in Erscheinung, wenn sich Voltaire – durchaus in weitreichender Übereinstimmung insbesondere mit den Vertretern der französischen Enzyklopädie49 – über die Juden äußert und dabei ohne Zögern auf das zeitgenössische Arsenal des Antisemitismus zugreift:
Sie werden in ihnen nur ein unwissendes und barbarisches Volk treffen, das schon seit langer Zeit die schmutzigste Habsucht mit dem verabscheuungswürdigsten Aberglauben und dem unüberwindlichsten Haß gegenüber allen Völkern verbindet, die sie dulden und an denen sie sich bereichern.50
Wenn Voltaire ausdrücklich an Gott und der Religion in der Prägung des Deismus festhalten will, sieht er in ihnen ein Instrument zur Wahrung der Moral und der Ordnung, das vor allem durch die Annoncierung von Lohn und Strafe funktioniert. Das ist der Hintergrund für seine berühmte Äußerung: Wenn es Gott nicht gäbe, dann müsse er erfunden werden. Allerdings wäre es eine Verkürzung, wenn Gott nur als der wachende Richter zur Disziplinierung der Menschen angesehen wird. Es findet sich vielmehr bei Voltaire auch noch eine andere Seite, die gegen jede Unterstellung eines Zynismus bei der Verordnung von Religion gefeit ist. Gott spricht nämlich nach Voltaire auch heilsam das Trostbedürfnis des Menschen an, denn ohne Gott hätte die Welt keinen Halt und keine Hoffnung. Eine Welt ohne Gott ist wie ein unendliches Meer ohne Hafen – ein ähnliches Bild taucht dann später bei Nietzsche (→ § 4,2.6) wieder auf. Neben den gesellschaftspolitischen Gründen kennt Voltaire auch existenzielle Motive, an Gott festzuhalten. Diese sind ausreichend für eine entschlossene Verteidigung des Theismus. Alle anderen Gründe für den Glauben und die Religion weist er entschieden ab.
Bei dem Zweifel, in dem wir uns befinden, rate ich euch nicht mit Pascal, euch an das Sicherste zu halten. Es gibt nichts Sicheres im Ungewissen. ... Ich mache euch nicht den Vorschlag, ungereimtes Zeug zu glauben, um euch aus der Verlegenheit zu helfen. Ich sage nicht zu euch: Geht nach Mekka und küßt den schwarzen Stein, um euch zu erleuchten, nehmt einen Kuhschwanz in die Hand, legt ein Skapulier an, seid einfältig und fanatisch, um die Gunst des höchsten Wesens zu erlangen. Ich sage euch: Seid weiterhin tugendhaft und wohltätig, betrachtet weiterhin jeden Aberglauben mit Abscheu und Mitleid, aber verehrt mit mir den |42◄ ►43| Plan, der sich in der ganzen Natur offenbart, und dementsprechend den Urheber dieses Planes, die erste Ursache und den Endzweck des Ganzen; hofft mit mir, daß unser Wesen, welches auf das große ewige Wesen schließt, eben durch dieses große Wesen glücklich sein kann. Darin liegt kein Widerspruch. Ihr werdet mir nicht beweisen, daß dies unmöglich ist, und ich kann euch nicht mathematisch beweisen, daß es sich so verhält. In der Metaphysik schließen wir fast nur auf Wahrscheinlichkeiten; wir schwimmen alle in einem Meer, dessen Gestade wir nie gesehen haben. Wehe denen, die beim Schwimmen miteinander in Streit geraten! Jeder sehe zu, wie er an Land kommt; aber wer mir zuruft, Du schwimmst vergeblich, es gibt keinen Hafen!, der nimmt mir den Mut und raubt mir alle meine Kräfte.51
H. Baader (Hg.), Voltaire (WdF 276), Darmstadt 1980 G. Holmsten, Voltaire, Reinbek 2002
7. Jean-Jacques Rousseau
Der Schriftsteller und Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778) weitet die aufklärerische Kritik an der überkommenen Religion auf die Kultur aus und setzt auf das Glück eines naturnahen Lebens.
Wenn Jean-Jacques Rousseau in die Reihe der Aufklärer gestellt wird, so ist er zugleich insofern deren Kritiker, als er die Aufklärung mit ihrer Grenze konfrontiert. Dem von der Aufklärung in die Vernunft und den Verstand gelegten Pathos entzieht Rousseau seine Letztgültigkeit, indem er auf die besondere untrügliche Kraft der Intuition setzt, die in einem engen Zusammenhang mit seinem Verständnis von der natürlichen Religion steht. Die Intuition liefert unverfälschte und somit höchst zuverlässige Belehrung und Orientierung. Sie ist nicht mit dem traditionellen Verständnis von Offenbarung zu verwechseln, wie es in den Kirchen den Menschen entgegengehalten wird, sondern steht diesem vielmehr diametral entgegen. Während die Offenbarung in den aus ihr abgeleiteten umstrittenen Dogmen Parteiungen und Unfrieden schafft, beruft sich die Zuverlässigkeit der Intuition auf einen den Menschen auszeichnenden Instinkt, der ihm – wenn er nicht unterdrückt oder durch die Fixierung an die traditionellen Bindungen der Offenbarung dominiert wird – alle nötige verlässliche Orientierung für das Leben bereitstellt. Nach Rousseau ist die Rede von Offenbarung schlicht überflüssig und steht in ihrer Streitsucht dem wahren Geist des Evangeliums entgegen, denn dieser setzt auf Überzeugung und nicht auf die Akzeptanz von Wundern oder Dogmen.
