Günter Fröhlich

Platon und die Grundfragen der Philosophie


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sind (Symposion 221e).1

      Das Ziel all unseres Nachdenkens – egal um welchen Gegenstand es sich dabei handelt – liegt für Platon darin, ein rechtes Leben zu führen (vgl. Wolf 1999, 32–36). Es ist offensichtlich, dass wir das auf verschiedene Weisen tun und auch tun können. Dieser Umstand ist Platon auf der einen Seite so wichtig, dass er schon die Bedeutung der Frage, wie wir richtig leben sollen, durch die Art des Umgangs mit ihr schützen möchte. Er ist sich bewusst, dass wir unser Leben selbst führen und verantworten müssen, also will er uns keine eindeutigen Anweisungen dafür geben. Er ist aber wohl überzeugt davon, eine Methode gefunden zu haben, die uns bei der Beantwortung der Frage unterstützen kann. Diese Grundfrage weitet Platon aus auf alle möglichen Themenbereiche, von der Naturphilosophie zur Metaphysik und Ontologie, von der Erkenntnis bis zur Religion, von der Psychologie über die Rhetorik zur Kunst und seiner Frage nach dem Schönen.

      Die wichtigste Einsicht besteht zunächst einmal darin, dass sich die Frage nach dem rechten Leben nicht von selbst beantwortet. Aber das allein würde nicht rechtfertigen, warum Platon seine Ansichten immer nur indirekt vermittelt. Dass das Leben nicht einfach ist und dass wir uns ständig fragen müssen, was gerade am besten zu tun ist, wird den meisten Menschen bewusst sein. Die größere Gefahr besteht für Platon dagegen in den schnellen Antworten, in den einfachen Sätzen, und in ihrem unverstandenen Reproduzieren.

      Wir dürfen also nicht nur die richtigen Sätze glauben und hersagen können, sondern wir müssen wirklich verstehen, was mit diesen gemeint ist. Das gelingt uns niemals dadurch, dass uns jemand sagt, was richtig ist und was falsch, sondern ausschließlich dadurch, dass wir selbst darauf kommen, durch eigenes Nachdenken und Verstehen.

      Diese Arbeit kann und will uns Platon nicht abnehmen. Seine Anleitung zum Denken, die ihn zum Vater der Philosophie hat werden lassen, ist so geartet, dass ein Leser mit ihm erst ins Gespräch kommen muss, für das er allerdings selbst ganz und gar verantwortlich ist. Platon hat seine Texte so gestaltet, dass er sich einer eindeutigen Beantwortung unserer Fragen fortwährend entzieht. Zumeist gibt er uns mehrere Antworten an die Hand. Wir können also bis heute über diese Fragen diskutieren – ein erster Grund für die fortwährende Aktualität seiner Texte. Zugegebenermaßen will er uns manchmal auch an der Nase führen, damit wir endlich selber nachdenken. Die generelle Interpretationsoffenheit seiner Texte ist ein weiterer Grund für seine bleibende Aktualität – was dazu führt, wie Michael Erler betont, dass „jede Zeit … ‚ihren‘ Platon“ (Erler 2006, 209; vgl. auch Frede 1999, 177) hat. Ein dritter Grund besteht schließlich in der Lebendigkeit seiner Texte: Durch die Form des Dialogs und durch die Gestaltung und den Aufbau seines Argumentierens haben wir Leser tatsächlich den Eindruck, unmittelbare Zeugen eines wirklichen Gesprächs zu sein.

      Für Platon ist dies alles kein Selbstzweck, um seine überlegene Einsicht zu demonstrieren. Seine Leser und ihre Art zu leben, sind ihm ein wirkliches und sehr wichtiges Anliegen. Nur das rechte Verstehen, das von der Einsicht in die generellen Grenzen des menschlichen Wissens wie um die persönlichen Beschränkungen des Einzelnen begleitet wird, garantiert die bewusste und selbst bestimmte Lebensweise. Nur diese führt uns nach Platons Ansicht zur Harmonie unserer seelischen und geistigen Kräfte. Einzig diesen Zustand können wir Menschen zu Recht als Glückseligkeit bezeichnen.

      Die zentrale Figur in Platons Dialogen ist Sokrates. Wenn man sich als Jugendlicher im damaligen Athen nur ein wenig auf den Straßen und Plätzen aufhielt, war es am Ende des fünften Jahrhunderts wohl nicht möglich, Sokrates nicht zu begegnen. Er war eine stadtbekannte Persönlichkeit und es muss für die Jungen ein Spaß gewesen sein, ihm zuzuhören, wenn er in seinen Gesprächen den Hochmut der Älteren vorführte (vgl. Apologie 23c). Platon gehörte wohl zu einem Kreis solcher jungen Heranwachsenden aus den besten und reichsten Familien Athens, die des Öfteren Zeugen solcher Zwiesprachen waren.

