bezieht, dann lässt sich dies nicht vereinbaren mit einer Opposition zwischen dem irdischen Jesus und dem auferstandenen Christus. Nachdem Karl Barth eine Zeitlang die Kritik Rudolf Bultmanns an der liberalen und pietistischen Orientierung an Jesus geteilt hatte, schreibt er gegen diesen Gegensatz in KD II/2, 631: »Gott will Jesus […]. Es handelt sich beim Gehorsam gegen Gott immer darum, Jesus gehorsam zu werden und zu bleiben.« Als Menschen können wir gar nicht anders als mit dem Menschen Jesus und der Vielfalt seiner menschlichen Züge, die uns die Evangelien zeigen, in glaubende Beziehung zu treten.
2. Glaubensbekenntnis und Gesetzlichkeit
Systematischen Theologen ist die Beobachtung, dass der Glaube sich auf Personen richtet, wichtig, weil sie einem gesetzlichen Verständnis des Glaubensbekenntnisses entgegensteht. Gerhard Ebeling spricht dieses Problem wie folgt an: »Der Glaube an Jesus Christus entfaltet sich in einer Vielzahl von Aussagen. Das bringt ihn in den Geruch religiöser Gesetzlichkeit.«[7] Die Annahme aller einzelnen, vielleicht noch zerstückelten Glaubensaussagen wird zum frommen Werk. Je absurder oder schwerer verständlich die Aussage – von der |105|Jungfrauengeburt bis zur Himmel- und Höllenfahrt – umso größer ist die Leistung, die der »Glaubende« erbringen muss. Umso mehr wird das Glaubensbekenntnis Instrument der Werkgerechtigkeit und damit des Unglaubens. Man kann nach Ebeling dieser Gesetzlichkeit dadurch entgehen, dass man die christologischen Aussagen, auch in ihrer Fülle nicht als Glaubenspflicht, sondern als Ausdruck der unerschöpflichen Liebe Gottes versteht.[8] »Das ist gewissermaßen der Schlüssel zu allen christologischen Schlössern.«[9] Die beschreibenden Kennzeichnungen Jesu Christi, die wir in den Glaubensaussagen des Apostolikums vorliegen haben, sind in gewisser Weise sogar überflüssig, redundant. Im Grunde ist alles bereits im Glauben an Jesus Christus enthalten. Selbstverständlich ist Jesus Christus für jeden, der das Neue Testament kennt, derjenige über den das alles ausgesagt werden kann. Es ist ähnlich selbstverständlich für den Kenner, wie es für den Kenner nichts hinzufügt, wenn ich statt: »Ich beziehe mich auf Martin Luther«, sage: »Ich beziehe mich auf Martin Luther, den Reformator, der in Eisleben geboren ist, der in Leipzig an einer Disputation teilgenommen hat, der in Wittenberg Professor war und der in Eisleben gestorben ist.« Die Auswahl von Aussagen, die das Glaubensbekenntnis macht, scheint mir nicht darauf zu zielen, Jesus Christus besser zu identifizieren, sie hat offensichtlich auch nicht das Ziel, Vollständigkeit zu erreichen. Sehr wichtige Elemente des Lebens und der Lehre Jesu fehlen, etwa seine Beziehung zu Johannes dem Täufer, seine Predigt vom Reich Gottes, die Wunder, seine Ethik, seine Gleichnisse, die Einsetzung des Abendmahls auch die Heilsbedeutung seines Todes. Die Auswahlkriterien sind offenbar auch nicht allein zeitgenössische theologische Debatten, über das Leiden unter Pontius Pilatus sind keine solchen Debatten in der Alten Kirche bekannt. Damit wird die Frage spannend: Welches sind die Auswahlkriterien? Der Text des zweiten Artikels des Apostolikums verbindet, so meine Interpretation, die universale Bedeutung Jesu Christi mit absolut konkreten, individuellen Aussagen. Die individuellen Aussagen sind: der Name »Jesus«, er ist der »einziggeborene Sohn«, die Mutter »Maria«, »gelitten unter Pontius Pilatus«, »am dritten Tag« auferstanden. Die Universalität wird transversal als eine alle Bereiche des Seins durchlebende Geschichte erzählt: Im Nizänum noch klarer beginnt die Geburt aus Gott, dann das Erdenleben bis hin zum Tod |106|am Kreuz und zum Grab, dann tiefer noch bis in das Reich des Todes, durch die Auferstehung und die Himmelfahrt dann wieder zurück zu Gott. Die Auswahlkriterien des Apostolikums entsprechen ziemlich genau der christologischen Formel von Paul Tillich, die christliche Theologie habe in Jesus Christus eine Grundlage, die vollkommen konkret und absolut universal zugleich sei.[10]
3. Zur Frage eines Aufbrechens der Israel-Vergessenheit des Credos
Auf dieser Grundlage ergibt sich auch meine Antwort auf das von Karl-Wilhelm Niebuhr angeregte Aufbrechen der Israel-Vergessenheit des Credos. Wenn die christologischen Aussagen nicht nach der Logik der Vollständigkeit, sondern der Kombination von individueller Konkretheit und universaler Reichweite ausgewählt wurden, ist eine Erweiterung grundsätzlich möglich, wenn auch ökumenisch höchst konfliktträchtig. Auch andere Erweiterungen könnten wichtig sein. Eine Einbeziehung Israels wäre in antijudaistischen Zeiten etwa in den 1930er und 40er Jahren aus ethischer Sicht sehr wünschenswert gewesen, sie steht aber, wenn die gegebene Analyse richtig ist, quer zum Text, indem sie weder auf Individuelles noch auf Universales, sondern auf etwas Partikulares, etwas, was ein Volk und dieses allein, betrifft, abhebt.
