auf seinen Wahrheitsanspruch dem Bekenntnis des Glaubens konsequent jede verallgemeinerungsfähige Öffentlichkeitsrelevanz bestritten wurde, verliert es seine integrative Bedeutung für das Zusammenleben der Gesellschaft. Die verschiedenen Glaubensbekenntnisse, die nun unter dem Begriff der Religion in gewisser Weise neutralisiert wurden, werden dem aufgewerteten privaten Bereich zugewiesen, wo nach eigenem Gutdünken über die Wahrheitsfrage entschieden werden mag. Religion wird nicht weiterhin unter dem Blickpunkt ihrer angemessenen inhaltlichen und kultischen Gestaltung thematisiert, sondern sie wird zu einem formalen Begriff, unter dem sich sehr unterschiedliche inhaltliche Konkretionen vorstellen lassen. Vom Begriff der Religion als solchem geht keine Klärungsambition hinsichtlich ihrer Wahrheitsfähigkeit mehr aus. Ihre Angemessenheit wird allein am Maßstab ihrer Sozialverträglichkeit bemessen.

      Diese Wahrheitsabstinenz des allgemeinen Religionsverständnisses bedeutet aber keineswegs, dass es sich bei der Religion um einen harmlosen und gleichsam reibungslosen Begriff handelt. Vielmehr ist der neuzeitliche Religionsbegriff – wie bereits angedeutet – gerade im Blick auf die Motivation seiner Einführung ein zutiefst kritischer Begriff, indem er sich gegen alle Absolutheitsansprüche stellt, wie sie in |26◄ ►27| den konfessionellen Antagonismen aufeinander prallten. In der Neutralität der Wahrheitsfrage gegenüber verbirgt sich eine grundsätzliche Relativierung aller dogmatischen Exklusivismen, die den jeweiligen Bekenntnissen ihr besonderes Profil geben. Man geht nicht zu weit, wenn in der Neutralität eine Art neues Dogma gesehen wird, das mit dem Anspruch auftritt, an die Stelle der Letztinstanzlichkeit der kirchlich verantworteten Dogmatik zu treten. Die Intentionalität des allgemeinen Religionsbegriffs kann nur recht erfasst werden, wenn auch die von ihm ausgehende dezidierte Kritik in den Blick genommen wird.

      Es mag überraschen, wenn dieses Kapitel den deutschen Idealismus im Rahmen der Aufklärung thematisiert. Gewiss kann gesagt werden, dass der kritische Anspruch der Aufklärung bei Kant zu seinem Höhepunkt und Abschluss gekommen sei und dass der Idealismus weniger von einer aufklärerischen Kritik als vielmehr von einer über sie hinausgehenden systematisierten Positionalität geprägt sei. Ging es bei Kant um die kritische Frage nach den Kriterien, so präsentiert der Idealismus nun einen eigenen Standpunkt. Das ist die entscheidende Veränderung. Auf der anderen Seite wusste sich der Idealismus insofern an dem Projekt der Aufklärung beteiligt, als er sich gedrängt sah, der durch die Aufklärung etablierten Kritik einen die menschliche Vernunft übergreifenden und diese einschließenden geistphilosophischen Rahmen zu geben. Zwar geht der Idealismus auch entschlossen über Wesenszüge der Aufklärung hinaus, die auf eine Dynamisierung und Historisierung verfestigter Gesamtbilder ausgerichtet waren, aber er ist gerade in seinem Systematisierungsinteresse doch ganz und gar davon bestimmt, die Errungenschaften der Aufklärung so zu sichern, dass es auf solidem Weg grundsätzlich nicht mehr möglich sein sollte, diese infrage zu stellen. Es wäre nicht das erste Beispiel, wo aus dem verständlichen Sicherungsinteresse dann plötzlich ein architektonisch durchgestyltes Gebäude entsteht, in dem nur noch mit Mühe erkennbar bleibt, was es durch seine Errichtung zu sichern galt (als Beispiel kann etwa die ausdifferenzierte Dogmatik der altprotestantischen Orthodoxie gelten, die davon bewegt war, das Erbe der Reformation zu ‚sichern‘). Bei Kant zeigen sich ja längst auch dezidierte Systematisierungslinien der Aufklärung, denen dann im Idealismus noch eine grundsätzlich erweiterte Fundierung gegeben wurde. Philosophiegeschichtlich gesehen gibt es zudem mehr Gründe, im Idealismus den Abschluss einer Entwicklung zu sehen als den Anfang einer neuen Epoche, die dann wohl auf ihn selbst beschränkt werden müsste. Das entspricht auch seinem Selbstbewusstsein. Die Alternative zur Thematisierung in diesem Kapitel könnte daher nur ein eigenes Kapitel sein, was dann aber unweigerlich zu einer Überbewertung des Idealismus führen würde, wie sie allerdings immer wieder gern – insbesondere in apologetisch ausgerichteten Kreisen der Theologie – vorgenommen wird.

      |27◄ ►28|

      2. Thomas Hobbes

      Thomas Hobbes (1588 – 1679) gilt als einer der Begründer des Rationalismus, der sich auf die Natur und die menschliche Vernunft beruft. Der Öffentlichkeitsanspruch der Religion wird von Hobbes konsequent der Staatsraison unterstellt.

      Der erste große Vertreter der neuzeitlichen Staatsphilosophie war Thomas Hobbes. Er stellte die ordnungspolitische Bedeutung des Staates heraus, um die erodierende Situation zu befrieden und verlässliche Verhältnisse für ein gedeihliches Zusammenleben zu sichern. Die erbittertsten Konflikte registrierte Hobbes unter den rivalisierenden christlichen Konfessionen, aber er hatte keineswegs nur diese im Blick. Vielmehr verweist Hobbes auf das zänkische Verhalten des auf Selbstdurchsetzung bedachten Menschen, das er mit der bekannten Wendung des Plinius charakterisiert: „Der Mensch ist des Menschen Wolf “. Individuelle Selbsterhaltung und das Streben nach Lustgewinn verstricken die Menschen in andauernde Rivalisierungen. Dieser als Naturzustand des Menschen verstandene Umstand beschreibt in aller Klarheit den vom Leistungsprinzip geprägten Konkurrenzindividualismus des neuzeitlichen Bürgertums. Der Hintergrund dafür, dass diese Situation als natürlich ausgegeben wird, ist in der sich durchsetzenden kapitalistischen Wirtschaftsform zu suchen. Hobbes bringt das Lebensprinzip der vom Kapitalismus geprägten Wirklichkeit pointiert auf den Punkt: „Die Glückseligkeit daher, die wir als ein dauerndes Lustgefühl verstehen, besteht nicht darin, daß man Erfolg gehabt hat, sondern daß man Erfolg hat.“38

      Dem Staat fällt die Aufgabe zu, die