Weil der Mensch in seiner Kreatürlichkeit aus Gottes Liebe lebt und Gott ihm diese Liebe immer wieder zusagt, ist der Glaube als vernünftig zu bezeichnen. Denn er kann in empfangender Öffnung die vom verborgenen Gott gegebene Heilszusage als Heilsgewissheit erlangen. Die Vernunft ist vernünftig, wenn sie dem geschenkten Heil „nach-denkt“, in der Einsicht, dass sie Gott aus sich selbst nicht ergreifen bzw. konstruieren kann. Glaube und Vernunft sind aufeinander angewiesen, da nur der Glaube die natürlichen Voraussetzungen auf ihre eigentliche Bestimmung hin befragen kann, während die Vernunft die nachvollziehbare Universalität des Glaubens ermöglicht. So ist weder eine Trennung noch eine Identifizierung von Glaube und Vernunft angemessen.
Es wurde deutlich, dass der empfangende Glaube die einzig angemessene und ursprüngliche Weise ist, auf die der Mensch die im göttlichen Wort angebotene Heilsgemeinschaft annehmen kann. Denn aufgrund der menschlichen Selbsttranszendenz, die den Aspekt des Geheimnisses und die Grenzen menschlicher Erkenntnis beinhaltet, ist der sprachlich und personal konstituierte Mensch auf die Heils-Anrede Gottes angewiesen, der er sich vertrauensvoll im Glauben überlassen darf. Damit entspricht der Mensch sowohl seiner kreatürlichen Angewiesenheit auf die Liebe des Schöpfers als auch dem Angebot der hingebungsvollen Liebe Gottes, der sich als vollkommene Liebesgemeinschaft offenbart. So erkennt die „vernünftige Vernunft“ die Vernünftigkeit des Glaubens, dessen Wesen der trinitarisch erschlossenen Gleichzeitigkeit von Verborgenheit und Sichtbarkeit Gottes entspricht („Gegenüber und Nähe“). Denn nur der Glaube vermag in empfangender Öffnung die vom verborgenen Gott (Gegenüber) definitiv zugesagte Gottes- und Heilsgewissheit (Nähe) zu erlangen.51
Eine dem Glauben entsprechende Vernunft ist vernünftig, wenn sie dem Ergriffen-Sein von dieser Gemeinschaft mit Gott auf reflexe Weise nach-denkt, zumal wenn sie sich eingesteht, dass sie aufgrund der kosmologischen und anthropologischen Selbsttranszendenz und der Verborgenheit Gottes nicht in der Lage ist, Gott selbst zu ergreifen bzw. zu konstruieren. Deshalb hat sich die Vernunft im Glauben der Selbsterschließung Gottes zu öffnen. Damit geht es auch für die Vernunft darum, ob sie als selbstbehauptende Vernunft fungiert und „zuerst bei sich“52 ist, wie es in einigen durch die Aufklärung vertretenen Vorstellungen von der autonomen menschlichen Vernunft zum Tragen kommt (siehe Kap. VI,1), oder ob sie in empfangender Hermeneutik Offenheit für die Anrede von außen zeigt. Erst durch solche Anrede kann die Infragestellung bisheriger „natürlicher“ Vernunfterkenntnis erfolgen (Krisis), indem etwa durch die Heils-Anrede Gottes die selbstbehauptende Verkehrung der eigentlichen menschlichen Bestimmung hervortritt. Umgekehrt vollzieht sich diese Heils-Anrede im Kontext der „natürlichen“ Schöpfungsvoraussetzungen, die der Vernunft direkt zugänglich sind. So partizipiert die Vernunft im heilsgeschichtlich-trinitarischen Zusammenhang von Schöpfung, Erlösung und Vollendung sowohl an den natürlichen Voraussetzungen des protologischen Lebensodems der Schöpfung als auch an der eschatologischen Geist-Gabe Christi. Diese knüpft wiederum an die natürlichen Voraussetzungen an, indem die Gnade sich die Natur voraussetzt und diese kritisch auf ihre Verkehrungen hin befragt, wodurch die Natur auf ihre eigentliche Wahrheit angesprochen wird. Zugleich ist der Glaube auf die Universalität und Vernünftigkeit des in ihm enthaltenen Sinnziels ausgerichtet, weil er Rechenschaft gegenüber allen Menschen geben soll (I Petr 3,15). Deshalb gilt auch: Der Glaube fragt nach der Vernunft (lat. fides quaerens intellectum).
