Günter Fröhlich

Platon und die Grundfragen der Philosophie


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Antworten auf die Fragen der Lebensführung zu finden, um damit den Anspruch zu erheben, dass der einzelne damit alles gut und richtig macht. Auch sie versteht sich in erster Linie als Reflexionsinstanz, die Methoden eruiert, wie man unter geregelten und vermittelbaren Bedingungen über solche Fragen nachdenkt, um dann mögliche Ergebnisse gegeneinander abzuwägen. Dass die Philosophie nur Fragen stellt und keine Antworten gibt, stimmt freilich nicht. Die philosophische Tradition bietet eine Fülle von unterschiedlichen Antworten. Diese werden aber immer wieder hinterfragt. Man kann sogar sagen, dass die Philosophie die Einrichtung ist, welche die Grundfragen des Menschen und des Lebens für jede Zeit immer wieder neu stellt.

      Die Philosophie ist damit eine Wissenschaft, die seit zweieinhalbtausend Jahren immer dieselben Fragen stellt und sich bei den Antworten nicht einig wird. Ihr kommt es aber auch gar nicht darauf an, sich zu einigen. Außerdem weisen ihre methodischen Reflexionen mit den Inhalten zuweilen nur noch eine lose Verbindung auf.

      Platon betont dieses dynamische Verhältnis zur Philosophie (vgl. Erler 2006, 63) immer wieder. Offenbar nimmt er aber auch an, dass der mühsame Weg ein Ende finden kann: Nach unserer Stelle im Theaitetos besteht dem Sinn nach immerhin die Möglichkeit, dass Sokrates etwas bestehen lässt, etwas, das dem Blick der sokratischen Seelenhebamme standhält. In der Politeia wird der vollkommene Philosoph und „wahrhaft Lernbegierige“ ebenso als jemand geschildert, der

      „so geartet ist, sich um das Seiende zu beeifern, und also nicht bleiben kann bei dem vielen als seiend vorgestellten Einzelnen, sondern weitergehen wird, ohne sich verblenden zu lassen, und nicht eher Befriedigung finden für seine Liebe, bis er die Natur von jedem selbst, was ist, aufgefaßt hat, mit demjenigen in der Seele, womit es geziemt dergleichen zu fassen – es ziemt aber mit dem Verwandten; womit also dem wahrhaft Seienden sich nähernd und sich damit vermischend, und so Vernunft und Wahrheit erzeugend, er erkennen wird und wahrhaft leben und sich nähren und so seiner Schmerzen Ende finden, eher aber nicht“ (Politeia VI 490ab).14

      Es ist schwierig bei Platon zu beurteilen, ob er damit eine Hoffnung verbindet oder ob er überzeugt ist, dass sich das Ziel erreichen lässt. Dieser Doppelgestalt der Philosophie gibt Platon immer wieder Ausdruck. Vor allem hat er ihren Begriff ganz neu verortet (vgl. Erler 2006, 68 f.). Die philologische Bedeutung der Wortverbindung von phileo und sophos bedeutet ursprünglich, dass man mit einem Wissensinhalt vertraut ist, weil man häufig mit diesem Umgang hatte, so wie jemand sich mit Pferden auskennt, wenn er viel mit den Tieren zusammenkommt, und dann ein phil-hippos genannt werden kann. Der häufige Umgang mit Wissen der höchsten und geistigen Art, das der Lebensführung dient, und das von den „Weisen“ gelehrt wird, macht nach Platon seinen Träger allerdings gerade nicht zum Philosophen, sondern zum sophos und Sophisten. Denn in den Gegenständen, um welche es Sokrates und Platon geht, gibt es eben kein positives Wissen, das als solches vorhanden ist und weiter gegeben werden kann.

      Von „vertraut sein mit“ ändert sich das phileo bei Platon in ein „Streben nach“, in ein „Freund sein von“. Das bedeutet, dass der Philosoph das Wissen nicht hat, sondern danach strebt. Die Doppelnatur der Philosophie beschreibt Platon auch im Symposium. Dort wird die Philosophie mit der Liebe identifiziert, näherhin mit dem eros, was für den Liebesgott und für sein Prinzip steht, dem Streben nach dem Schönen, dessen Best-form die Weisheit ist. Der Eros nämlich sei ein Sohn von Poros, dem Weg, und Penia, der Armut. So bleibt die Philosophie arm, „rauh, unansehnlich, unbeschuht, ohne Behausung, auf dem Boden immer herumliegend und unverdeckt schläft [sie] vor den Türen und auf den Straßen im Freien“ (Symposion 203cd). Da aber auch das väterliche Erbe durchschlägt, ist Eros gleichzeitig „tapfer, keck und rüstig, ein gewaltiger Jäger, allezeit irgendwelche Ränke schmiedend, nach Einsicht strebend, sinnreich, sein ganzes Leben lang philosophierend, ein arger Zauberer, Giftmischer und Sophist“ (ebd. 203d).15 Was die Philosophie sich damit verschafft, zerrinnt ihr aber gleich wieder. Und dieses Wesen überträgt sich auch auf den philosophischen Umgang mit den Menschen. Die Leute mögen es nicht, wenn ihre Vorstellungen als Missgeburt weggeworfen werden.

