Ernst Langthaler

Agro-Food Studies


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die Versuche, die wachsenden Produktionsüberschüsse mittels Preissubventionen auf dem Weltmarkt abzusetzen, den internationalen Wettbewerb. Drittens sahen die aufstrebenden transnationalen Unternehmen den nationalstaatlichen Protektionismus (→ Liberalismus) im Agrar- und Ernährungsbereich zunehmend als Hemmschuh für ihre Geschäftsstrategien. Diese Widersprüche befeuerten die Versuche der GATT-Reform ab 1986, ein neues Regelwerk im Zeichen des Neoliberalismus zu schaffen (siehe Abb. 2.2; Winders 2012, 153).

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      Abb. 2.2: Übersicht zum US-zentrierten Nahrungsregime (eigene Darstellung)

      Vom US-zentrierten Nahrungsregime hob sich das neoliberal ausgerichtete vor allem durch die veränderte Rolle des Staates ab: Verstanden sich Nationalstaaten zuvor als Beherrscher des Marktes, definierte sie der Neoliberalismus nunmehr als dessen Dienstleister. Dementsprechend galt Ernährungssicherheit nicht mehr als unveräußerliches Menschenrecht – so die FAO noch in der Welternährungskrise der 1970er Jahre –, sondern war nach der Lesart der Weltbank in den 1980er Jahren eine Leistung des Weltmarkts. Gemäß dem Grundsatz vom → „komparativen Kostenvorteil“ solle sich jedes Land auf die Güter spezialisieren, die es relativ günstiger herstellen kann, und den restlichen Bedarf über Freihandel decken. Die dafür erforderliche Liberalisierung der Märkte, die exportorientierte New Agricultural Countries (Brasilien, Argentinien, Neuseeland usw.) und transnationale Unternehmen in der Uruguay-Runde des GATT ab 1986 vorantrieben, wurde 1995 im Agreement on Agriculture der neu gegründeten Welthandelsorganisation (WTO) festgeschrieben. Angesichts des Gewichts transnationaler Unternehmen, die sich immer mehr auf den entfesselten Finanzmärkten engagierten (siehe Box 2.5), wird das WTO-zentrierte Nahrungsregime auch als corporate oder flexible food regime bezeichnet (Vorley 2003; McMichael 2013, 47 ff.).

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      Parmalat als Drei-Ebenen-Netzwerk ‚flexibler‘ Kapitalakkumulation (eigene Darstellung nach Langthaler 2010, 160)

      Innerhalb des neoliberalen Regelwerks gewannen agroindustrielle Unternehmen zusätzlichen Spielraum. Sie stehen nicht nur im Wettbewerb untereinander, sondern auch mit Nationalstaaten und nichtstaatlichen Organisationen (Non-Governmental Organisations, NGOs). Ein Beispiel stellt die Firma Parmalat dar, die zu einem transnationalen Lebensmittelkonzern aufgestiegen war. Ihre Drei-Ebenen-Netzwerkarchitektur war charakteristisch für die ‚flexibel‘ regulierte Kapitalakkumulation der Globalisierungsära seit den 1990er Jahren: Auf der ersten Ebene generierten ProduzentInnen und KonsumentInnen in verschiedenen Ländern, die über das weitgespannte Verarbeitungs- und Verteilungsnetz auf der zweiten Ebene verknüpft waren, Wertschöpfung. Das parteipolitisch und finanzökonomisch eng verflochtene Kontrollzentrum auf der dritten Ebene (Parmalat Finanziaria) saugte die ‚realen‘ Werte auf und suchte sie im globalen Finanzsystem in ‚virtuelle‘ (Mehr-)Werte zu verwandeln – eine Strategie, die 2003 in einen desaströsen Finanzcrash mündete (van der Ploeg 2008, 87 ff.).

      Obwohl die WTO im Agreement on Agriculture die Entfesselung der Weltagrarmärkte auf ihre Agenda setzte (siehe Box 2.6), schlossen protektionistische Regulierung und neoliberale Deregulierung einander nicht aus. So etwa gelang es den USA, der EU und Japan, durch Umschichtungen ihre erheblichen Agrarsubventionen beizubehalten – zum Nutzen von Großfarmern und Agroindustrie. Demgemäß ging die EU in der GAP-Reform von 1992 von mengengebundenen Preissubventionen (amber box) zu von der Produktionsmenge entkoppelten Flächen- und Tierprämien (blue box) und zur Förderung der → Multifunktionalität (siehe Abschnitt 4.2.2) im Rahmen des Programms zur ländlichen Entwicklung (green box) über. Auch die USA, Japan und andere Industriestaaten betrieben reges boxing (Buckland 2004, 97 ff.). Folglich verfehlte der WTO-Zugang zur Ernährungssicherheit das Ziel der Handelsgerechtigkeit mittels Liberalisierung nicht nur, sondern beförderte dessen Gegenteil – die Verfestigung der Benachteiligung der Länder des Globalen Südens gegenüber den Agrarprotektionisten des Globalen Nordens (→ Globaler Süden) (McMichael 2013, 53).

