Paulus kreiert dazu aus verschiedenen Schriftstellen nach den Regeln zeitgenössischer exegetischer Kunst eine Art Cento, in dem sich Israel und die Völker zum hymnischen Lobpreis Gottes vereinen (15,9–13).[53] Während die Verheißungen für Israel bei den Erzvätern verankert sind,[54] wurzelt die Heilshoffnung für die Völker in |100|prophetischen Ausblicken auf die Endzeit. Nach biblischem Zeugnis wird Gott am Ende der Zeit ganz Israel auf dem Zion versammeln, zusammen mit allen Völkern, und die nach dem endzeitlichen Kampf JHWHs gegen die Feinde Jerusalems Übriggebliebenen aus den Völkern werden hinaufziehen, um im Tempel JHWH anzubeten und mit Israel gemeinsam das Laubhüttenfest zu feiern.[55] Gegenüber den ursprünglichen Aussagezusammenhängen der Schriftzitate akzentuiert Paulus dabei besonders die positive Heilshoffnung für die Völker, ohne dadurch aber die Heilszusagen für Israel abzuschwächen.
Auch im Blick auf diese doppelte Zielrichtung des Christusdienstes kann Paulus seinen eigenen Dienst und sein Missionswerk in Strukturanalogie zum Dienst Christi interpretieren.[56] Als »Diener Christi Jesu« (λειτουργὸς Χριστοῦ Ἰησοῦ) weiß er sich zu den Völkern gesandt, aber zugleich richtet er seine Pläne daran aus, »den Heiligen in Jerusalem zu dienen«.[57] Die gegenseitige Annahme in der Gemeinde nach dem Vorbild Christi beschränkt sich also nicht auf die »innerrömischen« Verhältnisse, sondern der Dienst Christi an Israel und den Völkern wird nach Paulus zum Maßstab und zur Basis für die Einheit der Kirche Jesu Christi.
Die Bezeichnung Jesu als »Diener der Beschneidung« (διάκονος […] περιτομῆς) hat zwar keinen Eingang in die frühchristliche Bekenntnisbildung gefunden. Sie enthält gleichwohl ein wesentliches Element paulinischer Christologie. In ihr zeigt sich die Bindung des Heilshandelns Gottes in Jesus Christus an den Messias aus Israel, der selbst |101|Israelit war und dessen Dienst auf Israel und die Völker ausgerichtet ist. Der Sache nach ergeben sich daraus Bezüge auch zu den paulinischen Argumentationen im Galaterbrief und im Römerbrief über die Rechtfertigung nicht aus Werken des Gesetzes, sondern aus Glauben an Jesus Christus. Demnach ist Christus nicht »Diener der Sünde« geworden,[58] sondern »Diener der Beschneidung« und »Hoffnung für die Völker«.[59] Daher erlangen im Christusgeschehen Juden wie Nichtjuden endzeitliche Rettung.[60]
Fußnoten
Vgl. den Beitrag von Martin Leiner in diesem Band. Eine leicht überarbeitete Fassung des folgenden Beitrags erscheint in englischer Übersetzung in: P. Dragutinović/T. Nicklas/K. Rodenbiker/V. Tatalović (Hg.), The Christ of Sacred Stories, WUNT II, Tübingen 2017, 141–154.
Selbstverständlich gibt es andere Aspekte paulinischer Christologie, die mindestens ebenso großes, vielleicht sogar größeres Gewicht haben, wie etwa der Kreuzestod Jesu (1 Kor 1,18; Gal 3,1 u.ö.) oder die sühnende Wirkung seines Sterbens (Röm 3,25; Gal 3,13). Aber zum einen sind diese Aspekte viel stärker in der christlichen Bekenntnistradition verankert und wirksam geworden, zum andern lassen gerade sie auch spezifische Bindungen der Jesus-Geschichte an sein Judesein erkennen – was in einem eigenen Beitrag zu entfalten wäre.
Zur ihr schon seit dem frühen 2. Jh. n. Chr. vorausgehenden Israel-Vergessenheit in den Pastoralbriefen und den Ignatius-Briefen vgl. jetzt M. THEOBALD, Israel-Vergessenheit in den Pastoralbriefen. Ein neuer Vorschlag zu ihrer historisch-theologischen Verortung im 2. Jahrhundert n. Chr. unter besonderer Berücksichtigung der Ignatius-Briefe, SBS 229, Stuttgart 2016.
