im Tierversuch. Da Reformisten in aller Regel der Ansicht sind, dass abolitionistische Tierrechtsbefürworter keine plausible Agenda zur Erreichung des Ziels anzubieten haben, bieten sie selbst als Argument den kausalen Zusammenhang zwischen schrittweisen Verbesserungen in der Nutztierhaltung an. Eine zeitlich begrenzte Instrumentalisierung von Tieren zu menschlichen Zwecken müsse also hingenommen werden, um das langfristige Ziel erreichen zu können.
Reformisten können diesen ‚langen Weg‘ unterschiedlich gestalten. Ich möchte als Beispiel den österreichischen Tierschützer MARTIN BALLUCH wählen (vgl. VGT 1, VGT 2). Dieser vertritt die Ansicht, dass der Abolitionismus den Umstand verkennt, dass rationale Argumente in aller Regel keinen Einfluss auf das Verhalten von Menschen nehmen. Wir wissen ja vermutlich alle um die Umstände der Massentierhaltung und der tierlichen Lebensmittelproduktion und kaufen (zumindest die meisten von uns) dennoch Fleisch, Milch und Eier im Supermarkt.
Eine solche Diskrepanz zwischen Wissen und Handlung ist für den Reformisten dadurch zu erklären, dass in speziesistischen Gesellschaften wie der unsrigen der Aufwand für eine vegane oder auch vegetarische Lebensweise um ein Vielfaches höher ist, als einfach mit dem Strom zu schwimmen. Und dieser Mehraufwand an Energie wird, zumindest aus der Gesellschaft heraus, nirgends honoriert oder gespiegelt. Es gibt keine Tiere, die sich bei uns bedanken, es gibt keinen erkennbaren Effekt im Supermarkt. Die Regale bleiben zunächst weiter voll von tierischen Produkten und, womöglich das Schwierigste, der Aufwand wird in aller Regel mit der Zeit nicht abnehmen, es ist (zumindest heutzutage) ein permanenter Energieaufwand nötig, um vegan oder vegetarisch zu leben.
Unter diesen Umständen, so BALLUCH, ist der häufige Effekt zu beobachten, dass die Bereitschaft zu einem solchen Energieaufwand mit der Zeit sinkt und sich die Menschen von ihrer veganen oder vegetarischen Lebensweise wieder abwenden, weil ihre Kraft für andere Lebenssituationen gebraucht wird. Das ist ja auch problemlos möglich, denn die Supermarktregale sind, wie erwähnt, weiterhin voll von tierischen Produkten.
Es sei demnach also ein Irrglaube der abolitionistischen Tierrechtsbefürworter, davon auszugehen, eine philosophische Überzeugungsarbeit mittels rationaler Argumente könne Menschen von der Falschheit des Konsums tierischer Produkte überzeugen und eine fundamentale Umordnung des Mensch-Tier-Verhältnisses zur Folge haben, gleichsam von unten nach oben. Der Weg führe vielmehr von oben nach unten. In kleinen Schritten müssten den Menschen Zugänge zu tierischen Produkten abgeschnitten werden, damit der Nichtkonsum tierlicher Produkte sich im Verhalten niederschlägt.
Reformisten bauen daher häufig nicht auf philosophische Argumente (die dann gern als Ideologien abgetan werden), sondern auf psychologische und politische Effekte, in der Überzeugung, dass diese Effekte einen kausalen Einfluss auf unser Verhalten nehmen. Erst der langsame Weg vom Tiergebrauch über den Tierschutz führe schließlich zur Anerkennung von Tierrechten. Ad-hoc-Maßnahmen auf der Basis rationaler Argumente seien in aller Regel sinnlos. Es geht also nicht primär darum, die Einstellung von Menschen, sondern das gesellschaftliche System zu ändern, in dem sie leben, die entsprechende Einstellung würde diesem dann folgen.
Der Reformismus beinhaltet aus Sicht des strikten Abolitionismus allerdings ein unüberwindbares Problem: Wer heute schon weiß, dass Tieren durch den Gebrauch zu menschlichen Zwecken Unrecht getan wird, und dennoch bereit ist, dieses Unrecht zugunsten gesellschaftlicher Umgewöhnungseffekte (und sei es auch für begrenzte Zeit) aufrechtzuerhalten, der vergehe sich am eigentlichen abolitionistischen Kern.
Aus diesem Einwand heraus hält FRANCIONE dem Reformismus einen argumentativen Defekt vor: Sollte das Ziel der kleinschrittigen Reformen tatsächlich die totale Abschaffung aller Tierversuche sein und sollte damit die Zuerkennung von Tierrechten einhergehen, wie es sich der Reformismus ja auf die Fahne geschrieben hat, sprich: dass wir Tierversuche nicht allein aus Mitgefühl (also aus unserer Perspektive), sondern aus Anerkennung ihrer Rechte (also aus deren Perspektive) ablehnen, dann bekommen wir ein eigenartiges Problem, denn dann müssten wir Tieren während des schrittweisen Prozesses ihre Rechte absprechen, ihnen diese aber nach erfolgreichem Prozess wieder zusprechen.
