antwortet: „Sofern es nur am Bestreben liegt, soll sie wohl ans Licht kommen“ (Theaitetos 148d).
Das ist gar keine so einfache Voraussetzung, vor allem, wenn es um schwierige Fragen geht. Das Sich-Wundern stellt sich nämlich gar nicht unbedingt ein, nämlich dann nicht, wenn mich die Sache, welche ich gerade nicht verstehe, nicht weiter interessiert. Ich muss also ein Interesse daran haben, etwas zu verstehen, was ich im Moment noch nicht verstehe. Erst dann werde ich mich wundern. Theaitet ist vollkommen überzeugt davon, dass ihn die Sache mit der Erkenntnis als solche interessiert. Er hat gehört, dass Sokrates sich mit solchen Fragen beschäftigt und außerdem hält er etwas davon, wie Sokrates mit solchen Fragen umgeht, vielleicht weil dieser ein Freund des Theodoros, seines Mathematiklehrers, ist.
Theaitet ist also nicht nur der Überzeugung, dass Sokrates ihm erklären kann, was Erkenntnis ist, er folgt ihm auch auf dem Weg zu dieser (vgl. Theaitetos 146c), und das, obwohl Sokrates die Grundfrage erweitert und ihn zuweilen in eine ergebnislose Richtung führt. Platon ist es besonders wichtig, dass wir selbst die Fragen, die er uns stellt, untersuchen und lösen wollen, dass wir uns nicht mit einfachen Antworten zufrieden geben („Erkenntnis ist dies und jenes“), sondern der Sache auf den Grund gehen wollen. Genau das sichert Theaitet dem Sokrates zu. Als Sokrates ihn dann mit seinen Spitzfindigkeiten verwirrt, wundert er sich, und steht nach Platons Ansicht damit am Anfang der Philosophie.
Um in dieser Frage weiterzukommen, müssen wir ein wenig über Platon hinausgehen. Auch Aristoteles schreibt, dass der Ursprung der Philosophie im Wundern liegt:
„Denn Verwunderung war den Menschen jetzt wie vormals der Anfang des Philosophierens, indem sie sich anfangs über das nächstliegende Unerklärte verwunderten, dann allmählich fortschritten und auch über Größeres Fragen aufwarfen, z. B. über die Erscheinungen an dem Mond und der Sonne und den Gestirnen und über die Entstehung des Alls. Wer sich aber über eine Sache fragt und sich wundert, der glaubt sie nicht zu kennen“ (Aristoteles Metaphysik A,2, 982 b 11–21).
Und Aristoteles ist der Meinung, dass man dieses Erkennen offenbar wegen des Wissens und nicht wegen eines Nutzens suchte, denn Wissenschaft entsteht erst, wenn für das Notwendige und das Überleben schon gesorgt ist.
Die Metaphysik ist das Buch über die ersten Erkenntnisse. Wie bei so vielen Philosophen muss auch bei Aristoteles jede Erkenntnis von der Erfahrung ausgehen. Zur Kunst wird Erfahrung dann, wenn sich durch viele Gedanken, die alle auf Erfahrung beruhen, etwas Ähnliches im Gegenstand der Erfahrung zeigt. Erfahrung ist also Erkenntnis vom Einzelnen, Kunst dagegen vom Allgemeinen. Kennen wir das Allgemeine, sagen wir, dass wir verstehen. Zum Verstehen gehört nicht nur das Wissen darum, dass etwas der Fall ist, sondern auch das Wissen, warum etwas der Fall ist. Wir kennen dann auch die Ursachen. Die Kenntnis des Allgemeinen, bzw. der Prinzipien, und der Ursachen für ein bestimmtes Sachgebiet nennt man Wissenschaft. Aristoteles geht es aber nicht um das Wissen des Einzelnen, also die Kenntnis bestimmter einzelner Erfahrungen, sondern um die Kenntnis der ersten Prinzipien und des Allgemeinen. Ein Philosoph muss das kennen, er braucht aber keine Kenntnis von allem Einzelnen, das kann er anderen überlassen, auch deshalb, weil nicht einer alles wissen kann.
Während bei Aristoteles das Sich-Verwundern als Ursprung der Philosophie klar auf das Fragen nach dem noch Unerklärten in den Welterscheinungen geht, führt es Platon nach einer Diskussion ein, die direkt eher der Irreführung durch die Argumentation von Sokrates entspringt. Der Sachverhalt, um den es dabei geht, ist relativ einfach aufzulösen. Das eigentliche Problem aber liegt im Hintergrund, nämlich in der Frage, an was wir uns, wenn wir die Erkenntnis bestimmen wollen, halten sollen: An die Wirklichkeit der Welt? An ein über das Wahrnehmbare hinausgehende eine Sein? An unsere Wahrnehmungen? An das, was sich bewegt oder das was ruht? Während Aristoteles gleich den Punkt trifft, dass es bei der Erkenntnis um das Allgemeine, die Prinzipien und die ersten Gründe geht, müssen wir das bei Platon aus dem Kontext des gesamten Textabschnitts herauslesen.
