gelangen, ihn zu entdecken. Bei allen Dingen dieser Art ist die Offenbarung wenig vonnöten oder nützlich, weil Gott uns natürliche und sichere Mittel in die Hand gegeben hat, um zu ihrer Erkenntnis zu gelangen. Denn jede Wahrheit, die wir mit Hilfe der Kenntnis und Betrachtung unserer eigenen Ideen klar entdecken, wird für uns immer größere Gewißheit besitzen als die Wahrheiten, die uns durch überlieferte Offenbarung vermittelt werden. (395)
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Alles, was Gott geoffenbart hat, ist sicherlich wahr; daran ist jeder Zweifel ausgeschlossen. Das bildet den eigentlichen Gegenstand des Glaubens. Ob aber etwas als göttliche Offenbarung anzusehen ist oder nicht, darüber muß die Vernunft entscheiden. Und sie kann dem Geist niemals erlauben, eine größere Augenscheinlichkeit zu verwerfen, um etwas weniger Einleuchtendes zu akzeptieren; auch kann sie ihm nicht gestatten, im Gegensatz zur Erkenntnis und Gewißheit an der Wahrscheinlichkeit festzuhalten. Dafür, daß eine überlieferte Offenbarung in dem Wortlaut, in dem sie uns übermittelt ist, oder in dem Sinne, in dem wir sie verstehen, göttlichen Ursprungs sei, kann es kein Zeugnis geben, daß so klar und gewiß wäre wie das der Prinzipien der Vernunft. Deshalb kann nichts, was den klaren, von selbst einleuchtenden Aussagen der Vernunft widerspricht und mit ihnen unvereinbar ist, beanspruchen, als Glaubenssache, mit der die Vernunft nichts zu tun habe, geltend gemacht oder anerkannt zu werden. (402f.)
Vernunft ist natürliche Offenbarung, durch die der ewige Vater des Lichts und der Quell aller Erkenntnis den Menschen denjenigen Teil der Wahrheit vermittelt, den er ihren natürlichen Fähigkeiten zugänglich gemacht hat. Offenbarung ist natürliche Vernunft, erweitert durch eine Reihe neuer Entdeckungen, die Gott unmittelbar kundgegeben hat und für deren Wahrheit die Vernunft die Bürgschaft übernimmt, indem sie ihren göttlichen Ursprung bezeugt und beweist. Wer deshalb die Vernunft beseitigt, um der Offenbarung den Weg zu ebnen, der löscht das Licht beider aus. Er handelt ebenso wie jemand, der einen Menschen überreden will, sich die Augen auszustechen, um durch ein Teleskop das ferne Licht eines unsichtbaren Sternes besser beobachten zu können. (406)
Wer sich darum nicht allen Maßlosigkeiten der Täuschung und des Irrtums ausliefern will, muß diesen Führer seines inneren Lichtes einer Prüfung unterziehen. Wenn Gott jemand zum Propheten macht, so vernichtet er deshalb noch nicht den Menschen in ihm. Er läßt dessen sämtliche Fähigkeiten in ihrem natürlichen Zustande, damit er fähig ist, zu beurteilen, ob die Inspirationen, die er erfährt, göttlichen Ursprungs sind oder nicht. Wenn Gott den Geist mit übernatürlichem Licht erhellt, so löscht er deshalb das natürliche Licht nicht aus. Wenn er will, daß wir der Wahrheit eines Satzes zustimmen sollen, so richtet er es entweder so ein, daß uns diese Wahrheit durch die gewöhnlichen Methoden der natürlichen Vernunft einleuchtet, oder aber er gibt uns zu verstehen, daß es sich um eine Wahrheit handele, der wir auf Grund seiner Autorität zustimmen sollen. Dann überzeugt er uns durch bestimmte Kennzeichen, bei denen sich der Verstand unmöglich irren kann, davon, daß diese Wahrheit von ihm stamme. Die Vernunft muß unser oberster Richter und Führer in allen Dingen sein. (414f.)
W. Euchner, John Locke zur Einführung, Hamburg 2004
5. John Toland
Der irische Philosoph John Toland (1670 – 1722) gilt als Begründer des Deismus, womit ein allein vernunftbegründetes Gottesverständnis im Horizont einer moralisch verstandenen natürlichen Religion bezeichnet wird.
Von den Religionsphilosophen und Gesellschaftstheoretikern der frühen Aufklärung wird der christliche Glaube vor allem unter dem Gesichtspunkt seiner Funktion für die menschliche Gemeinschaft betrachtet. Die praktische Notwendigkeit und die gesellschaftliche Nützlichkeit |37◄ ►38| werden zum kritischen Maßstab für die Bestimmungen des Glaubens und der den Konfessionen übergeordneten Religion. Konsequent versucht John Toland den von John Locke (→ § 2,4) eingeschlagenen Weg zu Ende zu gehen. Der von Toland geprägte Deismus betont die Schöpferrolle Gottes, wobei die Vernunft des Menschen als ein besonderes Werk dieser Schöpfung hervorgehoben wird, mit dem Gott den Menschen ausgezeichnet habe, um ihm dann auch die Schöpfung zur eigenen Gestaltung überlassen zu können. Gott selbst hat sich aus der Schöpfung weithin zurückgezogen, um den Menschen den Platz zu ihrer Selbstentfaltung zu überlassen.
