Günter Fröhlich

Platon und die Grundfragen der Philosophie


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von Wissen (Theaitetos 148e–151d)

      Was ist Erkenntnis (vgl. Theaitetos 145e)? Sokrates konfrontiert im gleichnamigen Dialog Platons mit dieser Frage den jungen Mathematiker Theaitet. Theodoros, ein Freund des Sokrates, hatte seinen Schüler wegen seiner vielen Kenntnisse und seiner Geschicklichkeit im Antworten sehr gelobt. Theaitet solle gerade so antworten, wie er kurz zuvor über ein mathematisches Problem geurteilt hatte.

      Gar oft habe er, Theaitet, über die Frage, was denn Erkenntnis sei, nachgedacht, doch sei er bis jetzt noch nicht zu einer schlüssigen Antwort durchgedrungen. Allerdings sei er an dieser Frage genauso interessiert wie an den anderen Fragen, von denen er gehört hatte, dass Sokrates mit ihnen ständig die Leute belästigt, so sehr, dass er selbst vom Nachsinnen darüber nicht ablassen kann.

      Daraufhin sagt Sokrates etwas Sonderbares: „Du hast Geburtsschmerzen, weil du schwanger bist, Theaitet“. Dazu fällt dem Jüngeren nicht viel ein. Sokrates führt aus, dass er der Sohn einer berühmten Hebamme sei und dass er die Hebammentätigkeit auch selbst ausübe. Ob er davon nicht schon gehört habe? Theaitet antwortet, dass das erste ihm bekannt sei, dass aber Sokrates selbst eine Hebamme ist, sei ihm bis dahin noch nicht zu Ohren gekommen.

      Gewiss, das ist auch keine stadtbekannte Sache, und Theaitet solle es auch bloß nicht überall herum erzählen. Die Leute denken ohnehin schon, dass Sokrates ein komischer Kauz sei, der den ganzen Tag nur herumgeht und die Menschen ins Zweifeln über ihre Ansichten und Meinungen stürzt.

      Theaitet solle doch einmal überlegen, was eine Hebamme im Wesentlichen ausmacht. Diese, so Sokrates, könne erstens selbst nicht mehr gebären, anderen aber sei sie darin behilflich. Hebammen haben darüber hinaus aber auch eine Reihe von Kenntnissen und Fähigkeiten. Sie sehen sofort, wenn eine Frau schwanger ist. Des Weiteren wüssten sie Zaubermittel und Wundersprüche, mit denen sie die Wehen beschleunigen oder verlangsamen können. Ebenso führen sie Abtreibungen durch. Außerdem sind sie zuweilen als Ehestifterinnen tätig, wobei sie genau wüssten, wer mit wem zusammen passt, damit gesunde Kinder dabei entstehen. Doch üben sie diese Tätigkeit selten aus, da sie nicht in den Verdacht der Kuppelei kommen wollen. Daneben gibt es offenbar einige Hebammen, die den Kindern auch gleich ansehen, ob etwas Rechtes aus diesen werden kann oder nicht, ob es sich um ein richtiges Kind oder nur um etwas Kindähnliches (Schleiermacher übersetzt das mit „Mondkalb“) handelt.

      Dies alles gilt nun auch für ihn selbst, behauptet Sokrates, nur mit den Unterschieden, dass er erstens Männern Hebammendienste leistet; zweitens für die Seelen und nicht für die Körper Sorge trägt; drittens entsprechend unterscheiden kann, ob etwas Rechtes aus der Seele kommt oder eben nur ein Trugbild; und dass er dagegen viertens selbst in diesem Sinn nicht mehr „gebären“ kann.

      Das letztere interpretiert Sokrates so, dass er seine Mitmenschen immerzu fragt, selbst aber nichts weiß oder antwortet, das Wissen, nach dem er fragt, also nicht hat. Das hat man ihm nicht selten, und wie er meint, schon mit Recht vorgeworfen. Die Ursache aber liegt darin, dass er selbst kein Wissen erzeugen kann oder schon in sich hätte. Aber Geburtshilfe für Erkenntnis bei anderen, das kann er leisten. Er ist also gar nicht weise und aus seiner Seele geht nichts hervor.

      Es geschieht aber mit denen, die häufig mit ihm zusammen sind, dass sie auf einmal Wissen aus sich heraus hervorbringen, obwohl das zunächst gar nicht so aussah. Von ihm können sie das nicht haben, denn er weiß ja nichts. Das kommt also schon alles aus ihnen selbst. Er aber und der Gott Apoll leisten eben die Geburtshilfe für die Erkenntnisse. Jene aber, die zu ihm kommen, haben oft schon Geburtsschmerzen, und er kann sie dann verstärken oder lindern, gerade wie er es für notwendig hält.

      Manche, die mit ihm umgehen und sich von ihm nicht recht helfen lassen, verlassen ihn entweder vorzeitig oder sie verlieren durch Verwahrlosung, was eigentlich etwas Rechtes hätte werden können. Mit den Missgeburten gehen sie dann hausieren und merken nicht einmal, was sie da mit sich herumtragen. Manchmal lässt er sich überreden, die „Geburten“ wieder aufzupäppeln, manchmal dagegen verbietet es ihm der Gott. Aber auch zum „Kuppeln“ taugt die Kunst des Sokrates. Wenn er nämlich merkt, dass einer, der zu ihm gekommen ist, seine Hilfe gar nicht braucht, dann weiß er, zu wem er ihn schicken muss, damit ihm dort geholfen werden kann.