Dahinter stehen wichtige hermeneutische Klärungen, die zwischen Neuem Testament und Systematik vorangebracht werden müssen. Das Apostolikum ist ein Text, der insofern im Gegensatz zu den paulinischen Schriften steht, als er die Israelbezogenheit in den Hintergrund treten lässt. Universales räumliches Denken setzt sich im Apostolikum gegenüber heilsgeschichtlichem, partikular-israelisches |107|unterstreichendem Denken durch. Eine hermeneutisch-kritische Grundfrage ist: Wie soll in dieser Diskrepanz entschieden werden? Welche Texte verdienen unter welchen Gesichtspunkten den Vorrang? Ein ähnliches Problem liegt auch bei dem Untertitel der jetzigen Einheit vor: Die Rede von Jesus als »Person der Trinität«, wie sie im Untertitel erscheint, ist Produkt der Dogmenbildung, sie ist als solche nicht im Neuen Testament zu belegen. Soll man sie deshalb zugunsten des neutestamentlichen Textes kritisch relativieren?
4. Die hermeneutische Aufgabe im Blick auf das Judentum und das trinitarische Dogma
Die Konkordienformel gibt eine klare Antwort auf diese Frage: »Solchergestalt wird der Unterschied zwischen der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testamentes und allen andern Schriften erhalten, und bleibt allein die Heilige Schrift der einig Richter, Regel und Richtschnur, nach welcher als dem einigen Probierstein sollen und müssen alle Lehren erkannt und geurteilt werden, ob sie gut oder bös, recht oder unrecht sein. Die anderen Symbola aber […] sind nicht Richter wie die Heilige Schrift, sondern allein Zeugnis und Erklärung des Glaubens, wie jederzeit die Heilige Schrift in streitigen Artikuln in der Kirchen Gottes von den damals Lebenden vorstanden und ausgeleget […] worden.«[11] Dieser Text scheint dazu anzuleiten, die biblischen Aussagen als etwas Statisch-Wahres (»Probierstein«) den zeitlich sich wandelnden relativen Bekenntnissen gegenüberzustellen. Der Vergleich von Wortlaut und Aussagen mit der Schrift scheint auszureichen, um zu einem Urteil über die Bekenntnisse zu kommen. Diesem vereinfachten Verständnis der Position der Konkordienformel gegenüber ist es wichtig festzuhalten, dass die biblischen Texte eine Dynamik enthalten, die von Leben, Lehre und Geschick Jesu Christi ausgeht. Wie ein Stein, der ins Wasser fällt, Kreise bis ans Ende des Sees zieht, so setzt Jesus Christus eine Sprach-Bewegung in Gang, die nicht schon an den Enden des biblischen Kanons aufhört. Die neutestamentlichen Schriften enthalten unterschiedlich starke Zeugnisse dieser Dynamik, manchmal auch Stagnationen und Rückschritte. Insgesamt ist das frühe Christentum aber keine Reformbewegung im |108|Judentum, sondern hat die jüdische Religion als Ganze um ein neues Zentrum, Jesus Christus, neu geordnet und interpretiert. Es findet mit dem Christentum eine semiotische Revolution statt, deren Movens die Rekapitulationsdynamik ist, bei der Signifikate neu den Signifikanten zugeordnet und alles von Christus her neu interpretiert wird.[12]
Bereits im Neuen Testament lassen sich deshalb auch Strömungen finden, die über das Festhalten heilsgeschichtlicher Vorzüge Israels hinausgehen und zu einem Universalismus tendieren. »In Christus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist« (Gal 5,6) oder: »Hier ist nicht Jude noch Grieche […] denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus« (Gal 3,28). Ebenso ist die Bewegung, die zur Trinitätslehre führt, bereits im Neuen Testament angelegt. Jesus Christus wird mit dem Titel Herr, Kyrios und sogar »Gott« (Röm 9,5) bezeichnet. Kyrios ist in der Septuaginta die Wiedergabe für den Gottesnamen. Die Rekapitulationsdynamik geht schon sehr früh so weit, dass Christus mit Jahwe identifiziert wird. Dasselbe wird in 2 Kor 3,17 auch vom Geist ausgesagt: »Der Herr (ὁ κύριος) ist der Geist.« Damit sind die Grundlagen für den Trinitätsglauben gelegt, auch wenn die Begrifflichkeit des trinitarischen Dogmas erst in einem anderen Kontext und Jahrhunderte später festgelegt wird.
Eine Hermeneutik, die die Dynamik der Texte aufnimmt, kann deshalb nicht durch Abgleich von Aussagen vorgehen, sondern sie muss die von Christus als der Mitte des Neuen Testaments bestimmte Dynamik