Rousseau bewegt sich vorbehaltlos auf der Linie der vernunftorientierten Aufklärung. Alles muss sich vor der Vernunft ausweisen, und was vor ihr nicht bestehen kann, darf auch keine Geltung beanspruchen. Doch diese durchaus anspruchsvolle Rolle der Vernunft macht sie nicht zugleich auch noch zur Quelle aller Orientierung und Einsicht. Vielmehr wird die Vernunft durch das Gefühl und die Intuition über-boten|43◄ ►44| – hier zeichnet sich eine Öffnung der Aufklärung hin zur Romantik ab. Das Verständnis der natürlichen Religion bekommt eine eigene Rolle zugewiesen, die sie für die Vernunft unentbehrlich macht. Rousseau legt in dem Erziehungsroman Emile sein eigenes Glaubensbekenntnis in den Mund eines ‚savoyischen Vikars‘, der leidenschaftlich eine intuitive moralische Religion des freien Menschen lehrt.
Ort dieser Intuition ist das Gewissen. Jeder Mensch soll seinem Gewissen als dem Erregungsort frommer Subjektivität folgen. Es wird gleichsam als Sprachrohr der unverstellten Natur verstanden. Nicht allein schon in der Vernunft, sondern im Grunde erst im Gewissen erweist sich die Gottebenbildlichkeit des Menschen. Im Gewissen zeigt sich wirkliche Lebenskraft, Tugend und Freiheit. Es gilt für Rousseau als der entscheidende Beleg dafür, dass der Mensch von Natur aus gut ist.
Gewissen! Gewissen! Göttlicher Instinkt! Unsterbliche und himmlische Stimme! Sicherer Führer eines unwissenden und beschränkten, aber verständigen und freien Wesens! Untrüglicher Richter über Gut und Böse, der den Menschen gottähnlich macht! Du gibst seiner Natur die Vollkommenheit und seinen Handlungen die Sittlichkeit! Ohne dich fühle ich nichts in mir, das mich über die Tiere erhebt, als das traurige Vorrecht, mich mit Hilfe eines ungeregelten Verstandes und einer grundsatzlosen Vernunft von Irrtum zu Irrtum zu verlieren.52
Die Angewiesenheit von Verstand und Vernunft wird unmissverständlich hervorgehoben. Es ist wichtig, im Auge zu behalten, dass die Intuition nicht einfach eine Inspektion der eigenen Subjektivität darstellt, sondern als Begegnung mit dem Wesen der Natur und somit der Wirklichkeit verstanden wird. Wichtig bleibt zu beachten, dass das Gewissen zwar in jedem Einzelnen spricht, aber es wird deshalb nicht zum Ausdruck individueller Subjektivität, sondern Rousseau misst dem Gewissen eine unhintergehbare Objektivität zu, der man sich im Grunde nicht entziehen könne. Das Gewissen wird nicht als eine hinzugewonnene Dimension der Individualität gefeiert, sondern als ein bildungsunabhängig gegebener Zugang zum Wahren und Guten. Dieser Zugang wird nicht durch die Erziehung erschlossen, sondern ist von Natur aus in jedem Menschen gegeben. Der Mensch ist von Natur aus gut und solange er sich der Führung seines Gefühls überlässt, vermag er auch gut zu bleiben.
Von hier aus ergibt sich Rousseaus Konzept einer ‚natürlichen Religion‘, die an die Stelle der tradierten Offenbarungsreligion treten soll und all ihre Anstößigkeiten überwindet.
Du findest in meinen Darlegungen nur die natürliche Religion, und es ist seltsam, daß auch noch eine andere notwendig sein soll. Woran soll ich diese Notwendigkeit erkennen? Wessen kann ich schuldig sein, wenn ich Gott nach der Vernunft, die er meinem Geist gibt, und nach den Gefühlen, die er meinem Herzen einflößte, diene? Welche Reinheit der Moral, welches Dogma, das dem Menschen nützt und seinen Schöpfer ehrt, kann ich aus einer positiven Glaubenslehre ziehen, die ich nicht auch ohne sie aus dem richtigen Gebrauch meiner Fähigkeiten ziehen könnte? Zeig mir, was man zur Ehre Gottes, zum Wohl der Gesellschaft und zu meinem eigenen Vorteil den Pflichten des natürlichen Gesetzes hinzufügen kann und welche Tugend du aus einem neuen Kult ziehen kannst, der nicht eine Konsequenz meines Kultes wä-re.|44◄ ►45| Die höchsten Vorstellungen von der Gottheit gibt uns die Vernunft ein. Betrachte das Schauspiel der Natur, hör auf die innere Stimme. Hat Gott nicht alles vor unseren Augen,