Günter Fröhlich

Platon und die Grundfragen der Philosophie


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noch sehr viel grundsätzlicher nach diesen Gegenständen gefragt. Aus der Frage nach den Möglichkeiten, zu erkennen und begrifflich zu bestimmen, was die Tugend, das Gute oder eine gute Handlung jeweils ist, ergibt sich die allgemeine Frage danach, was Erkenntnis sei:

      Der Sinn dieser zunächst ganz einfachen Frage erweitert sich sehr schnell. Die einfachste Antwort darauf hat nämlich nur autoritatives Wissen zur Folge: Wenn ich wissen will, wie oder was etwas ist, dann frage ich jemanden, der sich damit auskennt, oder ich sehe in einem Lexikon nach. Ich erhalte damit einen Wissensinhalt, dessen Wahrheitsgehalt vom Vertrauen in die Quelle abhängt. Wenn mich jemand dasselbe fragt, kann ich den gleichen Inhalt wiedergeben, ich werde aber auf eine Nachfrage, warum das so ist, keine Antwort geben können, denn mein Wissen beschränkt sich auf das, was ich gehört oder gelesen habe und was ich glaube. Das würden wir aber nicht als Erkenntnis oder Kenntnis des Sachverhalts ansehen.

      Es geht darum, Wissensinhalte irgendwie zu sichern. Autoritätsabhängiges Wissen beruht jedoch nicht auf Einsicht in die Sache. Wenn wir nun die Bedingungen angeben wollen, um einen beliebigen Wissensinhalt als tatsächlichen auszuweisen, stellen sich sofort neue Fragen: Auf was beziehen sich Wissensinhalte? Sind das nicht ganz unterschiedliche Bezugsmomente? Die Frage nach der Farbe ist eine andere, wie die nach der relativen Größe, und die wieder eine andere als die nach den Zahlenverhältnissen. Platon konfrontiert uns aber gleichzeitig mit noch weiteren Problemen: Was meinen wir, wenn wir sagen: Etwas ist so! Bezieht sich das auf einen Sachverhalt? Nämlich auf einen, von dem wir sagen würden: Dieser besteht tatsächlich oder bezieht sich auf die Wirklichkeit? Oder geht es nur um das sprachlich ausgedrückte Urteil und die aufgeführten Gründe, welche zu diesem Urteil führen?

      In einem ersten Versuch zur Klärung der Frage nach der Erkenntnis, hatte Theaitet einige Fertigkeiten aufgezählt: Wenn einer Schuhe machen kann, muss er erkannt haben, was ein Schuh ist, und wie man einen solchen macht. Sokrates wendet dagegen ein: Mit seiner Erklärung von Erkenntnis habe Theaitet vieles aufgezählt: „Gar offen und freigebig, Lieber, gibst du mir, um eines gefragt, vielerlei und Mannigfaltiges statt des Einfachen“ (Theaitetos 146d). Theaitet scheint das so zu verstehen, dass Erkenntnis etwas zusammenbringt, was vorher nur nebeneinander und jeweils für sich verständlich war. Er bringt ein Beispiel von Theodoros, mit dem er sich über Quadratwurzeln unterhalten hatte: Wenn man die Zahlen, aus denen sich ein Produkt zusammensetzt auf eine Linie überträgt und diese im Neunziggradwinkel anordnet, erhält man entweder Rechtecke oder Quadrate. Die Zahlen, welche (gleichseitige) Quadrate ergeben, lassen auch ein ganzzahliges Ergebnis zu, wenn man die Quadratwurzel aus dem Produkt zieht. Die Zahlen aber, welche Rechtecke ergeben, erlauben das nicht. Das arithmetische Problem erhält mit dieser Erklärung eine anschauliche, weil geometrische Lösung. Theaitet hat damit etwas erkannt, aber das, was er erkannt hat, ist wieder nicht die Antwort auf die Frage, was Erkenntnis ist. In Theaitetos 152de, nach der Erklärung mit der Bewegung, dreht Sokrates den Spieß gewissermaßen um:

      „Ich will es dir sagen, und es ist gar keine schlechte Rede, daß nämlich ein Eins selbst für sich selbst gar nichts ist und daß du nicht ein Etwas richtig mit einem Namen oder als wiebeschafften bezeichnen kannst, vielmehr, wenn du etwas groß nennst, wird es sich auch klein zeigen, und wenn schwer, auch leicht und so gleicherweise in allem, weil eben nichts ein Eins ist, sei es nun als etwas oder als irgendwie beschaffen; sondern durch Bewegung und Veränderung und Vermischung unter einander wird alles nur, wovon wir sagen, daß es ist, es nicht richtig bezeichnend; denn niemals ist eigentlich irgend etwas, sondern immer nur wird es.“

      Nachdem Sokrates also zunächst nach dem „Einen“ der Erkenntnis gefragt hat, behauptet er nun gewissermaßen, dass Erkenntnis für sich nichts sein kann, sondern erst „werden“ muss. Wenn wir das so formulieren, verstehen wir die Frage etwas besser. Platon dynamisiert mit seiner Interpretation vom Werden die Frage. Auf der einen Seite steht die Erkenntnis als begriffener Sachinhalt, auf der anderen Seite steht das Werden von Erkenntnis. Dort die Wahrnehmung als Bezug auf etwas Bestimmtes in der Welt, hier das Wahrnehmen selbst, das ein Vorgang ist.

