href="#ulink_94e2c7da-3a52-5fe1-abda-e34b2074e8d8">5.Hermeneutische Bedingungen für die Erkenntnis Gottes
Aus der Transzendenz von Welt und Mensch und den Implikationen des Gottesbegriffs geht hervor, dass der Mensch aus sich selbst keine tragfähige Gotteserkenntnis ableiten kann, sondern sich in empfangender Hermeneutik der Selbsterschließung Gottes zu öffnen hat. Nur so wird er dem Zusammenhang von „Ahnung“ und „Offenbarung“ gerecht. Dieses Begriffspaar kann die geschichtliche Selbsterschließung des dreieinigen Gottes angemessen zum Ausdruck bringen: Die Offenbarungswirklichkeit wäre ohne eine vorläufige Ahnung von der göttlichen Dimension kaum verständlich zu vermitteln, während umgekehrt eine natürlich ableitbare Gotteserkenntnis die Offenbarung in feststehende Kategorien zwängen würde. Entsprechend verweist die aus menschlicher Selbsttranszendenz resultierende Ahnung von Gottes Existenz auf die Notwendigkeit seiner Selbsterschließung, welche um der allgemeinen Verständlichkeit willen wiederum an die natürlichen Voraussetzungen anknüpft. So ermöglicht die sich in Wort und Tat vollziehende heilsgeschichtliche Offenbarung des dreieinigen Gottes authentische Gotteserkenntnis und damit Heilsgewissheit. Im Blick auf das Geheimnis von Mensch, Welt und Geschichte wird offenbar, dass Gott und Mensch in der Liebe dasselbe Geheimnis teilen.
Aus den gezeigten Dimensionen der Transzendenz von Welt und Mensch sowie aus den dargelegten Implikationen des Gottesbegriffs gehen bereits die – in diesen Abschnitten angeklungenen – Bedingungen für eine angemessene Gotteserkenntnis hervor. Demnach erkennt die vernünftige Vernunft, dass sie aufgrund der kosmologischen und anthropologischen Selbsttranszendenz und der Verborgenheit Gottes nur zur Gottesidee als einem Grenzbegriff der Vernunft gelangen kann.41 Bei bewusster Betrachtung gelangt die menschliche Perspektive lediglich zu einer Ahnung von Gott, weil der Mensch aufgrund seiner über sich selbst hinausweisenden Grenzen die alles bestimmende göttliche Wirklichkeit nicht zu erfassen vermag – zumal sich der Grund des Seins als selbstursächliche und unverfügbare Eigenwirklichkeit aufdrängt, die hinter dem Geheimnis menschlicher Transzendenz steht. Werden diese Bedingungen ernst genommen, müsste den Menschen deutlich sein, dass sie Gott weder aus anthropologischen noch aus kosmologischen Voraussetzungen ableiten können. Die Menschen sind nicht in der Lage, sich selbst ein tragfähiges Bild bzw. Bildnis von Gott zu machen, weil sie keine dem Erkenntnisgegenstand angemessene Möglichkeit haben, diesen zu rekonstruieren. Zudem verweist die personale Struktur des Menschen als Bedingung und Anknüpfungspunkt der Gottesidee auf ein personales göttliches Gegenüber, das sich dem Menschen vermitteln kann und Antwort auf das Geheimnis menschlicher Personalität in ihrem universalen Kontext zu geben vermag. Die mit der Charakteristik von Personalität einhergehende unverfügbare Eigenwirklichkeit korrespondiert den entsprechenden Dimensionen der Gottesidee und beinhaltet, dass sich Gott wie der Mensch verschließen und erschließen kann. Wird diese in unterschiedlichen Facetten hervortretende selbstursächliche Freiheit wahrgenommen, die sich mit der für die Menschen nicht greifbaren Dimension Gottes verbindet, kann der Mensch Gott nicht spekulativ konstruieren, sondern muss sich in empfangender Hermeneutik der – möglicherweise erfolgenden bzw. erfolgten – Selbsterschließung Gottes öffnen, wenn er zu tragfähiger und begründeter Gotteserkenntnis gelangen will. Denn nur wenn sich der Mensch in hermeneutischer Offenheit „auf den Ort der (erhofften) Selbsterschließung Gottes“42 ausrichtet, werden die Gottheit Gottes und die Kreatürlichkeit des Menschen ernst genommen.