Anders ausgedrückt: Aktuell haben sie keine Rechte, aber zukünftig. Das sei, als würden wir uns vor eine Gruppe von Sklaven stellen und sagen: ‚Wir wissen, dass euch großes Unrecht widerfährt, aber gebt uns noch ein paar Jahre Zeit, bis das auch alle anderen begriffen haben.‘ Dem hält der Abolitionismus entgegen, dass Rechte keine temporäre Angelegenheit sind, sondern eine permanente. Rechte können nicht zeitweise außer Kraft gesetzt oder für die Zukunft geplant werden, eine Theorie muss sich entscheiden: Entweder hat man Rechte oder man hat sie nicht. Für FRANCIONE kann somit kein kausaler Zusammenhang zwischen Reformen im Tierschutz und der abolitionistischen Anerkennung von Rechten bestehen, indem das eine zum anderen führt. Eine solche ‚Überführung‘ ist aufgrund der notwendigen Permanenz von Rechten unmöglich und Reformismus und Abolitionismus somit nicht dasselbe, nur mit verschiedenen Strategien, sie sind vielmehr unvereinbar. Demnach gäbe es zum Abolitionismus keine Alternative, wollte man die Akzeptanz von Tierrechten erreichen.
Dass es Möglichkeiten gibt, abolitionistische Ziele auch ohne die Grundlage von Tierrechten, ja eventuell sogar ohne jegliche Gesetzesgrundlage einzufordern, zeigt die Tierbefreiungsbewegung. Die Tierbefreiungsbewegung, die in den 1960er entstand und sich in den folgenden Jahrzehnten weltweit etablierte, verfolgt zunächst eben genau jenes Ziel: Sie wollte Tiere befreien, im wörtlichen Sinn, sie befreien aus Käfigen und Laboren, aus Ställen und künstlichen Jagdrevieren (vgl. Petrus 2013, 11–29). SINGERS Buchtitel Animal Liberation beringt genau diesen Habitus zum Ausdruck: Nutztiere sind unfrei und verdienen Freiheit. Mit diesem Schlagwort arbeiten viele einschlägige populärwissenschaftliche Arbeiten, prominent zu sehen an dem Bestseller Artgerecht ist nur die Freiheit (2014) der deutsch-türkischen Publizistin HILAL SEZKINS.
Gespeist hat sich die Tierbefreiungsbewegung seit jeher aus einer tiefen Skepsis gegenüber staatlich eingesetzten Machtinstrumenten und Herrschaftsverhältnissen. Mit einer solchen Befreiung müssen nicht zwangsläufig auch Rechte einhergehen (vgl. Singer 1975; 2011), manche Vertreter einer Tierbefreiung erachten das Rechtekonzept sogar als überflüssig (vgl. Schmitz 2015), insbesondere dann, wenn aus moralischen Rechte auch tatsächliche Gesetze folgen sollen. Die Skepsis gegenüber staatlicher Gewaltmonopole betrifft natürlich auch den Schutz entsprechender gesetzlich verankerter Grundrechte für Tiere. Zusätzlich bestehen innerhalb der Tierbefreiungsbewegung Zweifel an der praktischen Durchsetzbarkeit gesetzlicher Vorhaben: „Schon jetzt wird das geltende Tierschutzgesetz kaum durchgesetzt“ (Schmitz 2015, 95). Vertretern der Tierbefreiungsbewegung ist daher oft gar nicht an Gesetzen gelegen, würden diese die Herrschaftsverhältnisse doch nur in anderer Form aufrechterhalten.
Die umfangreiche Ausbeutung von Tieren ist in den Augen der Tierbefreiungsbewegung ein gesamtgesellschaftliches Problem, das zu großen Teilen durch Profitgier, Technisierung und Globalisierung geprägt ist, und keine isolierte Ungerechtigkeit oder Teildisziplin einer akademischen Philosophie. Unser Umgang mit Tieren findet in einer prinzipiellen Geringschätzung tierlichen Leides seinen Niederschlag und macht keine komplizierte Debatte um Tierrechte, sondern grundsätzliches gesellschaftliches Umdenken erforderlich, sei es in der Landwirtschaft, der Lebensmittelindustrie, in Forschung, Landschafts- und Städteplanung: Es geht „um eine Befreiung aus dem bestehenden Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnis. Eine zentrale Forderung betrifft die Beendigung der kommerziellen Nutztierhaltung und die Abschaffung des Eigentumsstatus der Tiere“ (Schmitz 2015, 95).
3.1Deontologische und utilitaristische Ethik
Stellen Sie sich vor, Sie stünden bei einem Spaziergang plötzlich vor einer Weiche. Schnell wird Ihnen klar, dass Sie unvermittelt in eine dramatische Situation geraten sind: Von rechts fährt ein (leerer) Zug mit hoher Geschwindigkeit auf fünf Ihnen völlig unbekannte Gleisarbeiter zu, die sich weiter links von Ihnen befinden. Sofern nichts geschieht, wird der Zug diese fünf Personen erfassen und töten, sie stehen viel