Für Aristoteles hat der Mensch einen unmittelbaren Erkenntnisdrang in sich: wir wollen wissen, einsehen und verstehen. Für Platon ist das nicht so selbstverständlich. Gerade bei den schwierigen Dingen vergeht uns schnell die Lust, die Anstrengung des Nachdenkens und immer wieder Bezweifelns auf uns zu nehmen. Sokrates ist da die große Ausnahme. Theaitet möchte zwar auch gerne einsehen, was Erkenntnis ist, er braucht aber die Methode von Sokrates, um mit seinen Fragen weiterzukommen. Und ganz wichtig für ihn ist es, dass er Sokrates vertraut, die beste Methode für die Behandlung solcher Fragen zu haben.
3.4 Die Frage nach dem „Einen“ und das Sich-Verwundern
Der Mensch will wissen. Er sucht nach Erklärungen für Sachverhalte, die er nicht versteht. Sokrates scheint mit seinen Fragen überzeugt davon zu sein, dass es eine Erklärung, was es mit der Erkenntnis auf sich hat, gibt. Die Verwunderung darüber, dass da etwas ist, was wir nicht verstehen, gibt dem Ausdruck. Die Lösung des Problems nennen wir Erkenntnis. Wie aber ist ein Sachverhalt beschaffen, für den es mit der Erkenntnis eine Erklärung gibt, die wir verstehen?
Sokrates war unzufrieden mit der folgenden Bestimmung der Erkenntnis: Ich erkenne etwas, wenn ich weiß, wie es geht. Das ist sozusagen Sachverstand, Fertigkeit, die das Erkennen dessen, was man da tut oder herstellt, schon voraussetzt. Es ist aber nicht die Erklärung von Erkenntnis. Wenn jemand einen Schuh herstellt, dann bringt er die Teile eines Schuhs, Leder, Sohle, Nägel, Schnüre usf. in einer bestimmten Weise zu einer Einheit des Schuhs.
Offenbar stellt sich Sokrates das genauso bei der Erkenntnis vor: Etwas Verschiedenes wird zu einer Einheit zusammengebracht, auch wenn es nicht um die Lederteile, sondern um Begriffe und Einsichten geht. Allgemeine Erklärungen, wie etwas zusammengebracht wird, nennen wir Gründe oder Ursachen. Eine solche allgemeine Erklärung besteht z. B. in der Feststellung des Kausalverhältnisses von Blitz und Donner. Hier bringen wir zwei Ereignisse, die für sich besehen unabhängig voneinander bestehen, aber immer aufeinander folgen, in einer Erklärung zusammen. Wenn wir eine Erklärung haben, wundern wir uns nicht mehr.
Das ist der Sinn, wenn Aristoteles sagt, die Philosophie geht auf das Allgemeine: Wir schaffen einen Zusammenhang, eine Einheit, aus Elementen, die vorher disparat sind. Wenn wir dabei immer weiter fragen, fügen wir immer mehr Weltinhalte zusammen. Erst allmählich kommen wir auf die obersten Prinzipien, welche unter sich die konkreten Verhältnisse erklären. Wenn wir wissen, warum etwas ist, haben wir den Sachverhalt verstanden; das setzt aber voraus, dass wir ihn als Einzelfall allgemeiner Ordnungsvorstellungen begreifen.
Sokrates geht von vorne herein immer aufs Ganze. Er fragt nach dem einen Begriff für Erkenntnis und ist nicht zufrieden, wenn ihm mehrere Erfahrungsbereiche genannt werden. Er will wissen, was das Allgemeine, das Prinzipielle, das Eine der Erkenntnis ist. Der Alternativvorschlag, Erkenntnis ist Wahrnehmung, problematisiert sofort, was mit Wahrnehmung eigentlich gemeint ist. Das Problem wird nur in einen weiteren Erklärungszusammenhang überführt, nämlich den der Bewegung. Alles, was ist, alles, was wir wahrnehmen, was wir erkennen und verstehen, ebenso das Leben, Denken usf. liegen folglich in der Bewegung. Dieser Unterschied zwischen dem Erkenntnisvorgang und dem Ergebnis, dem Wissen, thematisiert Platon immer wieder.
Das erklärt natürlich nichts, sondern erweitert nur das Problem, dazu auf einer ganz anderen Ebene, denn die Vorgänge (und insbesondere der Prozess, wie wir Erkenntnis gewinnen) dürfen nicht mit dem Ergebnis, dem Wissen, verwechselt werden. Dass Theaitet dabei nicht mehr mitkommt, ist verständlich. Die Textstelle ist ganz typisch dafür, wie Platon Fragen aufwirft, schnell durchspielt, in verschiedene Kontexte stellt, um erst nach und nach die Einzelfragen zu ordnen und durchzugehen. Oft irrt er an einer Stelle ab und lässt uns ratlos vor einem ganz und gar unbefriedigenden Ergebnis stehen. Das ist für ihn allerdings weder ein bloßes Spiel noch pure Rabulistik, also gewollte Streitlust. Ihm ist es so ernst mit dem Sich-Verwundern, dass er seinen Lesern möglichst andauernd die Motivation, selbständig weiterzudenken und die Fragen immer wieder aufs Neue zu untersuchen, erhalten möchte. Das Vertrauen, dass Theaitet dem Sokrates und seiner Methode entgegen bringt, sollen wir, seine Leser, auch ihm entgegen bringen. Die Antwortmöglichkeiten und möglichen Bezüge seiner Fragestellung, soweit er sie selbst sieht, führt er uns anschließend im Wesentlichen schon vor. Wir müssen nur aufpassen und uns nicht in die