      Um jemanden vorzuführen, indem man ihm beweist, dass er den letzten Grund seines Wissens nicht angeben kann, braucht man eine gewisse Geschicklichkeit. Wenn man dann aber selber keine Antworten auf die Fragen hat, mit denen man den anderen konfrontierte, wirkt das hilflos und vielleicht ein wenig lächerlich.

      Platon hat in der Art und Weise, wie Sokrates argumentiert und reflektiert hat, dennoch mehr gesehen.2 Das Neue an der sokratischen Denkweise sieht er im Stellen von Fragen, ohne sich mit schnellen, tiefsinnigen oder auch gut überlegten Antworten zufrieden zu geben. Philosophische Fragen sind ewige Fragen, weil sie die Zerrissenheit und die Ambivalenz des Menschen, die unüberwindlich sind, in ihr Zentrum stellen.

      Das Eingeständnis, selbst nicht recht weiter zu wissen, verbunden mit der unbedingten Suche nach dem besten Sinn der Frage und der überzeugendsten Antwort, hat Sokrates mit seinem „Ich weiß, dass ich nichts weiß!“ vollzogen. Dieses sokratische Nicht-Wissen ist aber keine blanke und zynische Dummheit, sondern die entscheidende Einsicht, dass all unser Wissen auf Voraussetzungen beruht, die wir letztendlich niemals einholen können (vgl. Mojsisch 1996, 169). Diese Einsicht aber wird zynisch und fatal, wenn sie sich nicht mit der Einsicht in die Notwendigkeit paart, nach der wir keine andere Wahl haben, als unser Wissen und unsere Lebensführung zu überprüfen, um alles danach einzurichten, was uns am ehesten richtig erscheint.

      Diese sokratische Denkweise und seine Methode führten zu einem neuen Begriff der Philosophie, den uns Platon in seinen Dialogen ausdeutet: Darunter wird nicht die Weisheit positiv gesicherter Erkenntnisse verstanden, sondern das Streben und die Suche nach dem besten Sinn (logos) unseres Lebens. Wir können mit Platons Sokrates auch sagen: Die Philosophie besteht in der Liebe zur Weisheit.3

      Dieser Kern der Philosophie Platons, den wir aus seinen Texten herausschälen können, hat ihm eine ungeheure Freiheit in den Möglichkeiten der literarischen Darstellung beschert. Die logische, die argumentative, die reflexive Struktur findet sich bei Platon immer nur als Form des logos.4 Entscheidend aber sind die Inhalte – und die, so können wir Platon verstehen, können wir von überallher nehmen, aus den tradierten Mythen oder aus selbst erfundenen, aus Gehörtem, aus Gelesenem, daraus, was die Leute meinen, oder von den Weisen, von Homer oder von anderen berühmten Dichtern. Platon legt den Menschen seiner Zeit, dem Sokrates, seinen Brüdern, Politikern, Sophisten, Rhetoren, Militärs, Sklaven, Jungen, Alten alles Mögliche in den Mund. Es geht ihm aber nicht darum, was jene wirklich gesagt oder gedacht haben, sondern um den Sinn der Fragen und der angebotenen Lösungen (also darum, was da überhaupt gefragt wird), ihre Überprüfung, dem Verwerfen und dem Geltenlassen (vgl. Wieland 1996, 16 f.). Viel lässt Platon zugegebenermaßen oftmals nicht stehen, im Theaitet wird ein sehr sinnvolles Ergebnis, kurz nachdem es gewonnen wurde, wieder mutwillig zerstört. Aber Platon will auf keinen Fall, dass ein Leser aus seinen Texten eindeutige Ergebnisse herauszieht und sich auf deren Wiederholung beschränkt, ohne dass er den Sinn eines solchen Ergebnisses wirklich verstanden hat. Verstanden hat er ihn, wenn er die Gedanken selbständig hervorgebracht hat und hervorbringen kann, in keinem Fall aber durch bloßes Nachreden.

      Über Platon selbst und sein Leben wissen wir nicht sehr viel Gesichertes. Er lebte in Athen im fünften und vierten Jahrhundert v.Chr., wohl etwa von 427 bis 347 v.Chr., entstammte dem athenischen Hochadel – Sokrates war der Sohn eines Handwerkers – und seine Lebensbestimmung war es sicher, in die Politik zu gehen. Von dieser war Platon tief enttäuscht, was nicht zuletzt an den damaligen politischen Verhältnissen lag. Athen stand in einem fast dreißig Jahre dauernden Krieg mit Sparta, durch dessen Verlauf und der Niederlage es seine politische Vormachtstellung in Griechenland, welche die fünfzig Jahre davor bestand, einbüßte. Eine große Zahl der Bürger war in einem halsbrecherischen Unternehmen in Sizilien, das die Athener erobern wollten, gefallen, die Pest und der lange Kriegsverlauf hatte die Bevölkerung weiter dezimiert.

      Die Schuld daran gab man der athenischen Verfassung – einer Demokratie mit fast schon extrem anmutenden plebiszitären