Ingo Pies

Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie


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Beispiel dafür, dass Buchanan des Öfteren Formulierungen wählt, die seine Theorieentscheidungen eher als eine Frage des Geschmacks denn als eine Frage methodischer Zweckmäßigkeit erscheinen lassen, liefert eine Stellungnahme zum gesellschaftsvertragstheoretischen Ansatz von John Rawls. Bei Buchanan (1989b; S. 182) heißt es: „[M]y sympathy with and affinity for Rawls’s effort has been, I hope, evident. At base, we share … an unwillingness normatively to evaluate politics with nonindividualistic standards or positively to interpret politics exclusively as the clash of conflicting interests.“

      Es lohnt sich, diesen ‚Präferenzen‘ für bestimmte Standards positiver und normativer Forschung genauer nachzugehen und nach ihren Konsequenzen für das Kategoriensystem der Ökonomik zu fragen. Dabei wird sich zeigen, dass es Gründe gibt, die von Buchanan eingeforderte methodische Neuorientierung der Ökonomik ernster zu nehmen, als es seine Formulierung nahezulegen scheint, die Argumentation beruhe auf einer ‚Präferenz‘ dafür, was Ökonomen tun ‚sollten‘. Tatsächlich trägt seine Argumentation nämlich weniger seinen ‚Präferenzen‘ als vielmehr jenen ‚Restriktionen‘ Rechnung, mit denen sich eine politische Ökonomik in der modernen Gesellschaft konfrontiert sieht. Dies wird besonders deutlich, wenn man sich zunächst vor Augen führt, gegen welche zeitgenössischen Entwürfe Buchanan sein Theorieprogramm entwickelt hat.

      |30|Der traditionelle und z.T. bis heute noch übliche Einstieg in wirtschaftspolitische Argumentationen erfolgt über einen normativen Effizienzbegriff. Die hierfür zuständige Referenztheorie ist die Wohlfahrtsökonomik. Sie leitet anhand eines Modells vollkommener Konkurrenz Bedingungen ab, durch deren Erfüllung Effizienz definiert ist. Werden diese idealen Bedingungen in der Realität nicht erfüllt, liegen definitionsgemäß Ineffizienzen vor. Die Theorie spricht dann von Marktversagen.

      In den 1950er und 1960er Jahren war dies die weithin maßgebliche Konzeption zur Begründung staatlicher Aktivität: Wo der Markt versagt, wurde politischer Handlungsbedarf diagnostiziert. Damit befand sich die Wohlfahrtsökonomik – ursprünglich als Markttheorie angetreten – unversehens auf dem Weg zu einer Interventionswissenschaft.

      Bereits in seinen frühesten Schriften weist sich Buchanan als jenen zugehörig aus, die diese Tendenz für politisch bedenklich halten, doch darauf kommt es hier nicht an. Im vorliegenden Zusammenhang ist vielmehr von Interesse, dass es zwei grundlegende Schwierigkeiten gibt, die der wohlfahrtsökonomischen Vorgehensweise inhärent sind und insofern eine methodische Herausforderung darstellen: Zum einen wird die Funktionsweise realer Märkte an einem Ideal gemessen, und zum anderen wird aus dem Vergleich von Ideal und Realität auf eine reale Alternative geschlossen. So kommt es zu einer perspektivischen Verzerrung gleich in doppelter Hinsicht: Wer die reale Welt, in der es bekanntlich keine vollkommene Konkurrenz gibt, aus einer wohlfahrtsökonomischen Perspektive betrachtet, sieht überall nur Marktversagen vorliegen, freilich ohne dass durch die wahrgenommene Omnipräsenz des Marktversagens allein schon sichergestellt wäre, dass die Politik als funktionales Äquivalent jene Ineffizienzen beseitigen kann, die als Versagen des Marktes diagnostiziert werden. Damit läuft das wohlfahrtsökonomische Verfahren Gefahr, als ‚nirvana approach‘ (Demsetz, 1969) einen Vergleich der relevanten Alternativen zu verfehlen.

      Wenn man die relevanten Alternativen vergleichen will, bedarf die perspektivische Verzerrung einer doppelten Korrektur. Zum einen darf man sich nicht mit einer Gegenüberstellung von Marktideal und Marktrealität begnügen, sondern muss die Alternative zum Markt in die Analyse einbeziehen. Die erste methodische Konsequenz besteht daher in einem Vergleich alternativer institutioneller Arrangements. Zum anderen bedarf dieser Vergleich eines den jeweiligen Handlungssphären – d.h. der Wirtschaft und der Politik – gleichermaßen angemessenen Vergleichsmaßstabs. Hierfür ist ein nicht-ideales, internes Kriterium erforderlich. Insofern ist die Wahl des Konsenskriteriums die zweite methodische Konsequenz.

