auf Ἰησοῦς, so wäre anzunehmen, dass man den Täufling sich demonstrativ antijüdisch, bez. gegen einen messianischen Irrtum wolle äussern lassen. Es spricht für eine ruhigere Stimmung, daß man ihm vielmehr nur ein direktes, klares Bekenntnis zum ›Messias Jesus‹, also ein Bekenntnis, welches thatsächlich sich mit der Synagoge in Widerspruch setzte, den Widerspruch aber nicht als solchen pointierte, in den Mund legt.«[8] Kattenbusch bemerkt sodann, dass die für R signifikante Stellung von »Christus Jesus« in den verschiedenen Handschriften selten vorkomme.
Der Hinweis auf die subtilen Erörterungen dieses Theologen deutet bereits an, dass der zweite Artikel des Apostolikums eine Auseinandersetzung um das Verhältnis zwischen den christlichen Gemeinden und der jüdischen Religion impliziert, die sich im Laufe der Überlieferungsgeschichte gewandelt hat. Allein in den beiden Möglichkeiten, die Ausdrücke »Jesus« und »Christus« einander zuzuordnen, spiegeln sich unterschiedliche Stellungen zu Israel bzw. zum Judentum wider. Für das hier infrage stehende Problem bedeutet das aber wiederum, dass von einer Israel-Vergessenheit des Apostolikums nicht im strengen Sinne des Worts die Rede sein kann. Vielmehr gehört die Auseinandersetzung mit dem Judentum und Israel zu den Entstehungsvoraussetzungen des Symbols. In welchem Sinne dieses Verhältnis bestimmt werden kann, lässt sich aber erst dann beantworten, wenn der Text des Apostolikums selbst historisch-kritisch analysiert und auf die angegebene Problemstellung hin befragt wird. Dieser Gesichtspunkt führt auch zu dem zweiten, systematisch-theologischen Beitrag von Martin Leiner.
Das Referat Martin Leiners kreist um Kriterienfragen christologischer Reflexionen. Das gilt zunächst für die christologischen Bestimmungen des zweiten Artikels. In diesem Zusammenhang hält er fest, dass die Auswahlkriterien für diese Bestimmungen darin bestanden hätten, die universale Bedeutung Jesu Christi mit absolut konkreten, individuellen Aussagen zu verschmelzen. Die hier verwendete Begrifflichkeit ist ausdrücklich an Tillichs Einleitung der Systematischen Theologie orientiert. Von hier aus nimmt Leiner auch auf die Position seines Jenenser Kollegen Karl-Wilhelm Niebuhr Bezug und damit zu |116|der Frage nach der Israel-Vergessenheit des Apostolikums Stellung. Leiner stellt fest, dass eine Erweiterung prinzipiell möglich sei, doch stehe die »Einbeziehung Israels […] quer zum Text [sc. des zweiten Artikels, G.N.], indem sie weder auf Individuelles noch auf Universales, sondern auf etwas Partikulares, etwas, was ein Volk und dieses allein, betrifft, abhebt«. Abgesehen davon, dass – wie oben bereits angedeutet wurde – der zweite Artikel eine Auseinandersetzung mit dem Judentum impliziert, ist an dieser Stelle anzumerken, dass sich die Begriffe des Individuellen bzw. Konkreten und des Partikularen keineswegs ausschließen müssen. Dafür steht nicht zuletzt Tillichs Position selbst, was es kurz zu erläutern gilt.
Ein für unseren Zusammenhang entscheidendes Argument Tillichs besteht darin, dass es sich bei Jesus Christus einerseits – wie auch Leiner betont – um etwas absolut Konkretes bzw. Partikulares handele. Andererseits geben Tillichs Ausführungen aber auch zu erkennen, dass dieses absolut Konkrete bzw. Partikulare keineswegs andere Partikularitäten exkludiere. Vielmehr vertrete »Jesus als der Christus« – als absolut Konkretes – »alles Partikulare«.[9] Letzteres komme in jenem zur Darstellung. Folgt man der Logik dieser Gedankenführung, befände sich der von Leiner aufgeworfene Gedanke der Partikularität Israels in einem Abhängigkeitsverhältnis zum absolut Konkreten, für das »Jesus als der Christus« steht. Beide Größen schließen sich somit nicht aus. Die Berufung auf Tillichs Position führt vielmehr zu einer spezifischen, heute aber nicht unumstrittenen Inbeziehungsetzung von »Jesus als dem Christus« und dem Gedanken der Partikularität Israels. Das aber wirft an dieser Stelle die Frage auf, worin das heuristische Potential der von Leiner geltend gemachten Unterscheidung zwischen dem absolut Konkreten und dem Partikularen für den Umgang mit der These von der Israel-Vergessenheit des Apostolikums liegen kann.
