Michael Weinrich

Religion und Religionskritik


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und wer niemals einsam ist, wird niemals religiös sein. Kollektive Begeisterung, Erweckungen, Institutionen, Kirchen, Rituale, Bibeln, Verhaltensregeln sind schmückende Beigaben der Religion, sind ihre Durchgangsformen.24

      Paul Tillich (1955): Die Religion ist keine spezifische Funktion, sie ist die Dimension der Tiefe in allen Funktionen des menschlichen Geisteslebens... . Religion ist im weitesten und tiefsten Sinne das, was uns unbedingt angeht. Und das, was uns unbedingt angeht, manifestiert sich in allen schöpferischen Funktionen des menschlichen Geistes. Es wird offenbar in der Sphäre des Ethischen als der unbedingte Ernst der ethischen Forderung, ... in dem Reich des Erkennens als das leidenschaftliche Verlangen nach letzter Realität; ... in der ästhetischen Funktion des menschlichen Geistes als die unendliche Sehnsucht nach dem Ausdruck des letzten

      Sinnes... . Die Religion ist die Substanz, der Grund und die Tiefe des menschlichen Geistes.25

      Carsten Colpe (1968): Religion sei die Qualifikation einer lebenswichtigen Überzeugung, deren Begründung, Gehalt oder Intention mit den innerhalb unserer Anschauungsformen von Raum [und] Zeit gültigen Vorstellungen und mit dem Denken in den dazu gehörenden Kategorien weder bewiesen noch widerlegt werden kann.26

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      Thomas Luckmann (1972): Unter Religion verstehe ich ... Wirklichkeitskonstruktionen – die gesellschaftlich-geschichtlich mehr oder minder bindend vorgegeben und subjektiv mehr oder minder modifizierbar sind.... Als religiös bezeichne ich jene Schichten der gesellschaftlichen Wirklichkeitskonstruktionen, die Transzendenzerfahrungen entspringen und mehr oder minder nachdrücklich als auf eine nicht-alltägliche Wirklichkeit bezogen erfasst werden.27

      Kurt Rudolph (1976): Religion ist der von der Tradition bestimmte Glaube einer Gemeinschaft oder eines Individuums an die mehr oder weniger starke Abhängigkeit (Bestimmtheit) des natürlichen und gesellschaftlichen Geschehens von übermenschlich oder überirdisch wirkenden persönlichen Mächten und die daraus resultierende Verehrung derselben durch bestimmte kultisch geprägte Handlungen, die von der Gemeinschaft in festen Formen überliefert werden. 28

      Niklas Luhmann (ca. 1996): Religion scheint immer dann vorzuliegen, ... wenn man einzusehen hat, weshalb nicht alles so ist, wie man es gerne haben möchte [Luhmann verweist auf Hegel: ‚Religion ist nun eben dies, daß der Mensch den Grund seiner Unselbständigkeit sucht‘]. Gerade dies kann der Einzelne, da es seinem Selbstbewußtsein widerspricht, nicht durch Selbstreflexion herausfinden. Der Grund dafür muß ihm mitsamt der Problemstellung durch Kommunikation gegeben sein.29

      Theo Sundermeier (1999): Religion ist die gemeinschaftliche Antwort des Menschen auf Transzendenzerfahrung, die sich in Ritus und Ethik Gestalt gibt.30

      Schon diese kleine Auswahl verdeutlicht die Unabgleichbarkeit der verschiedenen Perspektiven auf die Religion. Es liegt im Wesen eines solchen Allgemeinbegriffs, dass er vorwiegend von formalen Merkmalen bestimmt wird. Die jeweilige Aufmerksamkeit wird auf einen bestimmten Phänomenbereich und einen entsprechenden Rezeptionszusammenhang gelenkt. Der Vielschichtigkeit des Phänomens entspricht die Vielfalt seiner Wahrnehmungsperspektiven. Religion kann aus soziologischer, psychologischer, philosophischer, gesellschaftspolitischer, anthropologischer, ethnologischer, kulturwissenschaftlicher, juristischer, historischer und theologischer Sicht wahrgenommen werden, um nur die Hauptinteressenten zu nennen. In den Religionswissenschaften werden verschiedene Perspektiven zu einem eigenen Konzept miteinander verknüpft, was aber keineswegs bedeutet, dass sie deshalb den Schlüssel für eine vollständige Erfassung in der Hand hätten. Der Mensch müsste schon gleichsam über sich selber stehen, wenn er eine letzte Antwort zu geben beanspruchen wollte.

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      2.2 Wie sinnvoll ist eine Definition von Religion?

