Günter Fröhlich

Platon und die Grundfragen der Philosophie


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die Herausarbeitung des Zentralmotivs der Liebe vgl. Summerell 2004.

      16Diese dynamischen Momente in Platons Spätphilosophie betont vor allem Mojsisch 1996, 168, 171, 176, 179.

      Wahrnehmen, Lernen, Nachdenken, sich ein Problem oder eine Schwierigkeit vornehmen, sich angestrengt mit etwas auseinandersetzen: All das führt zu Wissen und Erkenntnis. Doch mit jedem Ergebnis, das wir dadurch gewinnen, ist oftmals eine sonderbare Erfahrung verknüpft. Wir ersinnen neue Argumente und Begründungen für unsere Meinungen, mahnen Beobachtungen an, verbinden unser Wissen mit anderem Wissen. Und doch: Wir zweifeln daran, wir wollen das scheinbar Gewisse genauer begründen, wir suchen danach, noch genauer zu wissen; und wir wundern uns, dass die bisherige Mühe noch nicht wirklich gefruchtet hat. Unser Anspruch nach vollkommener Wahrheit und absoluter Absicherung dessen, was wir zu wissen meinen, lässt sich nicht einfach aussetzen. Unser Erkenntnisdrang geht meist über das hinaus, was wir überhaupt wissen können. Erst dadurch, dass wir immer weiter fragen, machen wir aber die Erfahrung, dass es ein totales, allumfassendes Wissen nicht geben kann.

      Sokrates hat sich entschlossen, Theaitet bei seiner „Geburt“ zu helfen. Seine ursprüngliche Frage war, was denn Erkenntnis sei. Diese Frage stellt er dem Theaitet aufs Neue und ermuntert ihn, doch eine Antwort zu geben, auch wenn er sich nicht ganz sicher ist. Erkenntnis, so versucht sich Theaitet, ist das, was einer erkennt, letztlich also wohl Wahrnehmung.

      Nicht schlecht! meint Sokrates. Da gebe es einen berühmten Sophisten, Protagoras mit Namen, der meint wohl ungefähr dasselbe, auch wenn er es etwas anders ausdrückt. „Er sagt nämlich, der Mensch sei das Maß aller Dinge, der seienden, daß sie sind, der nichtseienden, daß sie nicht sind“ (Theaitetos 152a).17 Theaitet erinnert sich, das auch schon öfter gehört zu haben.

      Die Dinge seien also so beschaffen, wie einer sie gerade wahrnimmt. Dem einen erscheinen sie aber so, dem anderen anders. Theaitet stimmt zu. Wenn zwei Menschen im Wind stehen, sagt Sokrates, wird es den einen wohl ziemlich frieren, den anderen aber vielleicht nicht oder nur wenig. Ist jetzt aber der Wind kalt oder erscheint er dem einen nur als kalt, dem anderen aber nicht? Und dass es einem so und so erscheint, liegt entsprechend wohl auch an der Wahrnehmung? Wie jemand also etwas wahrnimmt, so scheint es für ihn auch zu sein. Und weil sich Wahrnehmung immer auf etwas bezieht, das auch da sein muss, so ist sie auch Erkenntnis. Das leuchtet Theaitet alles ein.

      Der Wind allein ist für sich genommen gar nichts. Es kommt allein darauf an, wie er einem erscheint, dem einen eisig, dem anderen nicht so kalt. Das scheint wiederum auch überall zu gelten: Nichts ist für sich groß oder klein, schwer oder leicht usf. Alles, was mir heute groß erscheint, kann ich morgen schon für klein ansehen.

      So gibt es hier also gar nichts Festes, sondern alles scheint irgendwie in Bewegung zu sein. Offenbar ist das Werden das oberste Prinzip von allem, weil es die Bewegung, an der alles hängt, verursacht. Bewegt sich aber etwas nicht mehr, so scheint es nicht mehr das zu sein, was es zuvor war, als es sich noch bewegte. So entsteht Feuer und Wärme auch mittels Bewegung, nämlich durch Reibung, aber auch das Leben entsteht durch Bewegung. Der Körper wird durch Ruhe und Trägheit geschwächt, durch Bewegung und Leibesübungen aber gestärkt. Auch der Geist, wenn er beschäftigt wird, schärft sich, Gedankenlosigkeit aber ermüdet ihn, so dass er auch das Gelernte vergisst.

      Nichts also existiert, es sei denn, es ist irgendwie bewegt und verändert sich dadurch. Die Bewegung ist also immer das Gute, sowohl für den Körper wie für den Geist, die Ruhe aber das Gegenteil davon. Gleiches gilt auch für die Natur, vor allem für die Sonne. Auch diese muss immer in Bewegung sein.

