Philipp Bode

Einführung in die Tierethik


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ausschlaggebend für moralische Berücksichtigung (zum Beispiel die biologische Zugehörigkeit zur Spezies Homo sapiens), sondern die jeweiligen individuellen Eigenschaften bzw. Fähigkeiten. Und das bedeutet umgekehrt: Sobald zwei Wesen ungleiche moralische Berücksichtigung erfahren, muss dies auch mit Bezug auf die individuellen Eigenschaften dieser Wesen gerechtfertigt werden (vgl. Rachels 1990, 173). Das Extensionsmodell sagt allerdings noch nichts über die Bedeutung und die Konsequenzen einer solchen Erweiterung aus. Wie wir sehen werden, kann die Erweiterung der moralischen Gemeinschaft durchaus unterschiedlich aussehen, will sagen: unterschiedlich radikal sein. Das ist allein schon deswegen der Fall, weil das Extensionsmodell in jedem Fall eine moralische Begrenzung menschlichen Handelns impliziert.

      Tierethiker haben mit Blick auf den moralischen Individualismus also einiges zu tun: Sie müssen nicht nur klären, welche Eigenschaften warum moralisch relevant sein sollen – das sind ethische Fragen. Sie müssen auch angeben können, auf welche Tiere das eigentlich zutrifft – und das sind in erster Linie empirische Fragen. Hier ist also nicht nur philosophisches, sondern auch biologisches, psychologisches und wohl auch kognitionswissenschaftliches Wissen gefragt.

      (2) Es hat sich allerdings früh Skepsis bemerkbar gemacht hinsichtlich der Abhängigkeit einer moralischen Berücksichtigung allein von Eigenschaften bzw. Fähigkeiten. Insbesondere aus dieser Skepsis speist sich die zweite Begründungsstrategie für eine moralische Berücksichtigung von Tieren. Diese Strategie legt ihr Gewicht nun nicht auf faktische Eigenschaften (wie etwa den Umstand, ein empfindungsfähiges Lebewesen zu sein), sondern auf die tatsächlichen, in der Praxis gelebten Beziehungen zwischen Menschen und Tieren. In diesen realen Beziehungen würden ebenfalls normative Regeln zum Vorschein kommen, die sich nicht auf Eigenschaften eines Individuums reduzieren ließen.

      Eine solche Position, die ihren Fokus auf die praktischen Beziehungen zwischen Mensch und Tier legt, nennt man Relationismus. Ein solcher Relationismus kann unterschiedlich stark ausfallen. Manche Relationisten konzentrieren sich allein auf die normativ geregelte Praxis, andere kombinieren ihren Relativismus mit dem moralischen Individualismus. Auch diese Positionen werden wir kennenlernen.

      Erinnern wir uns: Zunächst hatten wir die typischen Eigenschaften kennengelernt, mit denen die Erweiterung der moralischen Gemeinschaft (das Extensionsmodell) gängigerweise operiert. Im Anschluss haben wir gesehen, dass es neben dem moralischen Individualismus, auf dem das Extensionsmodell beruht, noch eine zweite Argumentationsstrategie für die Aufnahme von Tieren in die moralische Gemeinschaft gibt, den Relationismus.

      Wenn wir es also mit einer Argumentationsstrategie zu tun haben, die Tiere in die moralische Gemeinschaft mit aufnimmt, und wenn eine diese Strategien nutzende Moraltheorie Konflikte zwischen menschlichen und tierlichen Belangen zulässt (und das tun beide), dann bleibt für den Moment noch eine letzte Frage zu klären, nämlich die jeder auf Gleichheit ausgerichteten Moraltheorie zugrunde liegende Frage, ob alle Mitglieder der moralischen Gemeinschaft auch tatsächlich als Gleiche anerkannt und respektiert werden, oder ob womöglich begründbare Hierarchien dieser Lebewesen existieren, was bedeutet, dass zwar die moralische Gemeinschaft durchaus Tiere mit einschließt, innerhalb dieser Gemeinschaft allerdings Abstufungen des moralischen Status begründbar wären. Also wieder eine Frage mit zwei Antwortmöglichkeiten.

