eigenen Vorteil. Sokrates dagegen geht es offensichtlich immer nur um die Sache, und darum, sein Gegenüber von seinen Irrtümern zu befreien. Die Sache erfahren wir aber nur, wenn wir bedingungslos die Was-Frage stellen. Zu fragen, was etwas ist, gehört damit unmittelbar zur Philosophie, aber ebenso zum Menschsein. Sein Ziel sind freilich auch Kenntnisse, denn, so war er überzeugt, nur der Weise kann glücklich sein – oft in der ironischen Verbrämung: Wenn wir Menschen schon nichts Rechtes wissen können, dann soll uns das wenigstens bewusst sein. Ähnlichkeit mit den Sophisten weist Sokrates in der Darstellung bei Platon nur in einem Punkt auf, nämlich dass er alle Tricks und Schliche der Sophisten kennt. Sonst wäre er aber auch nicht in der Lage, diesen auf die Spur zu kommen.
1.8 Platon und die philosophische Tradition
Platons Wirkung auf die ihm nachfolgende Geistesentwicklung ist definitiv nicht zu überschätzen, so dass das bekannte Diktum Alfred North Whiteheads immer noch seine Berechtigung hat. Danach besteht die gesamte Geistesgeschichte nur aus Fußnoten zu Platon (vgl. Whitehead 1995, 91). Lange Zeit wurde Aristoteles als eine Art Gegenspieler der Philosophie Platons angesehen, obwohl man freilich wusste, dass dieser Schüler Platons gewesen war. Nach und nach aber hat sich erwiesen, dass Aristoteles Lehre weitgehend auf dem Platonischen Fundament ruht, auch wenn er vielfältige neue Entwicklungen angestoßen hat. Die erste Rezeption geschah innerhalb der Akademie unmittelbar unter Platons Nachfolgern und schon zu seinen Lebzeiten. Dort wechselten sich später Phasen einer dogmatischen und einer skeptischen Ausrichtung ab. Vieles wurde auch aus den anderen großen Philosophenschulen der Antike, dem Peripatos (Aristoteles), der Stoa (Zenon) und dem Kepos (Epikur) übernommen. Über die römische Philosophie, vor allem bei Cicero, ist vieles bis ins Mittelalter weitergegeben worden. Mit Plotin setzt eine eher dogmatische Weiterentwicklung der Philosophie Platons ein, die sich allerdings ganz im Bewusstsein der getreuen Rezeption wähnte. In der Renaissance vergewisserte man sich wieder nach und nach der Schriften Platons und interpretierte seine Philosophie von dort aus. Die Basis für ein Studium der Texte hat sich im Laufe der Zeit immer weiter verbreitet und überall an den Universitäten in ganz Europa durchgesetzt. Dabei gab es stets Phasen einer unmittelbaren Anknüpfung an genuin platonische Philosophie, sei es bei den Cambridge Platonists im siebzehnten Jahrhundert in England, im neunzehnten bei Schleiermacher oder im zwanzigsten bei Cohen und Natorp in Marburg.
So reicht das Interesse an seinen Texten bis in die heutige Zeit, schon weil er vielen „Wahrheiten“, von denen wir heute überzeugt sind, die Richtung gegeben hat. Platon zu verstehen, bedeutet nicht zuletzt einen wichtigen Teil der heutigen Welt überhaupt erst einordnen zu können, weil diese auf dem Fundus der tradierten Gedanken ruht. Maßgeblich gilt das dafür, wie sie ist, und weniger, wie wir diese gerne hätten.
Die folgenden Kapitel geben einen Einblick in Platons Philosophie und in die Grundlagen seines umfassenden Denkens. Sie argumentieren eng an den Texten, werden aber die eigene Lektüre der Schriften selbst nicht ersetzen können. Insofern verstehe ich sie als Hilfestellung und Hinführung zu Platons Denken. Mit Platon aber kann ich sagen: Nur was selbst eingesehen ist, wird von Wert sein, und einzig das, was von Wert ist, hilft uns für unser Leben.
Weiterführende Literatur
Tilman Borsche, „Die Notwendigkeit der Ideen: Politeia“, in: Kobusch u. a. 1996, 96–114.
Dorothea Frede, „Platons Dialoge als Hypomnemata – Zur Methodik der Platonsdeutung“, in: Schiemannn u. a. 2006, 41–58.
Wolfgang Detel, „Eros und Wissen in Platons Symposion“, in: Schiemann u. a. 2006, 137–153.
Christoph Horn, „‚Niemand handelt freiwillig schlecht‘. Moralischer Intellektualismus in Platons Nomoi?“, in: van Ackeren 2004, 168–182.
Theo Kobusch, „Wie man leben soll: Gorgias“, in: Kobusch u. a. 1996, 47–63.