      Die Wachstumsphase des US-zentrierten Nahrungsregimes mündete in den 1980er Jahren in eine Phase der Stagnation. In diesem Jahrzehnt wuchs die globale Produktion nur langsam und die Nettohandelsflüsse sowohl von Getreide als auch von Ölsaaten und Fleisch blieben weitgehend stabil. Erst in den 1990er Jahren wurde fast zeitgleich mit der GATT-Reform eine neue Dynamik sichtbar, als die Exporte von Ölsaaten und Fleisch mit hohen Raten zu wachsen begannen. Ab der Jahrtausendwende begann dann mit etwas Verzögerung auch der globale Getreidehandel wieder zuzunehmen. Die Getreideexporte wurden weiterhin von Nordamerika dominiert, während Europa zurücktrat und die Nachfolgestaaten der Sowjetunion zulegten; diese Exporte flossen überwiegend nach Asien und Afrika. Bei den Ölsaaten, vor allem bei Sojabohnen, kam der Zuwachs der Exporte überwiegend aus Südamerika und ging in Richtung der wachsenden Märkte in Asien; auch beim Fleisch entwickelte sich Südamerika zur dominierenden Exportregion und Asien zum größten Absatzmarkt (Krausmann und Langthaler 2016).

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      Anmerkung: Das Diagramm zeigt die physische Handelsbilanz (Importe minus Exporte). Positive Werte bedeuten Nettoimport, negative Werte Nettoexport.

      Das anhaltende Dumping von Agrarüberschüssen drückte die Weltmarktpreise unter die Produktionskosten. Dies wirkte zwar zum Vorteil transnationaler Handels- und Verarbeitungsunternehmen, benachteiligte jedoch die (klein-)bäuerlichen NahrungsproduzentInnen weltweit, vor allem im Globalen Süden. Laut einer Schätzung der Welternährungsorganisation FAO verloren hier in 16 Ländern 20 bis 30 Mio. Menschen aufgrund der Liberalisierung des Agrarhandels ihre bäuerliche Existenz (Madeley 2000, 75; Patel 2008; Brookfield und Parsons 2007). Viele Entwicklungsländer (→ Globaler Süden) hatten bereits im US-zentrierten Nahrungsregime begonnen, die Exportlandwirtschaft für tropische Güter zu forcieren und Grundnahrungsmittel aus Industrieländern zu importieren. Diese Tendenz verschärfte sich im WTO-zentrierten Regime durch „Strukturanpassungsprogramme“ von Weltbank und Internationalem Währungsfonds zum Schuldenabbau sowie durch → land grabbing durch transnationale Unternehmen im Bündnis mit nationalen Regierungen (Englert und Gärber 2014). Einige Staaten Lateinamerikas und Asiens stiegen als New Agricultural Countries durch Agrarexporte, etwa von Sojabohnen (siehe Box 2.7), zu den global players auf; dies ging jedoch oft zulasten der Ernährungssicherheit der ärmeren, von Nahrungsimporten abhängigen Bevölkerungsklassen. Trotz einzelner Exporterfolge waren Mitte der 2000er Jahre 70 % der Länder des Globalen Südens Nettoimporteure von Nahrungsmitteln. Auf diese Weise wurden sie verletzlicher gegenüber Preisschwankungen auf dem Weltmarkt – wie etwa 2007/08, als die Grundnahrungsmittelpreise binnen eines Jahres auf das Zwei- bis Dreifache hochschnellten (siehe Box 3.2; McMichael 2013, 47 ff.).

      Die Sojabohne, die bis Anfang des 20. Jahrhunderts ausschließlich in Ostasien angebaut und verbraucht wurde, erfuhr im 20. Jahrhundert eine erstaunliche Weltkarriere. Aufgrund ihres hohen Fett- und Eiweißgehalts wurde die