Günter Fröhlich

Platon und die Grundfragen der Philosophie


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bisher Gesagten“ bis zum „Vielleicht“ oder einem „Wenn du denn meinst“ reicht hier die Spanne. Was als Unausgewogenheit erscheint, weil Sokrates immer gar so sehr den Ton angibt, erleichtert dem Leser wesentlich die Identifizierung mit dem Gesprächsverlauf und mit dem Gesprächspartner des Sokrates, denn, wenn wir einen Text lesen, können wir unsere Kommentare zum Gesagten auch nicht einfach in das Gespräch einbringen. Platons Hauptinteresse besteht allerdings darin, dass er sein Gegenüber, Gesprächspartner wie Leser von Irrtümern und Vorurteilen befreien will.

      Platon erzählt also keine bloßen Geschichten nur zur Unterhaltung und er will keine philosophischen Lehrmeinungen vorstellen. Es geht ihm allein um die Sache, mit der er sich direkt an den Leser wendet und den er motivieren will, weiter über die aufgeworfenen Fragen nachzudenken. Selbst gute Argumente unterzieht er gerne einer Kritik, und Sokrates führt vieles von dem, was er vorbringt, auf die Ansicht von anderen zurück. Er will offenbar nicht selbst für diese einstehen. Überhaupt nimmt er die Haltung an, sich konsequent als einen darzustellen, der die Wahrheit nicht weiß, sondern diese nur sucht. Das „Ich weiß, dass ich nichts weiß!“ scheint historisch tatsächlich vom lebenden Sokrates zu stammen. Der Leser erhält dadurch die Gelegenheit, sich nicht nur mit den Antwortenden zu identifizieren, sondern auch mit Sokrates: Das Durchnehmen der Sache entlang der Argumentation des Wahrheitssuchers Sokrates ist wichtiger als ein eindeutiges und gesichertes Ergebnis.7

      Eine Frage liegt bei Platon allen anderen zugrunde. Sie lautet: „Wie soll ich leben?“8 Ihr ordnet sich auch jedes theoretische Wissen unter. Umgekehrt wird das moralische Verhalten bei Platon intellektualisiert: Bei der Tugend muss es sich um eine Form des Wissens handeln, welche analog zu anderen Wissensarten zu untersuchen ist (vgl. van Ackeren 2003, 1 ff., 339 f.). Eine Differenzierung zwischen praktischer und theoretischer Philosophie, zwischen Ethik und Erkenntnis, gibt es bei Platon ohnehin nicht. Das finden wir erst bei Aristoteles. Von daher und im Durchgang seiner Dialoge lassen sich wohl vier Grundeinsichten für Platon nachweisen, die fast sicher auch von Sokrates vertreten wurden:

      –Wissen und richtige Meinung müssen unterschieden werden.

      –Die Tugend stellt ein besonderes Wissen dar.

      –Unrecht entsteht immer aus Unkenntnis, niemand tut also freiwillig etwas Unrechtes (vgl. von Apologie 25e bis Timaios 86de).9

      –Der Gerechte ist glücklich (vgl. Erler 2006, 46).

      Aristoteles hebt für die philosophische Methode hervor, dass Sokrates angefangen habe, induktiv zu argumentieren und nach Definitionen gesucht zu haben, die etwas Allgemeines ausdrücken (vgl. Metaphysik 1,6 987b, 13,4 1078b).10

      Über Sokrates selbst wissen wir wenig. Der platonische Sokrates ist eine Kunstfigur.11 Platon stellt ihn als den vollendeten Philosophen dar. Wenn Sokrates an irgendeiner Stelle ausführt, wie ein Philosoph reden, denken und handeln soll, dann führt er es selbst exemplarisch vor. Sicher hat Platon die Art und den Charakter des Sokrates vor allem in den frühen Dialogen nicht vollkommen entstellt, die Idealisierung in der Zeichnung der Figur ist trotzdem unübersehbar. Trotz seines behaupteten Nichtwissens stellt Sokrates in jeder Hinsicht die alles überlegene Instanz dar: Er ist am gebildetsten und am aufrichtigsten, er weiß, in welche Richtung die Argumentation und das Gespräch gehen müssen, entdeckt Widersprüche und fehlerhafte Annahmen bei seinen Gesprächspartnern oder auch bei sich selbst, hat das beste, genaueste und detaillierteste Gedächtnis (obwohl er dauernd betont, dass er sich nichts merken oder dass er sich nicht erinnern könnte), er richtet sich nach seinem Gesprächspartner und dessen geistigen Hintergrund, er beruft sich nicht auf überlegene Autoritäten und er hat immer die untersuchte Sache im Blick.

      Diese unbedingte Verpflichtung auf die Wahrheit der Sache ist schwierig durchzuführen, anstrengend und zuletzt gefährlich. Unsere Interessen vertragen sich nämlich nicht mit der Wahrheit. Sokrates ist einigen seiner Mitbürger so lästig geworden, dass diese ihn anklagten, er verderbe die Jugend und führe neue Götter ein, und vor Gericht brachten. Bei einem Asebieprozess wegen Gottlosigkeit oder Frevel gegen die Götter drohte von Anfang an die Todesstrafe, die von den fünfhundert Geschworenenrichtern dann auch verhängt wurde. Wenn man der Apologie folgt, hat Sokrates die Richter allerdings sehr provoziert. Üblich war es vor Gericht zu jammern und um Gnade zu bitten. Sokrates dagegen hat gesagt, er werde sich weiterhin auf Wahrheitssuche begeben, und wenn er in der Vergangenheit lästig gewesen sei, so werde er das in Zukunft auch bleiben.

