Nein, das sicher nicht! Aber letztlich helfen die Erfahrungen von anderen wenig, wir müssen das meiste selbst erleben. Das führt uns zum entscheidenden Punkt: Wissen besitzt man nicht wie eine Hose oder ein Haus. Diese Dinge bestehen auch unabhängig von uns. Wissen dagegen können wir mit anderen teilen, ohne dass wir es dadurch verlieren würden.
Das Wissen und unsere Erfahrungen sind unmittelbar von uns selbst abhängig, d. h. wir müssen sie auch selbst hervorbringen. Das hat einen spezifisch pädagogischen Sinn – wie so vieles bei Platon. Es bedeutet, dass niemand einem anderen etwas beibringen oder lehren kann, was dieser nicht selbst in seiner Seele und völlig für sich hervorbringt. Wissen muss begriffen werden, selbst nachvollzogen, von sich aus geboren werden. Ob ich verstehe, was mir jemand erklärt, hängt letztlich von mir ab. Es kann eine schlechte Erklärung sein, und ich verstehe sie trotzdem, weil ich weiß, was er meint; es kann eine gute, eine hervorragende Erklärung sein, ich verstehe sie aber nicht, weil ich nicht in der Lage bin, sie mir selbst begreiflich zu machen. Unter der Seele versteht Platon das Gesamtvermögen aller sinnlichen, vitalen, seelischen (auf sich selbst bezogenen), emotionalen und geistigen Bezüge.
Selbst, wenn Sokrates alles Relevante wüsste, derjenige, dem er etwas erklärt, muss die Erkenntnis selber machen, sonst ist sie kein Wissen, sondern ihr Inhalt wird bestenfalls nachgeplappert. Was einer nachplappert und somit nur vermeintlich versteht, begreift er eben nicht wirklich. Sich darauf etwas einzubilden, weil man bei bestimmten Stichworten anderes assoziiert, hat mit Bildung, Wissen und Kenntnissen nichts zu tun. Nur das, was man organisch und in seinem Vollsinn verstanden hat, ist wahre Erkenntnis – freilich nur, wenn sie richtig ist. Jedes neue Wissen muss in einem Prozess der Aneignung einschließlich seiner inhaltlichen und methodischen Voraussetzungen durchdrungen und mit dem bisherigen Wissen verknüpft werden.
Die Frage stellt sich: Können wir auch Falsches verstehen? Wir können zwar meinen, etwas verstanden zu haben. Doch wenn wir danach bemerken, dass unser Urteil nicht stimmt, sind wir nicht mehr der Ansicht, dass wir vorher etwas begriffen haben. Wir sprechen dann davon, dass wir uns zuvor getäuscht haben.
Natürlich besteht beim Wissen immer die Möglichkeit, dass wir uns täuschen. Das ist für die Konzeption der wahren Erkenntnis fatal, denn das setzt voraus, dass wir nie von echter Erkenntnis sprechen können, weil immer Zweifel angebracht sind. Aber dieser Umstand gehört zum menschlichen Streben nach Wissen dazu. Deswegen darf man nach Sokrates vom Fragen und Nachfragen nicht ablassen, man muss die Sachen immer genau prüfen und möglichst von allen Seiten, die eine solche Betrachtung zulassen. Darin hat er offenbar eine große Erfahrung, so dass er gleich sieht: Stimmt das Ergebnis in sich und mit den Erfahrungen überein, oder liegt da etwas schief?
2.3 Das sokratische Nichtwissen
Angesichts der skeptischen Grundhaltung drängt sich die Frage auf: Wissen wir wirklich gar nichts, wie Sokrates behauptet? Wir haben doch bestimmte Kenntnisse, Fertigkeiten, ein Faktenwissen usf. Für Sokrates, und damit für die ganze Philosophie, geht es aber nicht um ein solches positives Wissen, das sich im Übrigen auch ständig ändert, selbst in den Naturwissenschaften. Philosophisches Wissen gibt es in diesem Sinn gar nicht, weil das Reflektieren und Nachdenken, selbst bei methodologisch völliger Durchsichtigkeit, immer wieder von Neuem beginnt und nie zum Ende kommt.
Das liegt an unserer begrenzten Auffassungsgabe, an den unendlichen Möglichkeiten des Lebens, am Bewusstsein um unser unausweichliches Ende des irdischen Daseins, an den Dichotomien und den Widersprüchlichkeiten der gesamten menschlichen Existenz, und offenbar auch an den Voraussetzungen, die wir für jedes positive Wissen machen müssen. Diese können wir aber nie vollständig und absolut erfüllen.