      Die Definitionen des Religionsverständnisses haben inzwischen ein Abstraktionsniveau erreicht, auf dem sie unwillkürlich in die Gefahr geraten, kaum noch eine unmittelbar identifizierte Aussage zu machen. Fritz Stolz spricht bereits im Blick auf die Religionswissenschaften von dem „Verlust ihres Gegenstandes“.31 Carsten Colpe beschränkt sich in dem ausgewählten Zitat auf eine negative Definition, sodass es nicht verwundert, wenn er an anderer Stelle auch grundsätzliche Skepsis gegenüber den Versuchen äußert, Religion definieren zu wollen:

      Eine völlig exakte und zugleich alles einschließende Religionsdefinition ist nicht möglich, da sie es weder, wie die Mathematik und die Logik, mit einem Objekt zu tun hat, bei dem man selbst bestimmen kann, was es enthalten soll, noch, wie die Naturwissenschaft, mit einem, bei dem man sich sicher sein kann, die Kategorie des Ganzen als selbständige Qualität neben der der Summe erfaßt zu haben.32

      Schon Ernst Troeltsch hat die Definierbarkeit des Wesens der Religion grundsätzlich bestritten,33 und gegenwärtig wachsen aus unterschiedlichen Gründen die Vorbehalte gegenüber der Möglichkeit, eine allgemeine Religionsdefinition aufstellen zu können. Provokant stellt Jonathan Z. Smith fest: „Religion is solely the creation of the scholar’s study.“34

      Unabhängig von dieser Aussichtslosigkeit wird heute in den Religionswissenschaften ein spezifischer Einwand gegen die neuzeitliche Tendenz artikuliert, den Religionsbegriff immer weiter zu generalisieren, um ihm schließlich eine universelle Bedeutung zumessen zu können. Er läuft darauf hinaus, ihn auf den Kulturraum seiner Entstehung zu limitieren, da sich hier die von ihm bezeichneten Phänomene mit dieser Bezeichnung arrangiert haben (das steht im Hintergrund, wenn das Projekt einer Europäischen Religionsgeschichte annonciert wird). Es kann nicht einfach davon ausgegangen werden, dass der in Europa entwickelte neuzeitliche allgemeine Religionsbegriff universal angewendet werden kann. Die Ausweitung des Radius des Religionsverständnisses über die Grenzen Europas hinaus bleibt insofern von den eurozentrischen Denkkategorien geprägt, als sie eben das als Religion identifiziert, was mit bestimmten Klassifikationen und Implikationen (etwa ethischer Art) innerhalb der eigenen Kultur als Religion in Erscheinung tritt. In vielen außereuropäischen Kulturen gibt es kein Äquivalent zum allgemeinen Religionsbegriff.35 Die in fremden Kulturen als Religionen identifizierten Phänomene sagen deshalb mehr über unseren Zugang zu diesen Kulturen aus als über das Selbstverständnis der mit „Religion“ etikettierten beschriebenen Wirklichkeit.36 Die von den westlichen Wissenschaften |21◄ ►22| bisher in Anspruch genommene Definitionshoheit impliziert die Gefahr, die Unterschiedlichkeit der Phänomene zu nivellieren, indem sie diese durch Kategorisierungen in eine problematische Vergleichbarkeit versetzt, die zumindest implizit von den jeweiligen Prägungen des eigenen Kontextes orientiert und somit dominiert wird.

      Werden beide Aspekte zusammen genommen – das nicht eindeutig zu lösende Problem der Definierbarkeit von Religion auf der einen Seite und die Kritik des Eurozentrismus im universalisierten Religionsbegriff auf der andere Seite –, so ergibt sich insofern eine deutliche Entspannung, als sich beide Tendenzen gegenseitig entschärfen und somit zu einer gewissen Relativierung der Problemkonstellation führen.

      Es bedarf schließlich einer gewissen Klarheit des Verständnisses, wenn der Gebrauch des Begriffs sinnvoll sein soll. Die kann sowohl durch positive Bestimmungen als auch durch negative Abgrenzungen gewonnen werden. Nur auf diese Weise kann die Religionswissenschaft ihren Gegenstand beschreiben. Allerdings bleibt zu konstatieren, dass es sehr unterschiedliche Methoden gibt, sich dem Gegenstand zu nähern, die je einem eigenen Reflexionsinteresse folgen. Ein ebenso grundlegender wie konsequenzenreicher Unterschied zeigt sich in der Frage, ob eine Religion verstanden oder erklärt werden soll. Das Verstehen setzt eine intime Einlassung voraus, die auch die jeweilige Theologie einzubeziehen hätte – es ginge damit über den Bereich der Religionswissenschaft im traditionellen Verständnis hinaus. Das Erklären wahrt dagegen eine kritische Distanz und blickt immer auch auf die jeweilige Einbettung der Religion, die zu der jeweiligen Erklärung beiträgt. Ihm eignet von vornherein eine ‚ideologiekritische‘ Dimension, die allerdings mit der religiösen Eigenperspektive in ein gespanntes Verhältnis treten kann. Dabei kann das Erklären sehr unterschiedliche Aufmerksamkeiten verfolgen.37 Diese wenigen Andeutungen zeigen bereits hinreichend den Justierungsbedarf, dem jede sinnvolle Frage nach der Religion