Nach De veritate (1624)14 sind es fünf Vernunftwahrheiten (notitiae communes – allgemeine Bemerkungen), an denen sich die Friedensfähigkeit der Religion entscheidet:
1. der Glaube an den einen Gott als ewige und allmächtige Ursache, Lenker und Ziel aller Dinge;
2. die Verehrung dieses einen Gottes – auf durchaus unterschiedliche Weise, d. h. unabhängig von den kirchlich erhobenen Machtansprüchen;
3. der sittliche Gottesdienst (cultus divinus) in der Gestalt frommer Gesinnung und tugendhafter Lebensführung, die sich am Gewissen orientieren;
4. die Wahrnehmung der eigenen Unvollkommenheit (Sündenschmerz) und die Bereitschaft zur Buße für schuldhaftes Fehlverhalten; |16◄ ►17|
5. das Bewusstsein von einem zu erwartenden jenseitigen Leben mit der Vergeltung von Gut und Böse.
Die mit der Betonung der Vernunft verbundene Abwertung alles dessen, was zur Geschichte gehört, weist in die Richtung der Unterscheidung von ‚zufälligen Geschichtswahrheiten‘ und ‚notwendigen Vernunftwahrheiten‘ bei Gotthold E. Lessing etwa anderthalb Jahrhunderte später.15 Die Wahrheitsfähigkeit liegt nicht im überkommenen Glauben, sondern folgt der ratio des Menschen.
2. Zum Problem der Definierbarkeit von Religion
Neben dem historischen und geistesgeschichtlichen Zugang stellen wir uns nun der systematischen Frage nach dem Verständnis von Religion. Dabei stoßen wir auf den Umstand, dass wir hier nicht einfach auf eine allgemein anerkannte Definition zurückgreifen können (2.1). Die unüberschaubare Vielzahl möglicher Definitionen wirft zugleich die Frage auf, ob es überhaupt sinnvoll ist, Religion definieren zu wollen (2.2).
2.1 Definitionen
Theo Sundermeier weist darauf hin, „daß es Hunderte von Definitionen von Religion gibt“.16 Ein deutlicher Hinweis auf den nach wie vor bestehenden Klärungsbedarf zeigt sich darin, dass in der Literatur auffallend häufig die Überschrift „Was ist Religion? “ zu finden ist. In den recht unterschiedlichen Definitionen spiegeln sich einerseits die verschiedenen und die sich wandelnden Perspektiven wider, in denen die Religion in den Blick genommen wird, und andererseits die unterschiedlichen Verwendungsoptionen für die jeweilige Beschäftigung mit der Religion. Jeder dieser Definitionen eignet eine eigene Schwerpunktsetzung. Die folgende kleine Auswahl soll zur Diskussion der Akzente der unterschiedlichen Perspektiven auf die Religion anregen.
Friedrich Schleiermacher (1799): Religion „begehrt nicht, das Universum seiner Natur nach zu bestimmen und zu erklären wie die Metaphysik, sie begehrt nicht, aus Kraft der Freiheit und der göttlichen Willkür des Menschen es fortzubilden und fertig zu machen wie die Moral. Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl. Anschauen will sie das Universum, in seinen eigenen Darstellungen und Handlungen will sie es andächtig belauschen, von seinen unmittelbaren Einflüssen will sie sich in kindlicher Passivität ergreifen und erfüllen lassen.“ – „Praxis ist Kunst, Spekulation ist Wissenschaft, Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche.“17
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Karl Gottlieb Bretschneider (1822): Das Wort Religion, das vom Lateinischen religio abstammt, wird zufolge der Erfahrung von dem Glauben an übermenschliche Macht (Götter), und an ihren Einfluß auf die Welt, und der dadurch entstehenden Verehrung derselben gebraucht. Im allgemeinen ist sie daher: Kenntnis und Verehrung Gottes, oder der Götter (...). Dieses ist der historische Begriff der Religion, und alle noch so verschiedenen Religionen haben zwei Hauptbestandtheile, a) den Glauben an erhabene Wesen, welche mit der Welt verbunden sind, und die Schicksale der Menschen leiten; und b) Verehrung dieser Wesen, oder die Bemühung der Menschen, das Wohlgefallen derselben zu erwerben und ihre Strafen abzuwenden.18
Albrecht Ritschl (1874): In aller Religion wird mit Hilfe der erhabenen geistigen Macht, welche der Mensch verehrt, die Lösung des Widerspruches erstrebt, in welchem der Mensch sich vorfindet als Theil der Naturwelt und als geistige Persönlichkeit, welche den Anspruch macht, die Natur zu beherrschen. Denn in jener Stellung ist er Theil der Natur, unselbständig gegen dieselbe, abhängig und gehemmt von den anderen Dingen; als Geist aber ist er von dem Antriebe bewegt, seine Selbständigkeit dagegen zu bewähren. In dieser Lage entspringt die Religion als der Glaube an erhabene geistige Mächte, durch deren Hilfe die dem Menschen eigene Macht in irgend einer Weise ergänzt oder zu einem Ganzen in seiner Art erhoben wird, welches dem Drucke der Naturwelt gewachsen ist.19