Wir sind von unserer Vergangenheit geprägt und müssen uns auf eine Zukunft hin frei entwerfen; wir sehnen uns nach Unendlichkeit – im Wissen darum, dass wir sterben werden; wir sind zusammengesetzt aus physischen und psychischen Momenten, die nicht aufeinander rückführbar sind, weil ein Eindruck oder eine Wahrnehmung bis in alle Ewigkeit etwas anderes als ein neurophysiologisches Muster sein wird; wir streben nach Wahrheit und bekommen immer nur etwas Vorläufiges. Manchmal begnügen wir uns auch mit der Unwahrheit oder wollen sie hören. Wir wollen alles richtig machen und machen doch so vieles falsch. Wir versuchen klar und deutlich zu sprechen und zu schreiben und dennoch gibt es Missverständnisse. Wir glauben an Gott, den Menschen oder das Universum und wissen über das eine so wenig wie über das andere.
Dass heute, also nach zweieinhalbtausend Jahren, immer noch philosophiert wird, heißt offenbar, dass uns die Fragen der Philosophie nicht loslassen. Die Philosophie ist die erste aller Wissenschaften, d. h., sie ist der Ursprung des methodisch reflektierten Nachdenkens. Ihre Anfänge liegen zwar im Dunkeln, diese haben aber wohl mit der Entstehung des Menschen selbst zu tun. Die Krone des historischen Ursprungs des methodischen Untersuchens kann ihr allenfalls die Medizin streitig machen. Doch die antike Medizin ist eine andere als die heutige. Das gilt zwar auch für die Philosophie, aber ihre Fragen sind in vielerlei Hinsicht immer noch dieselben. Manche Ärzte behaupten sogar heute noch, die Medizin sei noch gar keine Wissenschaft – aber das ist eine ganz eigene Frage.
Die Rechtswissenschaft haben die Römer erfunden. Es gab zwar vorher auch schon Regeln des sozialen Zusammenlebens und der staatlichen Ordnung und Praxis, aber diese entstanden eher aus Traditionen purer Überlebens-Notwendigkeit, und wurden erst durch die philosophische Frage nach der Gerechtigkeit methodisch systematisiert; für die Römer war wichtig, wie ein Gesetz zustande kommt und wie und von wem es beschlossen und bekannt gemacht wurde; die Rechtsfindung und Rechtsanwendung wurde ebenso Regeln und – ganz entscheidend – einem Prozess unterworfen; dazu bildete sich im ersten vorchristlichen Jahrhundert eine Gruppe von Fachleuten für Rechtsfragen heraus; und schließlich kam es zur Kodifizierung. Die Theologie ist als Wissenschaft freilich etwas Vieldeutiges, in alter Zeit ist sie von Dichtung oder Philosophie nicht zu unterscheiden – das Fragen über die menschlichen Grundfragen nach Erkenntnis und dem rechten Tun geht auch aus der Dichtung hervor.
Die Medizin sowie die Lehre von den Rechten und die Theologie sind an den heutigen Universitäten seit dem Mittelalter erhalten geblieben; aus der Philosophie sind alle anderen Fächer herausgebrochen: die Naturwissenschaften – Galilei oder Newton verstanden sich noch als Naturphilosophen –, die Ökonomie – nämlich aus der Moralphilosophie – und zuletzt die Psychologie – als empirische Frage nach dem Wahrnehmen, Denken und Fühlen. Alles, was sich als empirische Fragestellung formulieren lässt, hat sich von der Philosophie emanzipiert.
Es herrscht also ein Spannungsverhältnis zwischen den empirischen Fragen und den Fragen und Antworten in der Philosophie. Dieser wirft man vor, sie arbeite nicht einmal empirisch. Dabei sei doch inzwischen erwiesen, dass die Welt anders aussehen kann, als man auf den ersten Blick vermutet. Dazu muss man aber die empirische Wirklichkeit erst einmal zur Kenntnis nehmen und hinsehen, während die Philosophie glaubt, ihre Erkenntnisse durch bloßes Nachdenken sichern zu können.
Dieser Einwand vergisst, dass empirisches Arbeiten nicht einfach so beginnen kann. Manche meinen, empirische Fragestellungen lägen auf der Straße, man brauche sie nur aufzuheben, experimentell zu überprüfen und die gewonnenen Daten lieferten einem für sich schon die Antwort. Dass man ein Erkenntnisinteresse hat, also ein Ziel formuliert, das einen gerade interessiert, für sich selbst als Grundlage oder für eine bestimmte Anwendung, dass man darauf hin eine Fragestellung entwirft, diese methodisch – zumeist mathematisch – absichert, ein Experiment ersinnt, Messverfahren durchführt und die gewonnenen Daten dann interpretieren muss, scheint vielen nicht bewusst zu sein. Jeder dieser Schritte enthält zudem Spielräume. Eine Veränderung der Voraussetzungen, z. B. in der Forschungsfrage, führt immer auch zu einem anderen Ergebnis. Vor allem die Messverfahren und die Datendeutung werden vielfach methodisch nicht auf das Ergebnis hin reflektiert.
Die Philosophie ist die Reflexionsinstanz, Methoden der Erkenntnisgewinnung zu hinterfragen und zu kritisieren. Das kann gar nicht empirisch erfolgen, weil die Reflexion sonst Teil der kritisierten Methode wäre. Wo aber, so kann man fragen, liegt dieses kritische Potential? Was ist das für eine kritische Instanz?