Michael Weinrich

Religion und Religionskritik


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beilegen, statt unsere Begriffe über das große Wesen aufzuklären. Ich sehe, wie die einzelnen Dogmen sie verwirren; statt sie zu erhöhen, ziehen sie sie herab; den unbegreiflichen Geheimnissen, die die Gottheit umgeben, fügen sie sinnlose Widersprüche hinzu und machen den Menschen stolz, unduldsam und grausam; statt den Frieden auf der Erde zu stiften, überziehen sie sie mit Feuer und mit Schwert. Ich frage mich, wozu das dienen soll, und weiß keine Antwort. Ich sehe nur die Verbrechen der Menschen und das Elend des menschlichen Geschlechts.

      Man sagt mir, daß eine Offenbarung notwendig sei, um die Menschen zu lehren, wie wir Gott dienen sollen. Als Beweis dafür führt man die Verschiedenartigkeiten der seltsamen Kulte an, die sie eingeführt haben, und übersieht, daß alle Verschiedenartigkeit aus der Phantasie der Offenbarungen kommt. Seit die Völker auf den Gedanken kamen, Gott sprechen zu lassen, hat jeder ihn auf seine Weise reden lassen, was er hören wollte. Wenn man nur darauf gehört hätte, was Gott dem Menschen ins Herz sagt, so hätte es immer nur eine einzige Religion gegeben. (312)

      Suchen wir also aufrichtig die Wahrheit! Geben wir nichts auf das Vorrecht der Geburt, auf die Autorität der Kirchenväter und der Pfarrer, sondern unterziehen wir alles, was sie uns seit der Kindheit gelehrt haben, der Prüfung des Gewissens und der Vernunft. Und wenn sie schreien: Unterwirf deine Vernunft! Dasselbe könnte mir jeder Betrüger sagen. Wenn ich meine Vernunft unterwerfen soll, brauche ich vernünftige Gründe dazu. (314)

      Alles, was von der Religion zu erwarten ist, bietet die natürliche Religion. Sie bedarf keiner Ergänzung. Die reine Moral, um die es in der natürlichen Religion geht, ehrt sowohl Gott als auch den Menschen. Zwar gesteht Rousseau zu, dass die überkommene Theologie in ihrem Umgang mit der Offenbarung auch manchen tiefsinnigen und sogar nützlichen Gedanken verbunden haben mag, aber jede Verpflichtung auf eine dieser Lehren ist grundsätzlich abzulehnen. Der alleinige Maßstab zur Beurteilung, der von allen Menschen bereits mitgebracht wird, ist die natürliche Religion.

      Neben dieser persönlichen Intuitionsreligion kennt Rousseau in Übereinstimmung mit den bisher besprochenen Vertretern der Aufklärung auch noch eine ‚bürgerliche Religion‘ bzw. ‚zivile Religion‘, die für das gesellschaftliche Zusammenleben von fundamentaler Bedeutung ist. Die Unterscheidung von öffentlicher und privater Religion wird von ihm ausdrücklich geteilt.

      Für den Staat ist es allerdings wichtig, daß jeder Bürger eine Religion habe, die ihm vorschreibe, seine Pflichten zu lieben. Aber die Dogmen dieser Religion sind dagegen für den Staat wie für seine Mitglieder nur insofern von Bedeutung, als sie die Moral und die Pflichten betreffen, die der Gläubige anderen gegenüber zu erfüllen hat. Darüber hinaus kann jeder glauben, was er will, ohne daß der Souverän es zu wissen braucht. Da er für die andere Welt nicht zuständig ist, geht ihn das, was das Schicksal seiner Untertanen im Jenseits sein wird, nichts an, wenn sie nur in dieser Welt gute Bürger sind.

      Es gibt also ein rein bürgerliches Glaubensbekenntnis. Seine Artikel müssen vom Souverän erlassen werden. Sie dürfen keine Dogmen sein, sondern Gemeinschaftsgefühle, ohne die es |45◄ ►46| unmöglich ist, weder guter Staatsbürger noch treuer Untertan zu sein. Zwar kann niemand gezwungen werden, daran zu glauben, aber der Souverän kann jeden aus dem Staat verbannen, der nicht daran glaubt. Er kann ihn nicht als Ungläubigen verbannen, sondern als Feind der Gesellschaft, der unfähig ist, die Gesetze und die Gerechtigkeit aufrichtig zu lieben und notfalls sein Leben für seine Pflicht zu opfern. Wer diese Glaubenssätze anerkannt hat und sich dennoch benimmt, als glaube er nicht daran, der soll mit dem Tod bestraft werden. Er hat das größte aller Verbrechen begangen: er hat vor dem Gesetz einen Meineid geleistet.53