Von daher kann es weder eine dualistische Trennung von Glaube und Vernunft geben, die in rein fideistischer Fixierung auf den Glauben dessen vernünftig nachvollziehbare Relevanz außer Betracht lässt, noch ist eine rationalistische Identifizierung von Glaube und Vernunft angemessen, die den Glauben rein rational natürlichen Prämissen unterwirft. Ein rein rationaler Glaube erweist sich also ebenso wenig als vernünftig wie ein rein fideistischer Glaube. Vernünftig ist vielmehr allein der empfangende Glaube, der sich vor dem Hintergrund der kosmologischen, anthropologischen und theologischen Ahnung von Gott (Anknüpfungspunkte) der Selbsterschließung Gottes öffnet. Denn das vom trinitarischen Gott Geschaffene findet seine „volle Verwirklichung erst dann, wenn es in das Licht des Urbilds, welches Maß und Ziel seines Seins und Wirkens ist, gestellt wird. Deshalb ist es die vom Glauben an den dreieinigen Gott geleitete Vernunft, welche die tiefsten Potentialitäten alles Wirklichen zu entdecken und zu aktuieren vermag.“53 Im Kontext der als Krisis und Integral der Wirklichkeit fungierenden trinitarischen Selbsterschließung erweist sich nicht nur der von seinem Gegenstand bestimmte Glaube als trinitarisch geprägt, sondern auch die Vernunft, die aufgrund ihrer Schöpfungsvoraussetzungen letztlich trinitarisch ausgerichtet ist. Geschöpfliche Natur und Vernunft bleiben nämlich trotz der Sünde Anknüpfungspunkte für die Erschließung der Gemeinschaft mit dem dreieinigen Gott, weil sie darauf ausgerichtet sind: „Wenn es faktisch keine natürliche Ordnung (im traditionellen Sinn) gibt und ‚Natur‘ (Schöpfung) immer schon Anfang von trinitarischer Offenbarungs- und Heilsgeschichte ist, so gibt es auch keine natürliche Vernunft im Sinne eines ‚neutralen‘ Vermögens als jener geistigen Fähigkeit, mit der der Mensch sich die Wirklichkeit zu eigen macht, seinen eigenen Ort darin bestimmt und allenfalls noch eine unbestimmte Offenheit auf Transzendenz erfährt. Vielmehr ist auch die Vernunft faktisch geprägt von dem und ausgerichtet auf das von Gott in Freiheit eröffnete und geschenkte Ziel des Lebens mit dem dreifaltigen Gott. Und da dieses Ziel sich dem Menschen in einem geschichtlichen Offenbarungsprozeß darbietet, ist die Vernunft nicht indifferent gegenüber den sie an-gehenden geschichtlichen Bestimmungen.“54 Unter diesen Voraussetzungen wird die Offenheit der Vernunft für die Heils-Anrede Gottes transparent.
Schließlich bleibt noch darauf hinzuweisen, dass es sich beim Glauben als existentiell vertrauende Selbstübereignung an die Liebe Gottes um eine die gesamte Existenz betreffende Lebenshaltung handelt. Deshalb spielen für den Glauben neben der Vernunft auch noch das Gefühl und der Wille eine zentrale Rolle. Denn das „Bestimmtwerden durch den Adressaten des Glaubens, Gott, hat […] unmittelbar den Charakter des Sich-bestimmt-Fühlens, mittelbar den Charakter des Sich-bestimmt-Wissens und des Sich-bestimmen-Lassens. Erst in dieser Ganzheit und Einheit ist der Glaube, was er ist.“55 Dabei entspricht das Gebet, das der Haltung des Glaubens angemessen ist, in seiner sich zuwendenden, offenen, hingebenden und empfangenden Haltung der sich frei zuwendenden und hingebenden Liebe Gottes.
Literatur
Härle, Wilfried: Dogmatik, Berlin/Boston 42012.
Haudel, Matthias: Die Selbsterschließung des dreieinigen Gottes. Grundlage eines ökumenischen Offenbarungs-, Gottes- und Kirchenverständnisses (= FSÖTh 110), doppelte Aufl., Göttingen 2006.
Jüngel, Eberhard: Entsprechungen: Gott – Wahrheit – Mensch. Theologische Erörterungen (= BEvTh 88), München 1980.
Jüngel, Eberhard: Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 82010.
Kasper, Walter: Der Gott Jesu Christi (= Das Glaubensbekenntnis der Kirche 1), Mainz 1982.
Lønning, Inge: Art. „Gott VIII: Neuzeit/Systematisch-theologisch“, in: TRE 13, S. 668–708.
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1Vgl. zum Resonanzboden des Gottesbegriffs G. Ebeling: Dogmatik I, S. 182ff.
2Vgl. zum religionsgeschichtlichen Spektrum G. Lanczkowski: Art. „Gott I“, S. 601ff.
3Vgl. J. Hirschberger: Geschichte I, S. 14–243.
4Das wird in den folgenden Kapiteln noch ausgeführt. Vgl. auch M. Haudel: Selbsterschließung, S. 565–585.
5Vgl. W. Kasper: Gott, S. 358. Kasper wählt diese Formulierung in Anlehnung an J.E. Kuhn und F.A. Staudenmaier. Vgl. auch W. Pannenberg: Systematische Theologie 1, S. 363, der diesen Begriff ebenfalls übernimmt.
6E. Jüngel: Entsprechungen, S. 195 u. 185. Vgl. I. Lønning: Art. „Gott VIII“, S. 691: „Als Platzhalter eines definitiven Woraufhins ist das Wort ‚Gott‘ für das Gesamtgefüge der sprachlichen Kommunikation von eminenter Wichtigkeit.“
7W. Pannenberg: Systematische Theologie 1, S. 128, wo er auf K. Rahner zurückgreift.
8W. Kasper: Gott, S. 101.
9C. Schwöbel: Trinitätslehre,