Wilhelm Herrmann (1905): Das Vertrauen, das die von uns erfahrene Macht sittlicher Güte in uns schafft, ist der Glaube an Gott, die wirkliche Religion. Jede andere Vorstellung von Gott muß schließlich von dem Menschen verlassen werden, dessen sittliche Erkenntnis sich entwickelt, und wird ihm dann ein Götzenbild. Diese eine kann die Menschheit durch ihre Geschichte leiten, deren ewiges Ziel die Gemeinschaft freier Personen ist, die Verwirklichung alles dessen, worauf die Energie des guten Willens geht. 20
Paul Natorp (1908): Religion vertritt eine eigene Grundgestalt des Bewußtseins, nämlich das Gefühl, und zwar das Gefühl in seiner höchsten Potenz, in seinem Anspruch, die universelle, alle andern umfassende und vereinende Grundkraft, den ursprünglichsten, unerschöpflich lebendigen Quell alles Bewußtseins darzustellen.21
Religion, oder was sich unter diesem Namen bisher barg, ist genau so weit festzuhalten, als sie innerhalb der Grenzen der Humanität beschlossen bleibt, dagegen nicht mehr, sofern der ungemessene Drang des Gefühls sie verleitet, deren Grenzen zu durchbrechen und ihren ewigen Gesetzen den Gehorsam zu versagen. (121)
Rudolf Otto (1917): Religion wird in der Geschichte erstens, indem in der geschichtlichen Entwicklung des Menschengeistes im Wechselspiel von Reiz und Anlage letztere selber Aktus wird, mitgeformt und mitbestimmt durch jenes Wechselspiel; zweitens, indem kraft der Anlage selber bestimmte Teile der Geschichte ahnend erkannt werden als Erscheinung des Heiligen, deren Erkenntnis auf Art und Grad des ersten Moments einfließt; und drittens, indem auf Grund des ersten und zweiten Momentes Gemeinschaft mit dem Heiligen in Erkenntnis Gemüt und Willen sich herstellt. So ist Religion allerdings durchaus Erzeugnis von Geschichte, sofern nur Geschichte einerseits die Anlage für die Erkenntnis des Heiligen entwickelt und |18◄ ►19| andererseits selber, in Teilen, Erscheinung des Heiligen ist. ‚Natürliche‘ Religion, im Gegensatz zu geschichtlicher, gibt es nicht; angeborene Religion noch weniger.22
William James (1925): Sofern der Mensch unter dem Gefühl, daß etwas nicht in Ordnung mit ihm ist, leidet, und er diesen seinen (natürlichen) Zustand selbst als unnormal empfindet, besitzt er die ahnende Vorstellung eines vollkommeneren Zustandes, und damit besteht die Möglichkeit, daß er zu einer höheren Realität in Beziehung tritt, wenn eine solche existiert. Potentiell liegt in ihm also bereits ein Prinzip des Besseren und Höheren, wenn auch nur als bloße Keimanlage. Mit welchem Teil er sein wahres Ich identifizieren soll, ist ihm auf der ersten Stufe noch durchaus undeutlich. Aber auf Stufe 2 identifiziert der Mensch sein wahres Ich mit dem keimhaften besseren Teil seiner selbst, und zwar in folgender Weise: Er wird inne, daß dieser bessere Teil mit etwas Höherem (einem ‚Mehr‘) derselben Art in engster Verbindung steht, das außer ihm im Universum wirkt, mit dem er sich in Beziehung setzen und zu dem er sich hinüberretten kann, wenn sein ganzes niederes Sein Schiffbruch erlitten hat.23
Alfred North Whitehead (1926): Aber im einen oder anderen Sinn ist Rechtfertigung die Grundlage aller Religion. Unser Charakter entwickelt sich im Verhältnis zu unserem Glauben. Das ist die grundlegende religiöse Wahrheit, der sich niemand entziehen kann. Religion ist die Kraft des Glaubens, die die inneren Seiten des Menschen reinigt.... Religion ist die Fähigkeit und die Theorie vom inneren Leben des Menschen, soweit dies vom Menschen selbst und von dem, was beständig ist im Wesen der Dinge, abhängt. Diese Einsicht bedeutet die direkte Verneinung der Theorie, daß Religion in erster Linie ein sozialer Vorgang sei... . Religion ist das, was das Individuum mit seiner eigenen Einsamkeit anfängt. Sie durchläuft drei Stadien, wenn sie sich zu ihrer endgültigen Erfüllung entwickelt. Es ist