      Was, fragt Sokrates, ist aber z. B. eine Farbe, was ist das, was wir weiß oder schwarz nennen? Es kann ja nach dem vorher Gesagten nichts für sich sein. Es muss also irgendetwas sein, das beim Zusammenstoßen der Augen mit der zu diesen gehörigen Bewegung entsteht, denn auch uns erscheinen die Farben nicht nur untereinander wohl anders, sondern jedem einzelnen selbst einmal so, einmal verschieden von diesem Eindruck. Wie kann es aber sein, meint Sokrates, dass wir einmal etwas so und das Gleiche wieder anders wahrnehmen, wenn es sich nicht verändert? Wenn ihm selbst nichts widerfährt, kann es sich im Grunde auch nicht ändern. Was ändert sich aber nun genau? Verändert sich das, wodurch wir etwas messen, berühren oder wahrnehmen? Wie müssen wir uns das genau vorstellen? Und wie verhält sich das mit dem Gemessenen, mit dem Berührten oder mit dem Wahrgenommenen? Welcher Vorgang findet hierbei statt? Wie geschieht es wiederum, dass wir messen, berühren, wahrnehmen?

      Ein anderes Beispiel für diese Probleme haben wir z. B. bei Zahlenverhältnissen. Nehmen wir an, wir haben sechs Bohnen vor uns, das sind doch, vergleichen wir sie mit vier Bohnen, die Hälfte mehr; dagegen, wenn wir diese mit zwölf Bohnen vergleicht, sind es nur die Hälfte der Bohnen. Die Anzahl der Bohnen, sechs, hat sich nicht geändert! Einmal aber mussten wir sie als „die Hälfte mehr“ ein andermal als „nur die Hälfte“ bezeichnen. Kann also etwas mehr oder weniger werden, ohne dass es zugenommen oder abgenommen, und ohne, dass es sich geändert hat?

      Nachdem, was gerade angenommen wurde, nämlich, dass wir nichts anders wahrnehmen können, es sei denn, es hat sich geändert, kann das offensichtlich nicht der Fall sein. Dass es sich so verhält, müssen wir auf der anderen Seite allerdings annehmen. Wir können freilich beides behaupten, so dass die Zunge nicht widerlegt wird, aber unser Denken mit sich selbst im Unreinen ist, weil wir doch wissen wollen, was wir annehmen sollen. Am besten ist es, man fängt noch einmal von vorne an, das sei doch alles zu verwirrend gewesen, meint Sokrates.

      Wir gehen also erstens davon aus, dass sich nichts verändert, weder der Masse noch der Zahl nach, wenn es sich in dieser Hinsicht gleich bleibt. Zweitens gilt: Wenn man zu etwas nichts hinzutun oder wegnehmen würde, würde es weder wachsen noch schwinden. Und drittens glauben wir auch Folgendes: Was nicht war, kann auch nicht sein, ohne geworden zu sein. Das müssen wir alles beachten, wenn wir nicht durcheinanderkommen wollen über die Bohnen und ihre Zahl.

      Aber es gibt noch andere Beispiele: Sokrates, der heute größer ist als Theaitet, wird vielleicht nächstes Jahr schon kleiner sein als dieser, ohne dass er doch etwas von seiner Masse oder Größe eingebüßt hätte und nie kleiner geworden wäre. Theaitet ist der Jüngere und wächst noch. Dass dieser dann größer geworden ist, ist ganz natürlich, er hat sich ja verändert und an Größe zugenommen. Sokrates aber verändert sich nicht mehr und dennoch kann man behaupten, Sokrates ist kleiner geworden im Verhältnis zu Theaitet.

      Jetzt kennt sich Theaitet, dem es wie in der Mathematik um eine einheitliche Fassung der Begriffe geht, nicht mehr aus. Er sagt: „Wahrlich, bei den Göttern, Sokrates, ich wundere mich ungemein, wie doch dieses wohl möglich sein mag; ja bisweilen, wenn ich recht hinsehe, schwindelt mir ordentlich.“ Ja, sagt Sokrates, Theodoros – das ist der Mathematiklehrer von Theaitet und der Freund von Sokrates – habe eben ganz recht über Theaitet geurteilt, dass dieser ein echter Philosoph, ein wahrer Freund der Weisheit (philos – Freund; sophos – Weisheit; vgl. auch Phaidros 278d) sei. Es gibt nämlich nur einen Ursprung der Philosophie und dieser sei „das Sich-Wundern“, das thaumazein.

      Wir haben Grund, uns ebenso zu wundern. Die Frage nach der Erkenntnis ist eine der wichtigsten Fragen in der Philosophie, und beiden Gesprächspartner waren mitten in einer Diskussion, die erwarten ließ, dass wir etwas darüber erfahren. Dann bringt Sokrates in einer recht sophistischen Art ein Argument über Werden und Sein der Dinge vor, um darauf hin über seine Relationsbegriffe eine so enorme Verwirrung zu stiften. Die Sache mit den Bohnen und der Größe von Sokrates im Vergleich zu Theaitet ist uns doch vertraut und eindeutig.

      Die Bestimmung von Wissen und die von Erkenntnis sind zentral für Platons gesamtes Philosophieren. In seinen früheren Schriften geht es darum, wie wir das Gute erkennen