Ekkehard Martens, Platons Fußnoten zu Sokrates“, in: Schiemann u. a. 2006, 59–69.
Burkhard Mojsisch, „‚Dialektik‘ und ‚Dialog‘: Politeia, Theaitetos, Sophistes“, in: Kobusch u. a. 1996, 167–180.
Terry Penner, „Socrates and the early dialogues“, in: Kraut 1992, 121–179.
Rudolf Rehn, „Der entzauberte Eros: Symposion“, in: Kobusch u. a. 1996, 81–95.
Jan Szaif, „Die Alêtheia in Platons Tugendlehre“, in: van Ackeren 2004, 183–209.
Wolfgang Wieland, „Das sokratische Erbe: Laches“, in: Kobusch u. a. 1996, 5–24.
1Die Übersetzung der Texte Platons folgt durchgängig der Schleiermachers.
2Eine Skizzierung der Bedeutung von Sokrates für Platon bringt Kutschera 2002/1, 13–37.
3Eine einführend sehr gute Zusammenstellung der sokratischen Frage bringt Wieland 1996, 6–8; vgl. für das sokratische Nichtwissen auch ebd. 17–19. Über die Anregungen, die Platon von Sokrates erfahren, und die Art, wie die Sorge um die beste Lebensführung in seinen Schriften Eingang gefunden hat, vgl. Martens 2006.
4Der logos umschreibt im Griechischen all unsere intellektuellen Fähigkeiten (Verstand, Vernunft, Bildung von Sinneinheiten) und ist somit auch die Voraussetzung für die Sprache.
5Der Protagoras scheint in der Rahmenhandlung sogar die Hauptaussage Platons in diesem Dialog zu verbergen (vgl. Fröhlich 2004).
6Zur Konstruktion der Rahmenhandlungen bei Platon vgl. auch Wieland 1996, 11.
7Rowe verwendet dafür das griffige Bild von einer Art asymptotischen Annäherung an die Wahrheit (vgl Rowe 1998, 176, 187, 197). Bei der genuin ethischen Ausrichtung des Philosophierens bei Platon greift die mathematische Metapher allerdings zu kurz: Der Mensch soll seine Entscheidungen rechtfertigen, d. h. die Wahrheit seiner Anschauungen hat sich in der Lebenswelt zu erfüllen, auch wenn wir gleichzeitig immer überzeugt sein sollten, dass diese revidiert werden können. In diesem Sinne sehr viel adäquater erscheint mir die Konzeption von Detel 2006, 149. Vgl. zum Begriff der Wahrheit bei Platon Szaif 1996.
8Vgl. hierzu auch Kobusch 1996, 59, 62; sowie Borsche 1996, 96.
9Vgl. für eine Diskussion dieser These in den Nomoi vor allem Horn 2004.
10Zur Ambivalenz sokratischer Definitionen vgl. Wieland 1996, 12 f.; vgl. auch Bordt 2004, 55–73.
11Manchmal wird angenommen, der literarische Sokrates entferne sich inhaltlich immer mehr von der historischen Figur, je später die Dialoge Platons zu datieren sind (vgl. z. B. Penner 1992). Wenn der Schwerpunkt aber nicht auf Lehrmeinungen – die wir bei Platon ohnehin nur schwer identifizieren können – oder auf der Differenziertheit der Argumente liegt, und es uns mehr um die Haltung zur Philosophie von Sokrates geht, wird der frühe und der späte Sokrates bei Platon eher große Ähnlichkeiten aufweisen.
12Sehr viel Erhellendes zum Begriff der Wahrheit (aletheia) bei Platon bringt Szaif (Szaif 2004); allerdings weist er nur unzureichend auf den für Platon zentralen Aspekt des Strebens nach der Wahrheit hin: Für Platon gibt es keinen „Zustand der vollen Einsicht“ (ebd., 195; vgl. auch ebd., 202).
13Die Bedeutung dieser Umbrüche für die ethischen Begriffe erläutert Stemmer 1992, 4–12.
2. Die Hebammenkunst des Sokrates
Das philosophische Wissen kreist um die wichtigen Fragen, wie wir unser Leben führen wollen. Es soll uns Orientierung geben. Doch sicheres Wissen für alle Wechselfälle des Lebens kann es natürlicherweise nicht geben. Philosophisches Wissen kann also kein positives Wissen sein, das auf eine Frage eine eindeutige Antwort gibt. Sokrates bestreitet für sich auch jedes positive Wissen. Er behauptet allerdings, ein philosophisches Unterscheidungswissen zu haben, das ihn erstens befähigt, bei von anderen geäußerten Meinungen gleich zu sehen, ob es sich dabei um etwas Sinnvolles handelt, und zweitens beherrscht er eine Methode, wie die Meinung überprüft und begründet werden kann. Dadurch verhilft er anderen zu einem Wissen, das er selbst nicht hat.