      Das ständige Hinterfragen, zumal wenn es öffentlich geschieht, stört eine mühsam errungene und mit großem Aufwand aufrecht zu erhaltende, öffentliche Ordnung, die sozialen Grundlagen und den Legitimitätsanspruch der regierenden Parteien. Die Selbstverständlichkeit eines einmal eingeschlagenen Weges, der dann nach und nach Verbindlichkeitsansprüche in allen Bereichen fordert, bringt die Philosophie nicht auf. Vielmehr stellt sie sich von vorne herein schon dagegen. Nach Platon sprangen die Sophisten in die Lücken, welche zwischen den unterschiedlichen Verbindlichkeitsansprüchen gähnten, allerdings nicht, um neue Verbindlichkeiten zu begründen, sondern um die Situation für sich auszunutzen. Sie lehrten die Beliebigkeit der Anschauungen, und dass es nur darauf ankomme, darin die Möglichkeiten für das eigene Fortkommen zu erkennen und zu sichern.

      Sokrates und Platon genügte das nicht. Sie wollten eine tatsächliche Neugründung der geistigen und sozialen Fundamente errichten, wussten aber, dass das so einfach nicht ist, weil die traditionellen Überzeugungen zerstört waren und keine gemeinsame Basis von Anschauungen mehr bestand; die Individualisierung ist geradezu das Kennzeichen der sophistischen Aufklärung.

      Es ist das Verdienst Platons, diesen dynamischen Wissensbegriff entwickelt zu haben. Dabei legt er darauf Wert, dass echtes Wissen sich seiner Voraussetzungen immer wieder neu versichert, um so die Bestände an Wissen im dynamischen Fluss zu halten.16 Während die Sophisten sich pragmatisch darauf ausrichteten, die Ambivalenz der meisten Voraussetzungen dafür zu nutzen, das Wissen so zu gebrauchen, wie es einem selbst gerade am meisten einbringt, verschob Sokrates die Grundlage der Philosophie in den Einzelnen und sein Nachdenken. Die Zielgröße liegt dabei nicht im äußeren Erfolg, sondern in der inneren Zufriedenheit, in der Übereinstimmung mit sich selbst und mit denen, welche die Dinge genauso sehen, also im Weg zu Weisheit und Wahrheit, nicht im Anspruch, alles besser zu wissen.

      Das eigenartige Bild von Sokrates, das Hervorbringen von Wissen mit der Hebammenkunst zu vergleichen, verdeutlicht die Grundhaltung der Philosophie: Was hervorgebracht wird, muss erst geprüft werden und notfalls verworfen werden. Was besteht, ist aber nichts Endgültiges, sondern bedarf der weiteren Pflege und Fortbildung.

      Bei der Lektüre von Platons Texten gewinnen wir manchmal den Eindruck, er sei überzeugt davon, dass es sicheres, positives Wissen geben könnte. Seinen Sokrates lässt er nach einem Weg suchen, die Methode zur Eruierung dieses Wissens auf das, ihn tatsächlich sehr viel mehr interessierende, Wissen über die Lebensführung zu übertragen. Dabei stellt er fest, dass auch dort kein Wissen generiert werden kann, das keine Zweifel zulässt. Im vollen Bewusstsein, dass uns Menschen gar keine andere Wahl bleibt, als in unserer Lebensführung von bestimmten Überzeugungen auszugehen, erhebt er den Verfahrensweg der genauen Prüfung allen Wissens zur eigentlichen Kernaufgabe der Philosophie. Platon hat damit diese spezifische Ambivalenz der menschlichen Existenz nicht nur gefunden und aufgedeckt, sondern sich dieser auch ohne Scheu und Furcht ausgesetzt und die damit einhergehende Spannung ausgehalten.

      Weiterführende Literatur

      Ekkehard Martens, Platons Fußnoten zu Sokrates“, in: Schiemann u. a. 2006, 59–69.

      Burkhard Mojsisch, „‚Dialektik‘ und ‚Dialog‘: Politeia, Theaitetos, Sophistes“, in: Kobusch u. a. 1996, 167–180.

      Rudolf Rehn, „Der entzauberte Eros: Symposion“, in: Kobusch u. a. 1996, 81–95.

      Frisbee Sheffield, „Symposium 201d1.204c6“, in: Horn 2012, 125–140; dt. übers. „Das Wechselspiel von Erzählung und Argumentation im Mythos von Penia und Poros in Platons Symposion“ in: Janka u. a. 2014, 283–301.

      Orrin F. Summerell, „Der Wollfaden der Liebe. Anmerkungen zu einem Motiv in Platons Symposion“, in: van Ackeren 2004, 69–91.

      14Der sogenannte „wahrhaft Lernbegierige“ ist nach Martens gewissermaßen der Sonderfall, denn im Grunde sei Platon davon überzeugt, dass „alle Menschen philosophieren, … alle vom Eros nach dem wirklich Guten beseelt sind“ (Martens 2006, 62). Die angegeben Stelle, Symposion 203b–204c, die Geschichte Diotimas von Eros, gibt diese Lesart aber leider nicht her.

      15Über die Ambivalenz des Eros vgl. Rehn 1996, 85–90, 91 f. Zum Symposion insgesamt