In der EKD-Studie Christen und Juden II. Zur theologischen Neuorientierung im Verhältnis zum Judentum, Gütersloh 1991, war unter der Überschrift »Auf dem Weg zu neuen Einsichten« auch die christologische Thematik ausdrücklich thematisiert worden (3.3 Jesus – Messias – Christus, 30–37). Vgl. dazu W. KRAUS, Christologie ohne Antijudaismus? Ein Überblick über die Diskussion, in: ders. (Hg.), Christen und Juden. Perspektiven einer Annäherung, Gütersloh 1997, 21–48. Die Nachfolgestudie Christen und Juden III. Schritte der Erneuerung im Verhältnis zum Judentum, Gütersloh 2000, konzentrierte sich dagegen ganz auf die stärker ekklesiologisch relevanten Themen Bund und Erwählung.
In Bekenntnisformeln begegnet Ἰησοῦς Χριστός bei Paulus in Röm 1,4; 10,9; 1 Kor 12,3; 2 Kor 1,3; Gal 3,1; Phil 2,11; 1 Thess 1,10, darüber hinaus in bekenntnisartigen Zusammenhängen besonders in der Apostelgeschichte (Apg 11,17; 17,3; 18,5.28; 24,24; 28,31). Lukas liebt auch die Wendung ἐπí bzw. ἐν τῷ ὀνόματι Ἰησοῦ Χριστοῦ – »auf den« bzw. »im Namen Jesu Christi« o.ä. (Apg 2,38; 3,6; 4,10; 8,12; 10,48; 15,26; 16,18); in seinem Evangelium hat er dagegen nie Ἰησοῦς Χριστός (anders Mt 1,1.18; Mk 1,1; Joh 1,17; 17,3). In der Briefliteratur, vor allem bei Paulus, begegnet die Wortfolge Ἰησοῦς Χριστός häufiger (vgl. Eph 1,2.3.5.17; 5,20; 6,23f.; Kol 1,3; 1 Tim 6,3.14; 2 Tim 2,8; Tit 2,13; 3,6; Hebr 13,8; Jak 1,1; 2,1; 1 Joh 1,3; 3,23; Apk 1,1.2.5), wird aber keineswegs stereotyp als Eigenname gebraucht (noch häufiger findet sich Χριστὸς Ἰησοῦς). Formelhaft ist »Jesus Christus« als Eigenname nur in den Katholischen Briefen (1 Petr 9x; 2 Petr 9x; 1 Joh 6x; 2 Joh 2x; Jud 6x).
F. AVEMARIE, Josua. Jesu Namenspatron in antik-jüdischer Rezeption, in: K. Schiffner/K. Wengst/W. Zager (Hg.), Fragmentarisches Wörterbuch. Beiträge zur biblischen Exegese und christlichen Theologie (FS H. Balz), Stuttgart 2007, 246–257, weist darauf hin, »dass der Messias und Gottessohn, den das Christentum bekennt, den Namen einer der ganz großen Gestalten der Geschichte Israels trägt« (nämlich Josua), stellt aber zugleich fest: »Anders als Mose, David oder Elija dient Josua […] nirgends im Neuen Testament als Modellfigur zur Profilierung von Jesu Messianität« (a.a.O., 246).
Besonders ausführlich geschieht das in Mt 1,21–23, wo Jesus sogar einen theologisch sinnhaltigen Doppelnamen erhält: »Jesus, denn er wird sein Volk erretten von ihren Sünden« und »Immanuel, was bedeutet: Mit uns ist Gott.« Beide Namen sind biblisch gefüllt (Ps 130,8; Jes 8,8.10); vgl. G. SCHNEIDER, Ἰησοῦς, EWNT 2 (1981), 440–452, 442f.; N. WALTER, Ἐμμανουήλ, EWNT 1 (1980), 1080f.
Zur frühjüdischen Messiaserwartung vgl. als Überblick H.-J. FABRY/ K. SCHOLTISSEK, Der Messias, NEB.T 5, Würzburg 2002, 36–52; zur Vielfalt messianischer Erwartungen (mit und ohne Messiasgestalt) vgl. J.A. FITZMYER, The One Who is to Come, Grand Rapids 1997; G. OEGEMA, Der Gesalbte und sein Volk. Untersuchungen zum Konzeptualisierungsprozeß der messianischen Erwartungen von den Makkabäern bis Bar Koziba, SIJD 2, Göttingen 1994; J.H. CHARLESWORTH, The Messiah. Developments in Earliest Judaism and Christianity, Minneapolis 1992; J. NEUSNER/W.S. GREEN/E.S. FRERICHS, Judaisms and Their Messiahs at the Turn of the Christian Era, Cambridge 1987. Klassisch ist die Darstellung von S. MOWINCKEL, He That Cometh. The Messiah Concept in the Old Testament and Later Judaism (1956), übers. v. G.W. Anderson, Grand Rapids 2005.
Vgl. M. HENGEL, Die Zeloten. Untersuchungen zur jüdischen Freiheitsbewegung in der Zeit von Herodes I. bis 70 n. Chr., WUNT 283, Tübingen 32011, 289–301.