      Auch Theaitet kommt offenbar zu Sokrates, weil ihm etwas in der Seele herumgeht, bei dem er sich selbst nicht helfen kann. Das war der Sinn der Aussage, als er gemeint hatte, dass Theaitet Geburtsschmerzen habe und schwanger sei. Er, Sokrates, versteht aber die Kunst, ihm zu helfen. Doch darf Theaitet nicht böse werden, wenn er im Laufe des Gesprächs irgendetwas Unrechtes oder ein Trugbild hervorbringt und Sokrates das dann ablöst und wegwirft. Er macht das nur aus Wohlwollen gegen ihn, wenn er erkennt, dass dieser Unsinn geredet hat, aus dem keine Erkenntnis kommt. Manche sind deswegen auf ihn schon sehr böse geworden, wenn er ihnen ihr Geschwätz erst abgenommen und dann weggeworfen hat, ähnlich wie die Frauen, die, wenn sie eine Missgeburt haben, nicht glauben können, dass nicht die Hebamme Schuld daran trägt. Er will niemandem Übles und steht ja auch mit dem Gott im Bunde, er darf deswegen aber auch nichts „Falsches gelten lassen und Wahres unterschlagen“ (Theaitetos 151d).

      Platon liebt solche Geschichten, aber er würde sie nicht erzählen, wenn es damit nicht etwas Tieferes auf sich hätte. Was aber bedeutet die Geschichte und Sokrates Auslegung seiner Metapher, er übe die Hebammenkunst für geistige Produkte aus? Zunächst sind darin ein paar Anspielungen auf die Rolle des Sokrates in der Athener Gesellschaft enthalten: z. B. dass er die Leute ausfragt und über ihn gespottet wird. Das greift zuletzt auch auf sein Gerichtsurteil voraus. Sein berühmter Ausspruch: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ hat für ihn dagegen einen spezifischen Sinn; dass Sokrates wirklich gar nichts weiß, kann nur ironisch gemeint sein. Im Dialog Protagoras behauptet er auch einmal, ein schlechtes Gedächtnis zu haben, und Platon lässt ihm durch Alkibiades widersprechen: Wenn sich einer der Anwesenden alles haarklein gemerkt hat und wiedergeben kann, dann sei es Sokrates (Protagoras 336d). In den Dialogen lässt Platon Sokrates immer wieder die Dichter und Philosophen zitieren, die er gelesen hat. Er kennt auch die Verhältnisse in Athen sowie die Geschichte der Stadt und kann souverän darauf zurückgreifen.

      Die Frage, die sich für ihn dabei stellt, ist, ob das etwas Rechtes ist, was er da weiß, ob das Kenntnisse sind, die für eine gerechte Lebensführung taugen, die ihm sagen, was richtig zu tun ist und was nicht. In diesem Sinne betont er, dass er im Unterschied zu den Politikern, Dichtern und Sophisten nichts weiß. Diese geben nur vor, etwas zu wissen. Die Sophisten meinen zudem, dass sie das, was sie nur vorgeben zu wissen, lehren könnten, vor allem die Tugend und die Gerechtigkeit. Sie glauben etwas zu wissen, können ihm aber, wenn er sie fragt, keine Auskunft geben.

      Es geht also um ein spezielles Wissen. Für dieses beansprucht Sokrates, beurteilen zu können, ob es etwas Rechtes ist, was andere darüber sagen. Zumeist enden die Dialoge, vor allem die frühen, aporetisch, d. h. in der Ausweglosigkeit, in einer Situation also, in der sich die bisherige Art des Fragens als Sackgasse erweist. Ist die Rede vom Nicht-Wissen dann Koketterie? Es geht um ein bestimmtes Wissen, das Sokrates sucht und er scheint sagen zu wollen, dass die Suche wichtiger ist, als es die Antworten sind. Diese können immer nur vorläufig sein, sind revidierbar und immer wieder aufs Neue zu diskutieren. Es gibt im Leben und der Lebensführung nichts Endgültiges.

      Der Adressat des sokratischen Fragens hat die Erkenntnis der Anlage nach schon in sich. Sie ist, eben wie ein zu gebärendes Kind, bereits vollständig in ihm angelegt. Beides aber muss weiter gepflegt werden, weil es sonst missrät. Was ist das aber für ein Wissen, das wir selbst hervorbringen müssen, das uns offenbar niemand beibringen kann?

      Einmal ist es das Wissen darum, wie man gerecht lebt. Sokrates scheint behaupten zu wollen, dass wir im Grunde den Unterschied zwischen gerecht und ungerecht sehr gut kennen. Sind wir an einer Sache unbeteiligt, so wissen wir ganz genau zu beurteilen, wie entschieden werden soll, wenn wir die Sache selbst richtig erfassen. Auch bei anderen sind wir streng, für uns selbst machen wir dagegen gerne eine Ausnahme.

      Unser Leben müssen wir alle führen, das kann uns auch keiner abnehmen. Dass wir dazu grundsätzlich nicht in der Lage sind, wird