      Dennoch ist die Hinrichtung des Sokrates – er musste sich selbst mit Schierling töten, einem Nervengift, das die Atmung lähmt – ein Mahnmal. Aristoteles soll aus Athen geflohen sein, damit die Athener sich nicht zum zweiten Mal an der Philosophie vergehen können. Für Platon heißt das aber generell, dass das Philosophieren gefährlich ist. Im Höhlengleichnis beschreibt er, wie der wissende Philosoph in die Höhle zurückkehren muss, um die in ihrer Unwissenheit Gefangenen von der Wahrheit zu überzeugen. Die aber haben sich in ihrer Weltsicht eingerichtet. Zunächst lachen sie, dann versichern sie sich untereinander, dass es nicht lohnt, aus der Höhle zu schauen. Wenn man aber versucht, sie loszubinden und zu zwingen hinaufzusteigen, werden sie ihrerseits versuchen, einen umzubringen (vgl. Politeia 517a).

      Diese Wahrheitssuche hat sich Sokrates zur Lebensaufgabe gemacht (vgl. Rehn 1996, 83).12 Er verbrachte die Tage auf den Marktplätzen und den Sportstätten und fragte die Leute darüber aus, was sie wüssten – übrigens sehr zum Ärger seiner Frau Xanthippe, was verständlich ist, denn die Familie lebte nicht in den besten Umständen; dass der Name der Armen zum Sinnbild für das zänkische Weib wurde, ist deswegen nicht gerecht.

      Einige, Politiker, Dichter, Handwerker und Sophisten, bildeten sich viel auf ihre Kenntnisse in allen Bereichen der Wissenschaften und des öffentlichen Lebens ein. Sokrates zeigte ihnen, dass das vielfach nur „Dünkelwissen“, also der Schein von Wissen sei, und nichts Rechtes. Dadurch ist er wohl unbeliebt geworden, und einige haben ihn vor Gericht gestellt. Bei Platon unterhält sich Sokrates mit Jugendlichen, Mathematikern, Politikern, Rhapsoden, Generalen, seinen Brüdern, meistens aber mit Sophisten.

      Die Sophisten waren Lehrer, in erster Linie für Rhetorik und dann ganz allgemein auch dafür, wie man seine Interessen durchsetzt. Sie sind einerseits eine Erscheinung der griechischen Demokratie, in der es viel auf den überzeugenden Auftritt vor den Volksversammlungen und vor Gericht ankam. Andererseits haben sie Entscheidendes für die griechische Aufklärung getan. Sie nahmen für sich in Anspruch, das, was wissenswert war, zu vermitteln, deswegen nannte man sie auch „Weise“, auf Griechisch sophistai.13

      Bei Platon kommen die Sophisten schlecht weg. Erstens nehmen sie Geld für ihre Kenntnisse, zweitens sei es mit ihrem angeblichen Wissen nicht weit her. Die Sophisten zogen von Stadt zu Stadt, um ihre Kenntnisse der reichen politischen Schicht, und vor allem dem Nachwuchs, feilzubieten. Trotz Platons Abwertungen waren die Leute offenbar angesehen. Allerdings wird Hippokrates im Protagoras schamrot, als er zugeben muss, dass er selbst auch Sophist werden will, wenn er sich zu einem solchen in die Lehre begibt. Der Stelle geht der Witz verloren, wenn Sophisten einen allgemein guten Ruf hätten. Auch bei Aristophanes kommen die Sophisten nicht gut weg. Das ist vielleicht noch authentischer, weil er zu deren Blütezeit schreibt, und nicht rückblickend wie Platon; denn eine Schuld an den Auswüchsen der Demokratie in Athen wird man den Sophisten schon damals angelastet haben.

      Weit schwerer als die Bezahlung wog sicher, dass Wissen und Sprache bei den Sophisten vollkommen instrumentalisiert wurden. Sinnvoll sei eben nur das, was uns in der Welt erfolgreich weiterbringt. Wir sollten uns den Sophisten zufolge auf das, was uns unmittelbar vor Augen liegt, konzentrieren. Die Bildung als Selbstzweck der Seele und die Suche nach Wahrheit weichen einer Kritik aller tradierten Vorstellungen und einer radikalen Relativierung aller Werte. Sowohl was die Kenntnisse als auch was die Lebensführung angeht, betont Sokrates immer wieder, dass er nichts Sicheres wisse. Platon entwirft damit ein „bewusst angelegtes Kontrastprogramm zur Vorstellung der Sophisten“ (Erler 2007, 65). Die Sophisten geben die Antworten, Sokrates dagegen stellt die richtigen und zuletzt unlösbaren Fragen (vgl. Wieland 1996, 6, 8, 24).

      Sokrates,