      Es gehört zu den Kuriositäten ökonomischer Theoriebildung, dass das methodische Erfordernis einer doppelten Korrektur der wohlfahrtsökonomischen Methode nicht allgemein gesehen oder doch zumindest nicht allgemein beherzigt wurde, obwohl Buchanan stets eindringlich auf den inneren Zusammenhang beider Aspekte hingewiesen hat. In der Tat lesen sich große Teile der Public-Choice-Literatur wie eine empirisch ausgerichtete Wohlfahrtsökonomik des politischen Sektors: Zwar vergleicht man alternative Arrangements, doch legt man als Vergleichsmaßstab unverändert das wohlfahrtsökonomische Effizienzkriterium zugrunde. Die Folge ist eine Duplizierung wohlfahrtsökonomischer |31|Paradiesvergleiche. Buchanan (1987c; S. 52) resümiert die triviale Erkenntnis dieser – für ihn: verfehlten – Forschungsanstrengungen recht lapidar: „By comparison with idealized standards, both markets and politics fail.“[38]

      Aus dieser Sackgasse kommt man nur durch die von Buchanan stets eingeforderte doppelte Korrektur heraus. Man darf es nicht bei einem Paradiesvergleich institutioneller Arrangements belassen, sondern muss dem Institutionenvergleich ein internes, nicht-ideales Vergleichskriterium zugrundelegen.

      Buchanan tritt also in der zeitgenössischen Auseinandersetzung mit einer doppelten Forderung auf. Die erste Forderung bezieht sich auf die positive Analyse. Sie soll Wirtschaft und Politik gleichermaßen umfassen. Die Institutionenökonomik i.w.S. ist hierfür der geeignete Ansatz. Mit ihrer Hilfe lassen sich beide Handlungssphären streng analog als Wettbewerbsspiele auffassen, von deren Ordnungsregeln es abhängt, inwiefern die jeweiligen Akteure zur gesellschaftlichen Zusammenarbeit produktiv beitragen. Die zweite Forderung bezieht sich auf die normative Analyse. Auch sie soll Wirtschaft und Politik gleichermaßen umfassen. Benötigt wird eine theoretische Konzeptualisierung, die es der konstitutionellen Ökonomik erlaubt, als Wissenschaft gesellschaftliche Regelverbesserungen zu identifizieren und vorzuschlagen.

      Während Buchanan in Bezug auf seine erste Forderung ein außerordentlicher Erfolg zu bescheinigen ist, wird man dies in Bezug auf seine zweite Forderung wohl eher nicht behaupten können. Während die Renaissance der ökonomischen Institutionenforschung – verwiesen sei hier nur auf die Namen Alchian, Coase, North, Olson und Williamson – dezidiert wiederanknüpft an das Erkenntnisprogramm der ökonomischen Klassiker, ist unter Ökonomen in Bezug auf normative Fragestellungen eine große Zurückhaltung sowie – vielleicht damit zusammenhängend? – ein starres Festhalten an einem normativen Effizienzbegriff und damit letztlich an wohlfahrtstheoretischen Kategorien nicht zu übersehen. Vor diesem Hintergrund erscheint der Versuch gerechtfertigt, vier verbreiteten Missverständnissen zu begegnen, denen sich Buchanans normatives Aufklärungsprogramm des Öfteren ausgesetzt sieht.

      Die Thesen können vorab wie folgt formuliert werden: Die Wahl des Konsenskriteriums folgt nicht vordergründig normativen, sondern methodischen Erwägungen. Es handelt sich um ein ‚realistisches‘, nicht-ideales Kriterium, um ein internes Prozesskriterium, und als solches erfüllt es eine heuristische Funktion, |32|die den Politikproblemen moderner Gesellschaften in besonderer Weise angemessen ist.[39]

      (1) Die konstitutionelle Ökonomik arbeitet mit einer mehrstufigen Rekonstruktion, die einen positiven Erklärungszusammenhang zwischen Ergebnissen, Handlungen und Regeln herstellt – genauer: zwischen gesellschaftlichen Ergebnissen, individuellen Handlungen und gesellschaftlichen Regeln. Aggregierte Ergebnisse wie die Raten für Arbeitslosigkeit, Inflation, Kriminalität usw. werden im Wege einer ‚mikrofundierten Makroanalyse‘[40] als das nicht-intendierte Resultat intentionaler Handlungen rekonstruiert, und Handlungen erscheinen in einer solchen Betrachtung als (vor allem) durch Regeln kanalisiert. In normativer Hinsicht, im Konsensparadigma, gelten Handlungsergebnisse als legitim, wenn sie durch legitime Handlungen zustandekommen, und Handlungen gelten als legitim, wenn sie legitimen Regeln folgen. Diesen Regress kann man fortsetzen, indem man (legitime) Regeln als das (legitime) Ergebnis von (legitimen) Handlungen rekonstruiert, die legitimen Meta-Regeln folgen.

      Wenn man sich diesen Regress zur Analyse konkreter Politikprobleme zunutze machen will, darf man ihn nicht ad infinitum fortsetzen, sondern muss ein Kriterium angeben können, mit dessen Hilfe der Regress sinnvoll abgebrochen werden kann. Genau dies ist die methodische Funktion des Konsenskriteriums. Es zeichnet jene (Meta-)Regel als legitim aus, der unterschiedslos alle Bürger prinzipiell zustimmen können.[41]

      |33|(2) Gibt es überhaupt solche Regeln? Lässt sich das Konsenskriterium tatsächlich anwenden? Handelt es sich also um ein ‚realistisches‘, nicht-ideales