      Die wichtigste Frage aber lautet: Wie sichere ich die Erkenntnis als eine wahre Erkenntnis? Es wird später im Dialog Theaitetos noch um die Frage gehen, auf welche Weise Erkenntnis von einer Meinung unterschieden werden kann. Dabei benötige ich einen Bezugspunkt, der bei der Erkenntnis in der Begründung liegt. Beim Wahrnehmen dagegen fragen wir einfach nach dem Sachverhalt, und ob er in der Wirklichkeit besteht, d. h. ob er wahr ist. Dieser Bezugspunkt der Erkenntnis ist schon in der Antike unterschiedlich bestimmt worden. Parmenides vertrat die Ansicht, alles bezieht sich auf das eine und unwandelbare „Sein“. Platon spielt an unserer Textstelle mit diesen unterschiedlichen Bezugspunkten von Erkenntnis, die sich einmal als Vorgang, als Erkennen, das andere Mal auf den Inhalt, die Erkenntnis und den Wissensinhalt richtet. Hinzu kommt, dass wir das Wissen auf etwas Bestimmtes beziehen. Und zudem fragen wir nach dem Grund oder der Begründung dieses Wissens. Das Verstehen, das Einsehen, die Einsicht und das Wissen bringen aber offenbar etwas zusammen, was in dieser Kombination vorher noch nicht vorhanden war.

      Der Mathematikschüler Theaitet wird von Platon gewissermaßen als philosophisch Fortgeschrittener gezeichnet, nicht weil er im Metier des Sokrates besonders sicher ist, sondern weil er bestrebt ist, einen Sachverhalt unbedingt auf den Begriff zu bringen (vgl. Theaitetos 148d). Theaitet ist das Verfahren durch seine Auseinandersetzung mit der Mathematik bereits geläufig. Seine philosophische Unbeholfenheit drückt sich dagegen dadurch aus, dass er mit einer geometrischen Anschauung operiert; allerdings merkt er dabei sofort, dass der Vergleich bei einer begrifflichen Bestimmung der Erkenntnis nicht die ganze Wahrheit aufzeigt. Gleichzeitig lässt Platon seinen Sokrates ein – freilich leicht durchschaubares – sophistisches Verwirrspiel anzetteln. Sokrates hatte doch die Frage danach gestellt, was Erkenntnis ist, um gleich darauf auszuführen, dass es so etwas gar nicht geben kann, weil nichts ist, sondern alles wird. Die Frage auf diese Antwort lautet: Wie erlangen wir Erkenntnis? Diese Frage kann ich aber offensichtlich nicht beantworten, wenn ich nicht weiß, was das ist: Erkenntnis. Die Antwort bleibt uns Platon an dieser Stelle noch schuldig, denn die Definition: Erkenntnis ist Bewegung! würde uns nicht viel weiterhelfen; zudem ist sie in sich „statisch“: Sie drückt einen Zustand aus, gesucht aber war ein Vorgang, ein Prozess.18

      In dem Gespräch mit Theaitet hatte Sokrates noch vor seiner Geschichte mit der Hebammenkunst schon einmal gefragt, was Erkenntnis sei. Für Theaitet bestand Erkenntnis dabei noch in jeder Art von Wissen, umfasste also auch das Wissen davon, wie man Schuhe verfertigt oder Möbelstücke usf. Das sind allerdings ganz unterschiedliche Dinge, denn die Frage nach der Erkenntnis will auf eine Bestimmung hinaus, was allen diesen Künsten und Fertigkeiten gemeinsam ist. Ganz ähnlich stellte sich das dar, als Theaitet sein mathematisches Beispiel mit den Quadratwurzeln vorbrachte, bei dem er ein ähnliches Problem hatte, alles auf Eines zurückzuführen, das die Sache näher bestimmt. Insofern ist das mit den Bohnen und der Körpergröße zwar doch ein Problem, aber keines worüber sich Theaitet unendlich wundern müsste. Das Ganze scheint für Platon also eine Spielerei gewesen zu sein, die er sich leistete, um die Sache mit dem thaumazein als Ursprung der Philosophie einzuführen. Zudem nutzt er die Gelegenheit, bereits einige Grundprobleme und methodische Herangehensweisen anzusprechen.

      Wäre das nicht weiter motiviert, wäre Platon nicht Platon. Dass diese im ersten Moment etwas hanebüchene Konstruktion zur Grundlage des philosophischen Ursprungs im Wundern geformt wird, ist dann mindestens auffällig. Das Problem mit den Bohnen wird erst zu einer echten Schwierigkeit, wenn man tatsächlich nach einer einheitlichen Bestimmung von etwas fragt. Theaitet, der sich aufs Äußerste bemüht, Sokrates in seiner Argumentation zu folgen, geht, nachdem er es einmal begriffen hat, von dieser Frage nach einer einheitlichen Definition auch aus. Letztlich wundert er sich, weil es sich um einen ganz einfachen Zusammenhang handelt.

      Um das thaumazein richtig einzuordnen, fehlt uns noch ein kleiner Aspekt: Wir müssen das Erkennen wollen. Kurz nach dem Beispiel mit den Quadratwurzeln und vor der Stelle mit der Hebammenkunst ist Theaitet schon einmal recht verwirrt. Sokrates bestätigt ihm, dass die Frage nach der Erkenntnis durchaus eine schwierige Frage ist. Er fordert ihn daraufhin auf, in seinem Bemühen nicht nachzulassen: „Bestrebe dich aber,