Vor diesem Hintergrund ist das Verhältnis von „Natürlicher Theologie“ und „Offenbarungstheologie“ bzw. das Verhältnis von „natürlicher und übernatürlicher Offenbarung“ (De Deo uno – De Deo trino) zu modifizieren. Denn schon in der Scholastik wurde die Trinitätslehre durch die natürliche Vorordnung des Traktats „De Deo uno“ zunehmend funktionslos für die Lehre von Gott und die Lehre vom Heil des Menschen (Soteriologie), so dass der christliche Gottesbegriff seine theologische und kirchliche Tragweite zugunsten einer aus natürlichen Grundlagen rekonstruierten Einheit Gottes verlor. Deshalb ist daran zu erinnern, dass bereits der Kirchenvater Gregor von Nazianz (ca. 325–390) aus gutem Grund die Alternative zwischen natürlicher und übernatürlicher Offenbarung überwand, indem er die natürliche bzw. ableitbare rationale Erkenntnis (kataphatisch) mit der übernatürlich orientierten Erkenntnis vermittelte, die das göttliche Geheimnis nicht zu umschreiben vermag (apophatisch). Die Vermittlung geschieht durch die dritte Dimension der existentiellen Erkenntnis (Erfahrung), in der sich kataphatische und apophatische Dimension verbinden (Oratio 28ff.). Wie in der paulinischen Theologie (Röm 1,18–20; 2,14f.) existiert eine natürliche Gottesahnung, die auf Gottes Existenz hinweist, aber aufgrund der Transzendenz von Mensch und Welt sowie der menschlichen Selbstvergöttlichungsneigung (Verkehrung natürlicher Hinweise) ambivalent bleibt (Röm 1,21ff.). So bedarf die natürlich-kataphatische Ahnung von Gott der apophatischen Offenbarungserkenntnis, insofern als das apophatische Moment nicht die Unerkennbarkeit Gottes beinhaltet, sondern auf die transzendente, personale und somit freie Wirklichkeit Gottes verweist, die nur durch die Selbsterschließung Gottes zugänglich wird. Diese Selbsterschließung vollzieht sich in der Heilsgeschichte – und damit unter den Bedingungen der Welt. Die Selbsterschließung Gottes in der heilsgeschichtlichen Wirklichkeit knüpft also um der Verständlichkeit des Offenbarten willen an die natürliche Ahnung von Gott an, welche wiederum der selbsterschließenden Offenbarung des göttlichen Geheimnisses bedarf. Dadurch ist sowohl die Gottheit Gottes bzw. die Eigenständigkeit der Offenbarung gewährleistet als auch deren Relevanz für die Wirklichkeit des Menschen und der Welt (Universalität).
Um dieses differenzierte Offenbarungsverständnis, das den Bedingungen der Gotteserkenntnis angemessen ist, zum Ausdruck zu bringen und vor bisherigen Einseitigkeiten zu schützen, hat der Verfasser das Begriffspaar „Ahnung – Offenbarung“ eingeführt. So schützt der Begriff Ahnung gegenüber den Begriffen „natürliche Theologie“ oder „natürliche Offenbarung“ besser davor, durch rationale Ableitungen oder metaphysische Rückschlussverfahren aus natürlichen Voraussetzungen einen spekulativen Gottesbegriff zu rekonstruieren. Gleichzeitig beinhaltet der Begriff aber auch die natürlichen Anknüpfungspunkte der Gotteserkenntnis. Er erlaubt also weder eine natürlich-theologische Definition Gottes, die zum Kriterium der übernatürlichen Offenbarung wird (Vorordnung des „De Deo uno“), noch eine Offenbarungstheologie, die natürliche Anknüpfungspunkte als Voraussetzung der Verständlichkeit und Universalität des Offenbarten vernachlässigt. So wird der in den bisherigen Begriffspaaren bestehenden Gefahr einer pauschalen Polarität gewehrt. Der in dem neu gewählten Begriffspaar nur einmal vorkommende Begriff Offenbarung schützt wiederum vor der Gefahr einer undifferenzierten Nivellierung, die bei der Rede von „natürlicher Offenbarung“ und „übernatürlicher Offenbarung“ besteht, weil eine solche Terminologie die Offenbarungsqualität beider Seiten als gleichwertig erscheinen lässt, wodurch natürliche Erkenntnis erneut zum Maßstab heilsgeschichtlicher Offenbarung werden kann (kriteriologische Vorordnung des Traktats „De Deo uno“). So gewährleistet das Begriffspaar „Ahnung – Offenbarung“ die Beachtung des folgenden offenbarungstheologischen Zusammenhangs: Die Offenbarungswirklichkeit wäre ohne eine vorläufige Ahnung von der göttlichen Dimension kaum verständlich zur Sprache zu bringen, während umgekehrt eine natürlich-apriorische Gotteserkenntnis die Offenbarung lediglich unter feststehende Kategorien subsumieren würde, die zudem den Charakter spekulativer Rekonstruktion hätten.43
Die genannten offenbarungstheologischen Zusammenhänge werden auch durch die Implikationen der biblischen Aussage bestätigt, dass niemand den in einem unzugänglichen Licht wohnenden Gott je gesehen hat (Joh 1,18a; 6,46; I Tim 6,16; I Joh 4,12). Denn damit ist nicht die grundsätzliche Unkenntlichkeit Gottes gemeint, sondern der Aspekt seines transzendentalen und personalen Geheimnisses, welches Gott als von sich aus Redender und Handelnder selbst in der menschlichen Geschichte erschließt: „[…] der Eingeborene, der Gott ist und in des Vaters Schoß ist, der hat ihn uns verkündigt“ (Joh 1,18b). Zugleich deutet sich hier eine weitere zentrale hermeneutische Bedingung angemessener Gotteserkenntnis an, nämlich die Tatsache, dass sich die trinitarische Selbsterschließung Gottes in der gegenseitigen Abhängigkeit bzw. Interdependenz von Wort- und Tatoffenbarung vollzieht. Weil sich die biblisch bezeugte Wort- und Tatoffenbarung Gottes in gegenseitiger Bestätigung zu einer großen Geschichtslinie verbindet, wird die authentische44 personale Selbsterschließung Gottes ermöglicht: Der sich im Heiligen Geist und im Sohn Jesus Christus auch als himmlischer Vater erschließende dreieinige Gott