      Es wird deutlich, dass nach wie vor die Frage der inneren Sicherheit ein zentrales Problem für den modernen Staat darstellt. Auch wenn keine spezifische Staatstheologie vorgetragen wird, so wird dennoch umgekehrt die religiöse Verankerung des Staats nach wie vor als unverzichtbar angesehen. Die nähere Betrachtung der Glaubenssätze der bürgerlichen Religion zeigt deutlich die Spuren der Kriterien, die wir bereits bei Herbert von Cherbury als wegweisend registriert haben (→ § 1,1.3). Auffällig ist lediglich, dass nun die ausdrückliche Heiligkeit des Gesellschaftsvertrages herausgestellt wird, was nochmals den hohen Rang der als notwendig erachten Staatsraison unterstreicht:

      Die Glaubenssätze der bürgerlichen Religion müssen einfach sein, gering an Zahl, klar im Ausdruck, ohne Erklärungen und Auslegungen. Diese positiven Sätze sind: Die Existenz einer mächtigen, vernünftigen, wohltätigen, vorausschauenden und vorsorglichen Gottheit; das künftige Leben; die Belohnung der Gerechten, die Bestrafung der Bösen; die Heiligkeit des Gesellschaftsvertrags und der Gesetze. Es gibt nur einen negativen Satz: Unduldsamkeit. Sie gehört den Kulten an, die wir ausgeschlossen haben. (207)

      Es sind insbesondere diese Formulierungen Rousseaus, an die dann etwa 200 Jahre später die von Robert N. Bellah angestoßene Diskussion über die Gestalt und die Bedeutung einer civil religion in recht unterschiedlicher Weise immer wieder angeschlossen hat (→ § 8,1.1).

      G. Mensching, Rousseau zur Einführung, Hamburg 2003 B. H. F. Taureck, Rousseau. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbeck 2009

      8. Gotthold Ephraim Lessing

      Gotthold E. Lessing (1729 – 1781 ) hat der deutschen Aufklärung einen besonderen Stempel aufgedrückt, indem er sich nicht in die institutionellen Konkurrenzen zwischen Kirche, Staat und Gesellschaft hineinziehen ließ, sondern der Frage nach den Konstitutionsbedingungen von Wahrheit nachging.

      Wenn wir in Lessing gleichsam einer milden Form der Aufklärung begegnen, so hat das seinen Hauptgrund darin, dass er sich kaum an den institutionell orientierten Positionierungen der englischen und französischen Aufklärung beteiligte. Wenn Lessing der Frage nach der Wahrheitsfähigkeit der Religion nachgeht, beeindruckt ihn weder der Weg der Neologen mit ih-rer|46◄ ►47| konsequent rationalen Schriftauslegung (→ § 3) noch der der Deisten mit ihrem Postulat einer vor allem moralisch verstandenen natürlichen Religion. Vielmehr bewegt ihn die Frage, was einer Glaubensaussage ihre besondere Evidenz zu geben vermag. Die schlichte Berufung auf die Vernunft greift zu kurz, wenn nicht auch ihr spezifischer Gebrauch näher bestimmt wird. Zur Begründung einer Glaubensaussage bleibt die Berufung auf irgendwelche zurückliegenden Geschichtsereignisse entschieden zu schwach. Die Geschichte ist nicht der vermeintlich feste Boden, auf dem unverrückbare Tatsachen aufliegen, sondern sie ist im Gegenteil ihrem Wesen nach eine zufällige Berufungsinstanz, die prinzipiell nicht über die Kraft verfügt, „notwendige Vernunftwahrheiten“ zu begründen.

      Wenn keine historische Wahrheit demonstriret werden kann: so kann auch nichts durch historische Wahrheiten demonstriret werden.

      Das ist: zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von nothwendigen Vernunftwahrheiten nie werden.

      Ich leugne also gar nicht, daß in Christo Weissagungen erfüllet worden; ich leugne gar nicht, daß Christus Wunder gethan: sondern ich leugne, daß diese Wunder, seitdem ihre Wahrheit völlig aufgehöret hat, durch noch gegenwärtig gangbare Wunder erwiesen zu werden; seitdem sie nichts als Nachrichten von Wundern sind, (mögen doch diese Nachrichten so unwidersprochen, so unwidersprechlich seyn, als sie immer wollen:) mich zu dem geringsten Glauben an Christi anderweitige Lehren verbinden können und dürffen. Diese anderweitigen Lehren nehme ich aus anderweitigen Gründen an.54

      Von den geschichtlichen Ereignissen sieht sich Lessing getrennt; dazwischen liegt der gern immer wieder zitierte „garstige breite Graben, über den ich nicht kommen kann, so oft und ernstlich ich auch den Sprung versucht habe“ (7). Lessing bestreitet nicht die historische Stimmigkeit von bezeugten Ereignissen und den daraus gezogenen Lehren, wie beispielsweise das Wunder der nicht zu widerlegenden Auferstehung Jesu und dem von den Jüngern daraus abgeleiteten Bekenntnis, dass Jesus der Sohn Gottes sei.

      Wenn ich zu Christi Zeiten gelebt hätte: so würden mich die in seiner Person erfüllten Weissagungen allerdings auf ihn sehr aufmerksam gemacht haben. Hätte ich nun gar gesehen, ihn Wunder thun; hätte ich keine Ursache zu zweifeln