Das Christentum wird auf der Linie seiner Übereinstimmung mit der Vernunft als praktische Lebensorientierung gegen den von den Kirchen und ihren Amtsträgern gestützten Aberglauben verteidigt. Die sittlich-religiöse Kraft des Christentums, wie sie in den biblischen Quellen noch offenkundig ist, sei im Laufe der Kirchengeschichte verunstaltet und durch heidnische Elemente überlagert und geschwächt worden. In all seinen wesentlichen Aspekten stimme das Christentum vollkommen mit der natürlichen Religion des Menschen überein, was sich in einer konsequent vernünftigen Betrachtung unabweislich aufzeigen lasse. Wo Locke lediglich eine vernünftige Bewertung erwartet, fordert Toland eine Begründung durch die Vernunft. Die Tradition hat vor der Vernunft den Wahrheitsbeweis zu erbringen, wenn sie Gültigkeit beanspruchen und als Wort Gottes gewürdigt werden will. Christianity Not Mysterious ist der Titel seiner wirkungsvollsten Publikation (1696), mit der er zeigen will, dass es im christlichen Glauben nirgends darum gehe, irgendwelche Geheimnisse anerkennen zu müssen. Diese Schrift wurde in Dublin öffentlich verbrannt und brachte Toland auch in London in Bedrängnis.
Im Gegensatz dazu sind wir der Ansicht, daß die Vernunft die eigentliche Grundlage aller Gewißheit ist, und daß nichts Offenbartes, mag es nun seine besondere Form oder seinen Inhalt angehen, von ihrer Prüfung mehr ausgenommen ist als die regelmäßigen Naturerscheinungen. So folgern wir denn in Übereinstimmung mit dem Titel dieser Abhandlung, daß im Evangelium nichts Widervernünftiges und nichts Übervernünftiges enthalten sei, und daß keine christliche Lehre eigentlich ein Mysterium genannt werden kann.
Und noch pointierter:
Was in der Religion geoffenbart ist, das muß und kann, da es überaus nützlich und notwendig ist, ebenso leicht verstanden und mit unseren allgemeinen Begriffen in Übereinstimmung gefunden werden, wie das, was wir von Holz, Stein, Luft, Wasser oder dergleichen wissen.45
Soll etwas für den Menschen verbindliche Bedeutung haben und aufrichtigen Glauben konstituieren, muss es seinem Begriffsvermögen uneingeschränkt zugänglich sein. So kann es etwa nicht angehen, dass Gott mit seinen Wundern die von ihm selbst geschaffenen Naturgesetze überspringe; vielmehr lassen sich – wenn auch nicht in jedem Falle – Erklärungen beibringen, die ohne einen Widerspruch von Natur |38◄ ►39| und göttlichem Wirken auskommen. Am deutlichsten tritt die annoncierte kritische Spannung im Umgang mit den biblischen Texten hervor:
Zunächst will ich bemerken, daß diejenigen, die sich kein Gewissen daraus machen, zu sagen, sie könnten auf das Zeugnis der Schrift hin einen handgreiflichen Widerspruch gegen die Vernunft glauben, eine jede Widersinnigkeit rechtfertigen; indem sie ein Licht dem anderen gegenüberstellen, machen sie unleugbar Gott zum Urheber aller Ungewißheit. Die bloße Annahme, daß die Vernunft das eine rechtfertigen könne und der Geist Gottes ein anderes, treibt uns in unvermeidlichen Skeptizismus; denn wir würden in beständiger Ungewißheit sein, wem wir folgen sollten, ja, wir könnten nichts sicher feststellen. Denn da der Beweis für die Göttlichkeit der Schrift von der Vernunft abhängig ist, wie sollten wir da, wenn auf irgendeine Weise das klare Licht der einen in Widerspruch treten sollte mit der anderen, von der Unfehlbarkeit der anderen überzeugt werden? Die Vernunft kann in diesem Punkte so gut irren wie in jedem anderen, und wir haben keine besondere Verheißung, daß es nicht so wäre, ebenso wie die Papisten sich nicht sicher sein können, daß ihre Sinne sie in jeder anderen Sache nicht ebensogut täuschen können, wie bei der Transsubstanziation. Zu behaupten, es trage sein Zeugnis in sich selbst, das hieße, auch den Koran oder die Puranas als Kanon anerkennen. Und auch dies wäre ein merkwürdiger Beweis, wollte man einem Heiden sagen: die Kirche hat’s entschieden; denn alle Gesellschaften werden ebensosehr für sich sprechen, wenn wir nur ihr Wort als sicheres Zeugnis annehmen. Außerdem würde er vielleicht fragen, woher die Kirche das Recht hat, in dieser Sache zu entscheiden? Und wenn ihm geantwortet werden würde: ‚von der Schrift‘, tausend gegen eins,