      (1) Die erste Möglichkeit besagt, dass moralische Ungleichbehandlungen von Mensch und Tier nicht begründet werden können. Es gibt keinerlei moralisch relevante Abstufungen zwischen Mensch und Tier – zumindest mit Blick auf eine bestimmte Gruppe von Tieren. Welche Gruppe das genau ist (alle Säugetiere, alle Wirbeltiere usw.), kann sich je nach Moraltheorie durchaus unterscheiden. Eine solche Moraltheorie nennt man egalitaristisch (franz. Égalité, von lat. aequalitas, Gleichheit).

      Insbesondere aus egalitaristischen Positionen ist ein Vorwurf gegen all jene erhoben worden, die sich der grundsätzlichen moralischen Gleichstellung von Mensch und Tier verweigern. Es handelt sich hierbei um den sog. Speziesismus-Vorwurf, den der australische Philosoph Peter SINGER populär gemacht hat. Damit ist eine Form der Diskriminierung gemeint, die immer dann vorgenommen wird, wenn das moralische Gewicht des Tieres lediglich aufgrund einer Spezieszugehörigkeit zugunsten des Menschen abgewertet wird. Für SINGER stellt die Spezieszugehörigkeit für eine moralische Berücksichtigung einen ebenso zufälligen wie trivialen Umstand dar wie die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Geschlecht oder einer bestimmten Ethnie. Zwischen Sexismus, Rassismus und eben Speziesismus sehen viele Tierethiker keinen Unterschied.

      Was hierarchische Moraltheorien nun zu leisten haben, ist die Angabe von Gründen für eine solche moralische Hierarchie, also für eine „Abstufung in Bezug auf die moralische Bedeutung“ (Rippe 2003, 410). Wie sich diese Begründungsversuche sortieren lassen, und ob auch die hier vorgestellten, die gegenwärtig Konsens sind, ausreichend differenzieren, darüber besteht durchaus Uneinigkeit.

      Damit können wir den Überblick über die Positionen theoretischer Tierethiken für den Moment abschließen.

      Systematik der Positionen theoretischer Tierethiken

      Mit den praktischen Elementen der Tierethik sind jene gemeint, die unseren tatsächlichen Umgang mit Tieren im gesellschaftlichen Kontext verorten und konkrete gesetzliche Handlungsvorschläge unterbreiten. Dabei sind die Intentionen durchaus unterschiedlich: Geht es den einen um einen möglichst umfassenden gesetzlichen Schutz der Tiere vor Leid (Tierschutzethik), zielen andere auf die völlige Abschaffung jeglichen Tiergebrauchs ab, sei es sofort (Abolitionismus), schrittweise (Reformismus) oder auch ohne notwendigen Verweis auf Recht und Gesetz (Tierbefreiung).

      Es gibt allerdings bei den Positionen praktischer Tierethiken ein ziemliches Durcheinander an Begriffen, was vor allem daran liegt, dass die Bezeichnungen Tierbefreiung, Tierschutz oder Tierrechte häufig synonym gebraucht werden. Das hat viele Gründe. Manche dieser Gründe liegen sicher in der Geschichte der jeweiligen tierethischen Bewegungen, also in einer Zeit, die noch keine uns heute bekannte Ausdifferenzierung an Positionen vorzuweisen hatte. Vor diesem Hintergrund ist eine klare begriffliche Unterscheidung unverzichtbar. Die folgende Gliederung soll daher ein Systematisierungsvorschlag für die vier grundsätzlichen Positionen praktischer Tierethiken darstellen.

      Das erklärte Ziel der traditionellen Tierschutzethik, die in den 1970er Jahren auch in Deutschland schnell an Gewicht gewann, war und ist, die rechtlichen Bedingungen, nach denen Tiere gehalten werden – sei es zu Nahrungs-, Forschungs- oder Unterhaltungszwecken – möglichst zu optimieren, um so etwas wie eine ‚artgerechte Haltung‘ zu erreichen. Der Grundgedanke ist dabei klar pathozentristisch, was bedeutet, dass die Leidensfähigkeit der Tiere als primäres bindendes moralisches Kriterium