Die Kriterienfrage bildet sodann die Leitperspektive für die Überlegungen Leiners zum Verständnis von außerbiblischen Texten der Christentumsgeschichte. Auch um mit den Abweichungen dieser Texte von der biblischen Überlieferung umgehen zu können, sei es erforderlich, verstehenstheoretische Vorentscheidungen zu treffen. Die hermeneutischen Reflexionen Leiners sind von einem Schriftverständnis geleitet, das besagt, dass in der Bibel eine von Christus her bestimmte »Dynamik« angelegt sei, die sich in späteren Texten |117|der Christentumsgeschichte als eine »Rekapitulationsdynamik« niederschlage. Die Aufgabe der theologischen Hermeneutik bestehe dementsprechend darin, Texte der Christentumsgeschichte aus der von Christus als Mitte des Neuen Testaments bestimmten Dynamik heraus zu verstehen. Dieses Verstehen gelinge, wenn folgende zwei Kriterien veranschlagt werden: »ob und inwieweit sie [sc. die Texte der Christentumsgeschichte, G.N.] Jesus Christus entsprechen und ob und in wie weit sie als Evangelium, als frohe Botschaft von der Liebe Gottes, rezipiert werden können«. An das von Leiner andeutungsweise dargelegte hermeneutische Programm möchte ich drei Anfragen richten.
1) Die erste Frage betrifft die Feststellung, dass die neutestamentlichen Schriften »eine Dynamik enthalten, die von Leben, Lehre und Geschick Jesu Christi ausgeht«. Diese Dynamik wird mit dem Ausdruck der »Sprach-Bewegung« verbunden und als eine »semiotische« Kategorie ausgewiesen. Sowohl der Begriff der Dynamik als auch der der Sprach-Bewegung sind in dem Referat Leiners aber nur thetisch eingeführt worden. Um dem vorgeschlagenen Schriftverständnis besser nachdenken zu können, wäre eine Näherbestimmung beider Begriffe genauso hilfreich wie der Ausweis des Möglichkeitsgrunds ihrer Synthetisierbarkeit. Eine Konkretion wäre nicht zuletzt des zentralen systematisch-theologischen Stellenwerts wegen wünschenswert, der sich an mindestens zwei Gesichtspunkten ablesen lässt. Zum einen scheint die Verknüpfung des Dynamik-Begriffs mit dem des Sprachgeschehens die Funktion zu besitzen, den »garstige[n], breite[n] Graben« (Lessing) der Geschichte zu überbrücken, der zwischen dem Neuen Testament und späteren Texten der Christentumsgeschichte besteht. Zum anderen versucht Leiner damit ausdrücklich die Starrheit des reformatorischen Schriftprinzips aufzubrechen, was aber indirekt auch bedeutet, an diesem grundsätzlich festzuhalten. Gerade der letzte Gesichtspunkt fordert zur Diskussion heraus. Denn spätestens seit der Aufklärung befindet sich dieses Prinzip – mit Wolfhart Pannenberg gesprochen – in einer Krise.[10]
|118|2) Die zweite Frage zielt auf die konkrete Bedeutung der beiden von Leiner veranschlagten Kriterien. Für die Näherbestimmung des ersten Kriteriums, also der Entsprechung der Bekenntnisformulierung mit »Jesus Christus«, kämen eine Vielzahl von Elementen in Betracht, was Leiner auch indirekt andeutet, wenn er bemerkt, von »Jesus von Nazareth, seinem biblischen Bild und den historischen Rekonstruktionen« ausgehen zu wollen. Doch welche christologischen Elemente sind es im Einzelnen, mit denen spätere Texte der Christentumsgeschichte verglichen werden sollen? Die Dringlichkeit dieser Frage resultiert nicht zuletzt daraus, dass das historisch-kritisch rekonstruierte Jesusbild vom biblisch überlieferten grundlegend abweichen kann.[11] Die hier formulierte Anfrage gilt aber gleichermaßen für das zweite Kriterium – die Liebe Gottes. Auch hier wären für das Verständnis dieses Ausdrucks konkretisierende Bestimmungen hilfreich. Das gilt umso mehr, als der Ausdruck in den synoptischen Evangelien nur einmal auftaucht (Lk 11,42)[12] und in den anderen neutestamentlichen Schriften auch nicht einheitlich verwendet wird. Hinzu kommt, dass dieser Ausdruck innerhalb der Christentumsgeschichte vielfachen Wandlungen unterworfen ist, die sich nicht ohne Weiteres auf die biblische Überlieferung abbilden lassen.[13]
|119|3) Leiner interpretiert den Text des Apostolikums ausschließlich mittels der beiden genannten Kriterien. Die diesem Text immanente Bedeutung wird dabei nur am Rande gestreift und die Situation, in der dieser Text entstanden ist, sowie die wechselvolle Entstehungsgeschichte, die – wie oben im Anschluss an Kattenbusch angedeutet wurde – Ausdruck eines hochkomplexen geschichtlichen Werdens ist, nicht berührt. Hieran schließt die Frage an, ob es nicht – gerade auch aus hermeneutischen Gründen – sachgemäß wäre, gegenüber dem zweiten Artikel eine Text- und eine Situationshermeneutik vorzunehmen, um die gesellschaftlichen und historischen Bedingungen in die gedankliche Beurteilung der darin getroffenen Aussagen miteinzubeziehen und das Apostolikum damit als Ausdruck gelebter Frömmigkeit verständlich zu machen.
|120|Weiterführende Fragen
1 Können Sie die kritischen Rückfragen des Respondenten an die beiden Aufsätze nachvollziehen? Erscheinen Sie Ihnen